DAWSON
AHTS Atlas IV , Dump Site, 150 sm östlich von Atlantic City

Donnerstag, 26. Oktober 2006
02:17 EST / UTC-5

Das Licht der Scheinwerfer drang hell durch die Bullaugen. Unbarmherzig erleuchteten sie die leeren Tische der Messe und warfen scharfe Schatten, wo das wenige Mobiliar den Strahl blockierte.

Eine dieser Stellen war eine dunkle Nische hinter einem Schrank voll elektronischer Geräte und man sah die sitzende Kontur einer Frau an einem Tisch mit einem Laptop darauf.

Scheinbar regungslos starrte sie auf den flimmernden Bild­schirm, auf dem ein kleines Kamerafenster eine düstere halb eingestürzte Lagerhalle zeigte. Hunderte wild durcheinander­gewirbelter Würfel lagen darin herum, während kleine und seltsam schwerelose Leuchtpunkte dazwischen umhertrieben. Sie verliehen dem Ganzen den Eindruck einer Schneekugel bei Nacht, als neben der Frau plötzlich ein Telefon summte.

„Dawson“, meldete sie sich ruhig und lauschte der hastigen Männerstimme am anderen Ende.

Sie klemmte den Hörer in ihre Halsbeuge und griff nach einem Joystick, der verborgen hinter dem Laptop gestanden hatte. Sie begann, den kleinen Steuerknüppel mit einer Hand vorsichtig hin- und herzubewegen, während sie mit der anderen Befehle eintippte. Das verschwommene Videobild auf ihrem Monitor wurde durch ein anderes ersetzt und sie nickte leicht.

„Hab es, Sir“, sagte sie und musterte einige Sekunden stumm ein pillenförmiges Gefährt mit zwei torpedoartigen Aufsätzen, die Blasenspuren zogen, „Nein, ich seh’ auch nichts. – Ja, der Navigator kann wieder übernehmen.“

Dawson legte auf und schob den Joystick beiseite. Es gab ein kurzes Flackern und plötzlich war das erste Bild wieder da. Sie streckte sich kurz und begann, ihre Schläfen zu massieren. Seit die Atlas hier vor zwei Tagen Position bezogen hatte, saß sie an ihrem improvisierten Arbeitsplatz praktisch ununterbrochen und kurze visuelle Bestätigungen wie diese waren ihre Hauptbeschäftigung.

Sie schüttelte den Kopf.

Mit knapp 40 noch regelmäßig Nachtschichten zu schieben, war nicht, was sie sich vorgestellt hatte, als sie vor sechs Jahren bei KBA angefangen hatte. Die Konstruktionsfirma bezahlte ihre Techniker und Analysten gut, aber es wog den Ärger und den Stress kaum auf.

Und die elende Geheimniskrämerei, dachte sie müde, als plötzlich eine seitliche Tür aufging. Arbeitslärm und der salzige Geruch von Meeresluft strömten herein und sie sah einen hageren Mann um die siebzig in einem neuen, jedoch viel zu weiten Khakianzug eintreten.

„Petty officer Kruger“, sagte Dawson, doch der Neuan­kömmling winkte gutmütig ab.

„Das ist lange her Jill“, sagte er mit heiserer Stimme und nahm eine alte Baseballmütze mit einem Navymotiv ab, „Was dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze? Die alten Knochen …“

Sie war sicher, es war nur einen Vorwand zum Flirten, nickte aber dann. Kruger war harmlos und in ihrem blauen Firmen­overall sah sie ohnehin nicht besonders ansprechend aus.

„Kein Problem Sir“, sagte sie und zeigte auf einen leeren Stuhl neben sich, „Nehmen Sie den da.“

„Danke“, sagte er und kam zu ihr herüber, „Ist sie das?“

Er zeigte auf das verschwommene Kamerabild mit den Würfeln und für einen Moment zögerte Dawson. Doch dann drückte sie eine Taste und das Bild der Halle wurde durch eine Außenansicht ersetzt.

„Sie erkennen sie wieder?“, fragte sie und zeigte auf das riesige Wrack.

Im diffusen Licht mehrerer Unterwasserstrahler lag der graue Stahlkörper schräg auf der Seite. Wie ein verwundetes Tier, welches sich zum Sterben niedergelegt hatte, dachte Dawson, doch der alte Mann lächelte.

„Wunderschön“, sagte er und setzte sich ächzend, „Nicht wahr?“

Dawson blickte auf die rostige, mit toten Krabben und Anemonen übersäte Bordwand. Ein alter Ladebaum hing schief über den dürren Stäben der Reling und man sah ein undefinierbares Gespinst daran hängen. Eine Gruppe geisterhaft leuchtender kleiner Fische irrte dazwischen umher und ver­schwand durch eine Luke in die ewige Finsternis der wuchtigen Brücke.

„Nicht mehr viel übrig“, sagte sie und der alte Mann lachte.

„Nach vierzig Jahren da unten sehen Sie auch nicht mehr so hübsch aus“, sagte er und deutete auf eine große schwarze Öffnung in der Mitte des Decks, „Sieht aus, als wenn Ihre Leute gefunden hätten, was sie suchen.“

Dawson verzog kaum merklich den Mund. Sie fragte sich, ob es eine so gute Idee gewesen war, Kruger an ihren Laptop zu lassen und schaute unsicher zur Tür. Doch von ihren Vor­gesetzten war niemand zu sehen und der Arbeitslärm auf dem Achterdeck schien weit weg.

Die Leute hatten im Moment wichtigeres zu tun, als sich um Vorschriften zu kümmern und letztlich wären sie ohne Kruger nie hier gewesen.

„Sie haben die Ladeluke vor drei Stunden geöffnet“, sagte sie.

„Dann sollten sie bald wieder oben sein“, sagte er und lehnte sich vor, um die Anzeige am Rande des Kamerabildes zu betrachten.


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„Position und Tiefe. Strömung und so was“, erklärte Dawson und der alte Mann nickte.

„7.143 Fuß“, las er ab, „Tiefer als ich dachte.“

Dawson gab ein abfälliges Geräusch von sich.

„Nicht tief genug, anscheinend“, sagte sie tonlos, „Was für ein Wahnsinn.“

Sie schüttelte den Kopf, doch Kruger zuckte nur die Achseln.

„Man dachte damals nicht viel darüber nach. Der Ozean war riesig und alle waren der Meinung, es würde absorbiert werden. Ich weiß, wie das heute klingt, aber so waren eben die Befehle.“

„Geht mich nichts an“, murmelte Dawson nur, doch ihr Ge­sprächspartner schien sich verteidigen zu wollen.

„Wir hatten eine Scheißangst vor dem Zeug. Keiner von uns hat ein Auge zugetan, nachdem wir Earle verlassen hatten. Und sobald das EOD-Team der Army die Flutventile gesprengt hatte, dauerte es keine drei Stunden und es war nicht mehr unser Pro­blem. Einfache Seemannsnatur ...“

Er blickte zu einem der Bullaugen, hinter denen man jetzt Schritte hörte und sie sahen plötzlich mehrere Leute in gelben Vollschutzanzügen vorbeirennen. Ihre getönten Sichtscheiben waren beschlagen und der alte Mann schaute vorwurfsvoll.

„Sehen Sie. Wir hatten nichts davon. Nur ein paar uralte Masken aus dem Krieg.“

Dawson atmete durch.

„Ich werf’s Ihnen doch gar nicht vor Kruger“, sagte sie, als man draußen metallisches Knallen hörte.

Dann Rufe und das Rauschen von Wasser. Dawson stand auf und lief zu einem Bullauge an der hinteren Wand.

Auf dem mit Fässern vollgestellten Achterdeck herrschte geschäftiges Treiben und sie sah den gewaltigen Kran der Atlas jetzt weit über die hohe Bordwand hinausragen. Eine Stahl­trosse mit einem Haken hing lose herab und Dawson erkannte das Mini-U-Boot in den Wellen.

Es schaukelte leicht und ein Taucher in einem Neoprenanzug kletterte auf einen der torpedoförmigen Ballasttanks. Er hielt den Daumen nach oben und griff dann nach dem Haken. Er klinkte ihn in eine Halterung neben der Einstiegsluke und gab ein weiteres Okay-Zeichen.

Einer der Arbeiter auf dem Achterdeck rief etwas und das U-Boot wurde langsam mit dem Mann nach oben gezogen. Schäumendes Wasser lief an den Seiten über einen roten Schriftzug herab und Dawson glaubte, den Namen Elfe I zu erkennen. Daneben den Schriftzug der Firma.

„Deep Oil Exploration“, entfuhr es ihr leise, als ihr auffiel, dass das dort gar nicht mehr stand.

Jemand hatte das Logo der Firma und den Schriftzug über­klebt und man erkannte nur noch die letzten Buchstaben am Ende, wo der Taucher sich am Außengestänge festhielt und dann mit einer kleinen Lampe über die Bordwand leuchtete.

„Was macht euer Froschmann da?“, fragte der alte Mann und Dawson musste unwillkürlich lächeln bei dem altertümlichen Wort.

„Er checkt das Boot auf Fremdkörper“, sagte sie, schüttelte dann jedoch missmutig den Kopf, „Aber er sollte es eigentlich vorher machen.“

„Ist was passiert?“

„Weiß ich nicht. Aber der Pilot hat vorhin gemeldet, dass er vielleicht Kontakt mit einer der Betonhüllen hatte. Ich hab nichts gesehen mit dem ROV, aber …“

Sie zeigte auf einen hellen stromlinienförmigen Kasten, der einige Meter von dem U-Boot entfernt die Wasseroberfläche durchbrach. Man sah große Kameralinsen sowie Scheinwerfer hinter engmaschigen Schutzgittern und der alte Mann nickte.

„Ich hab denen gesagt, ein U-Boot ist zu groß für den Fracht­raum“, sagte er, doch Dawson ignorierte ihn.

Sie beobachtete, wie das Mini-U-Boot wie an einer Schnur empor gezogen wurde. Wie ein Badespielzeug schwebte es über das Schanzkleid des Achterdecks, wo neben den stählernen Rippen eines Haltegerüsts bereits die Leute in den Schutz­anzügen warteten. Sie hatten Schläuche und Schrubber dabei und blickten hoch zu dem U-Boot.

„Wie viel hatte die Gibson eigentlich geladen?“, fragte Dawson.

„Von den Zylindern bekamen wir etwa 150 Eisenbahn­waggons aus Pine Bluff“, antwortete Kruger mit einem leichten Achselzucken, „Dazu 8.000 Stahlkisten M55er, innen schön ausbetoniert. Alles in allem gut 5.000 Tonnen HGB. Gestapelt bis unters Wetterdeck.“

Dawson schaute ihn an.

„Denken Sie, es gab ein Leck?“

„Keine Ahnung. Aber vor einigen Jahren wurden vor Jersey hunderte toter Tümmler angeschwemmt. Die ganze Küste runter bis Virginia. Für die Regierung war’s das Morbillivirus, aber hat man schon mal gehört, dass so was tellergroße Brandblasen verursacht? Die Haut in Fetzen abfällt?“

„Nein“, antwortete Dawson langsam, als man auf dem Achterdeck plötzlich lautes Rufen hörte.

Es klang hektisch und sie fuhr herum. Das kleine U-Boot hing still in der Luft, doch einer der Leute in den klobigen Schutzanzügen schoss mit dem Schlauch jetzt dicken weißen Schaum auf die Backbordseite. Zähflüssig kleckerte die Masse auf das Deck herab, wo die anderen Männer etwas Schwarzes mit ihren Schrubbern bearbeiteten. Etwas Großes.

Es bewegte sich und Dawson begriff erschrocken, dass es der Taucher war.

Er hielt zitternd seinen Arm, doch die anderen halfen ihm auf und er wurde eilig von einem der Männer unter Deck geführt.

„Nicht gut“, murmelte Kruger und Dawson nickte schwach, als sie merkte, wie er zu ein paar Positionslichtern auf ihrer Steuerbordseite starrte.

Keine halbe Meile entfernt bewegten sie sich langsam nach Osten und es sah aus wie ein Hochseekutter.

„Was zum Teufel machen die hier?“, entfuhr es ihr.

„Auf der Suche nach Schwertfisch wahrscheinlich“, sagte Kruger, „Gibt ein paar Verrückte, die ihre Geheimplätze haben.“

„Hier?“

„Weiß doch keiner, was da unten liegt.“

Dawson fluchte leise, als ihr ein Stück achteraus die Bugwelle eines Schlauchbootes auffiel. Die Schaumspur am Heck verriet, dass es von der Atlas kommen musste und jetzt genau auf den Kutter zuraste. Sie erkannte die geduckten Konturen mehrerer Männer an Bord, als sie realisierte, dass sie ohne Licht fuhren.

„Kommen Sie vom Fenster weg Kruger“, sagte sie tonlos und setzte sich wieder an ihren Laptop, „Machen Sie.“

Er schaute sie irritiert an.

„Wie bitte?“, entfuhr es ihm, doch dann schien er zu verstehen und kam langsam zu ihr herüber, „Wer sind die?“

„Security“, raunte Dawson, als die Tür der Messe aufsprang.

Zwei kräftige, in schwarze Overalls gekleidete Männer mit Militärfrisuren kamen herein und hinter ihnen ein Mittfünfziger in einem teuren Anzug.

„Wir hatten einen Unfall“, sagte er mit leichtem spanischen Akzent, „alle müssen unter Deck, bis wir dekontaminiert haben. Nehmen Sie Ihre Sachen mit.“

Er musterte Dawson mit dunklen Augen durchdringend, nickte dann aber und lief weiter. Die beiden Sicherheitsleute hingegen blieben und Dawson begann, ihre Ausrüstung zusam­menzupacken. Sie brauchte ein paar Minuten, doch dann war sie fertig und sie gingen nach draußen, wo ein Niedergang ins Unterdeck führte. Sie warf einen letzten Blick auf die See und versuchte, das Fischerboot zu finden.

Sie war sicher, sie hätte es sehen müssen, doch die kleinen Positionslichter waren verschwunden.

***