26 – Benjamin Schoendorff

Chronische Schmerzen: Werte als Kraftquelle, um dem Leben einen Sinn zu geben

Ich möchte von Antoine berichten, einem meiner Patienten, durch den ich begriffen habe, welche Kraft darin liegt, in die Behandlung chronischer Krankheiten und körperlicher Behinderung die Arbeit an den Werten mit einzubeziehen.

Ich lege Wert darauf, Antoines Mut zu würdigen, der damit einverstanden war, dass ich von seiner Erfahrung berichte. Mit seiner Zustimmung habe ich einige persönliche Details, wie seinen Namen und seinen Beruf, geändert, um seine Identität so gut wie möglich zu schützen. Er hatte nichts dagegen, dass ich diesen Text schreibe, denn es ist ihm ein Anliegen, andere zu unterstützen, wie ich weiß, und ich danke ihm dafür in deren Namen.

Ein Unfall, seine Spätfolgen und ihre Behandlung

Antoine war dreißig und Juwelier. Er besaß großes handwerkliches Geschick und liebte seine Arbeit, an der er von morgens bis abends saß, ohne je auf die Mühe oder die Zeit zu achten. Er war auch sportlich und hatte einen großen Freundeskreis, der seine Interessen teilte: Bergsteigen, Radfahren, Autorennen. Vor drei Jahren stürzte Antoine mit seinem Motorroller. Er erinnerte sich nicht an die Einzelheiten des Unfalls, nur, dass es keinen Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug gegeben hatte. Obwohl er nicht schnell fuhr und einen Helm trug, schlug er mit dem Kopf hart auf der Fahrbahn auf.

Nachdem man ihn einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus behalten hatte, wurde Antoine entlassen und nahm wieder sein normales Leben auf, ohne sichtbare Folgen. Doch einige Wochen später empfand er auf einer langen Autofahrt eine starke Spannung in Hals und Schulter. Sein Kopf sank zur rechten Seite, und er hatte die allergrößte Mühe, ihn gerade zu halten, sodass das Autofahren für ihn immer schwieriger und schmerzhafter wurde. Es stellten sich überdies starke Verspannungen und Spasmen im Hals und der rechten Schulter ein. In den folgenden Wochen nahmen die Schmerzen und Verspannungen noch weiter zu, und die Spasmen vervielfachten sich. Sein Hals und seine Schulter waren ununterbrochen verkrampft. Es fiel ihm immer schwerer, die in seinem Beruf notwendigen Handgriffe, die große Präzision erforderten, auszuführen.

Antoine ging zu seinem Hausarzt, der ihn zum Neurologen überwies. Dieser diagnostizierte einen »spasmischen Schiefhals« und verschrieb ihm Krankengymnastik. Die vielen muskulären und neurologischen Untersuchungen, die folgten, förderten die physiologische Ursache des Problems jedoch nicht zutage. Die Ärzte konnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob der Schiefhals überhaupt auf den Unfall zurückzuführen war.

Trotz der Zweifel der Ärzte blieb Antoines Körperhaltung sichtbar anomal, und seine Schmerzen nahmen zu. Er bekam Botox-Injektionen verschrieben, ein starkes Muskelrelaxans auf der Basis des Nervengifts Botulin, das durch die Schönheitschirurgie bekannt geworden ist. Bald musste er unbefristet krankgeschrieben werden, und man riet ihm zu einer kognitiven Verhaltenstherapie.

Erster Kontakt

Vier Monate nach seinem Unfall kam Antoine zu mir in die Praxis. Er wirkte hilflos. Nachdem die Ärzte die Ursache des Schiefhalses nicht finden konnten, fragte er sich, ob sie sich der Schwierigkeit vielleicht dadurch entledigen wollten, dass sie ihn zu einem psychologischen Fall abstempelten. Ich verstand, dass ein solcher Gedanke irritieren konnte. Tatsächlich hatte Antoine vorher nie psychische Probleme gekannt. Gut integriert im Berufs- und Sozialleben, litt er weder unter Ängsten noch Depressionen. Seine familiären Beziehungen waren normal. Er besaß viele Freunde, einige schon seit sehr langer Zeit. Antoine hatte mehrere Liebesbeziehungen hinter sich, aber ohne die Partnerin zu finden, auf die er sich festlegen wollte. Zur Zeit des Unfalls lebte er allein. Nach seiner Krankschreibung zog er auch aufgrund von Umbauten in seiner Wohnung wieder bei seinen Eltern ein. Antoine war ein sympathischer Mensch, eigenwillig, selbstsicher und mit festen Ansichten.

Unser erster Kontakt war gut. Antoine war einverstanden, sich auf die Therapie einzulassen, weil sie ihm verschrieben worden war. Aber er machte keinen Hehl aus seinen Zweifeln, inwieweit eine kognitive Verhaltenstherapie ihm für ein in erster Linie körperliches Problem besonders nützlich sein könnte. Es schien ihm nicht zu passen, dass man keine klare medizinische Diagnose gefunden hatte. Die Muskelrelaxantien und Schmerzmittel brachten ihm nur vorübergehende Erleichterung, und die Krankengymnastik schien keine nennenswerte Wirkung zu haben. Er versprach sich sehr viel von den Botox-Injektionen.

Das Botox senkte zwar leicht den Druckschmerz in Antoines Nacken und Schulter, aber erlaubte ihm nicht, wieder eine normale Körperhaltung einzunehmen. Die entspannende Wirkung ließ nach einigen Wochen nach, und dann musste Antoine warten, bis der erforderliche Zeitraum zwischen zwei Injektionsserien verstrichen war. Die Neurologen, bei denen er in Behandlung war, blieben ratlos, und Antoine beschloss, die Meinung anderer Ärzte einholen.

Das Abgleiten in die Depressionsspirale

Antoine hoffte darauf, dass irgendein Arzt die Ursache seines Leidens herausfinden und ihm eine Behandlung verschreiben würde, die ihn gesund machte. Die Ungewissheit war schwer zu ertragen, sowohl was die Ursachen seiner Erkrankung als auch was ihre medizinische Prognose anging. Die Schmerzen und die Spasmen waren derartig stark, dass er ganze Tage im Liegen verbrachte, konzentriert auf die Schmerzen und den Versuch, sich von ihnen abzulenken. Wenn er schließlich aufstand, dann nur, um sich an seinen Computer zu setzen und im Netz Spiele zu spielen. Für ihn war das ein wirksames Mittel, um sich seiner schmerzhaften Realität zu entziehen. Er, der nie depressiv gewesen war, verfiel in dumpfe Grübeleien.

Rückzug

Wie soll ich meiner Umgebung mein unerklärliches Leiden erklären? Was werden die anderen von mir denken? Wie lange werden meine Familie und meine Freunde diesen eingeschränkten Antoine unterstützen? Wie lange kann ich krankgeschrieben bleiben? Die anderen werden anfangen, mich für seltsam zu halten. Ich werde nie mehr eine Frau kennenlernen. Wie soll ich es ertragen, meine Schwäche zu zeigen? Was soll aus mir werden?

Nach und nach sah ich mit an, wie Antoine sich zurückzog und seine Zuversicht deutlich litt. Seine Laune verschlechterte sich. Ich spürte, wie seine Irritation sich allmählich in Wut verwandelte. Die Gefahr der Abhängigkeit von Schmerzmitteln und Muskelrelaxantien beunruhigte ihn. Um mit seinen Freunden ausgehen zu können, erhöhte er manchmal die Medikamentendosis und trank. Sport war ihm verboten. Vielen Tätigkeiten wich er aus, weil er sie am nächsten Tag oft mit intensiven Schmerzen bezahlte. Draußen auf der Straße machte es ihm zu schaffen, was die Menschen, die an ihm vorübergingen, wohl von seiner Körperhaltung dachten. Wenn er jemandem auf der Straße begegnete, unternahm er schmerzhafte Anstrengungen, sich aufzurichten und normal zu erscheinen. Frauen anzusprechen wagte er nicht mehr. Für seinen Arbeitgeber stand allem Anschein nach mehr der Verdienstausfall im Vordergrund als die Frage, ob Antoine wieder gesund würde, und ihre Beziehung wurde allmählich schlechter.

Langsam schlich sich in seinem Kopf der Gedanke ein, dass er erledigt war, dass er sich nie mehr wieder auf etwas freuen könnte. Er, der sein Leben immer voll unter Kontrolle gehabt hatte, war plötzlich den Unwägbarkeiten der Medizin, seiner Behinderung und der sozialen Unterstützung ausgeliefert. Diese Position fiel ihm besonders schwer. Er hatte immer geglaubt, man müsse im Leben stark sein, und es sei das sichere Aus für einen Menschen, die eigene Schwäche zu zeigen oder zuzugeben. Antoine spürte, wie sein Leben ihm entglitt, und geriet in eine bittere depressive Abwärtsspirale.

Erster Ansatz: die klassische kognitive Verhaltenstherapie

Anfangs versuchte ich, Antoine mit den Methoden der traditionellen Verhaltenstherapie zu helfen, die ich damals praktizierte. Ich schlug ihm ein Entspannungstraining vor, aber seine Versuche, Entspannung zu üben, hatten nur noch stärkere Spasmen zur Folge. Er verkrampfte sich sichtbar im Entspannungssessel. Nach drei Sitzungen mussten wir das Vorhaben aufgeben.

An den Gedanken arbeiten

Wir versuchten anschließend, die Gedanken zu finden, die Antoine möglicherweise begrenzten. Ich lud Antoine im Gespräch ein, diese Gedanken infrage zu stellen und sie an der Realität zu messen. War er für die anderen wirklich eine Last? Welche Beweise hatte er, dass das tatsächlich stimmte? Aber die einzige Wirkung dieser Arbeit schien darin zu bestehen, Antoine noch ein wenig mehr davon zu überzeugen, dass seine depressiven Gedanken wohl begründet waren.

Unsere therapeutische Arbeit ging schleppend voran. Da Antoines Probleme von einer organischen Ursache stammten, die vielleicht eines Tages behoben werden würde, klammerte er sich an den Gedanken, dass der Nutzen einer psychologischen Arbeit in der Zwischenzeit lediglich darin bestand, sich vorübergehend alles von der Seele zu reden. Für ihn war die Therapiestunde ein Ort, wo er »seinen Müll loswerden« konnte. Und Antoines Müllberg wuchs zusehends. Es stimmte mich ein wenig traurig, dass er die potenzielle Nützlichkeit unserer Arbeit von vornherein so gering einschätzte. Mir fiel es schwer, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass unsere Gespräche Antoine nicht helfen könnten, Fortschritte zu machen – selbst mit seiner Behinderung.

Ich fuhr also fort, Antoine eine aktivere Therapie vorzuschlagen als die bloße »Quasseltherapie«, in der wir gelandet waren. (Dieser Begriff, der zu einem geflügelten Wort zwischen uns wurde, war mir eines Tages entschlüpft, als ich Antoine frustriert sagte, dass unsere Arbeit keine Richtung habe.) Er hegte weiter Zweifel. Schließlich, so hielt er mir entgegen, könne die Psychotherapie keine neurologischen Störungen lösen. Unsere Stunden wurden für ihn wie auch für mich zu einer frustrierenden Angelegenheit. Antoines Irritation war deutlich zu spüren, und manchmal wusste ich nicht, was ich tun sollte, um sie zu entschärfen. Allmählich glaubte ich, dass sich hinter seinem Widerstand ein bestimmter Gedanke verbarg: Wenn er mithilfe unserer Arbeit Fortschritte machte, wäre das die Bestätigung des Verdachts, den die Ärzte in seinen Augen hegten: dass sein Problem psychosomatisch sein könnte. Antoine war es hingegen wichtig, dass man seine Situation und seine Schmerzen bedingungslos als etwas Reales anerkannte.

Sich mit dem Patienten verbinden

Also beschloss ich, sein Erleben, die Fakten seines Problems, das Ausmaß seines Leidens und die Intensität seiner Frustration als real zu akzeptieren. Ich gab zu, dass unsere Arbeit die organische Störung nicht lösen könne, und bemühte mich so gut wie möglich die enormen Schwierigkeiten seiner gegenwärtigen Situation anzuerkennen – Schwierigkeiten, die sich durch die vielen enttäuschten Hoffnungen, die seine medizinische Behandlung kennzeichneten, noch verstärkten. Mein Ziel war, wieder Zugang zu Antoine und seinem Erleben zu finden. Dazu musste ich bereit sein, mich der Verzweiflung seiner Situation zu öffnen. Indem ich diese Verzweiflung selbst empfand, indem ich sie akzeptierte und ihm spiegelte, konnte ich die Verbindung zu ihm wiederherstellen. Der Strom floss, und er floss immer besser. Jedes Mal, wenn es uns gelungen war, wieder miteinander in Kontakt zu treten, bat ich Antoine geduldig, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass unsere Arbeit ihm helfen könne, anders mit der Situation, so wie sie war, umzugehen und vielleicht auch den Weg zu einem erfüllteren Leben wiederzufinden. »Mit diesem Hals, unmöglich!«, erwiderte er stets. »Im Übrigen sollten Sie wissen, dass ich mich lieber erschießen würde, wenn das so bleiben sollte.«

Es machte mich zutiefst traurig, als ich sah, wie dieser Mann, dessen Situation mich so stark berührte, in seinem Leiden stecken blieb. Unsere Sitzungen machten mir schwer zu schaffen, und ich gebe zu, dass ich manchmal Schwierigkeiten hatte, dem roten Faden seiner zahlreichen Klagen zu folgen. Obwohl er gesagt hatte, er habe das Bedürfnis, seinen Müll loszuwerden, sah ich nicht, welchen Fortschritt es ihm bringen sollte, in meiner Gegenwart laut seinen Gedanken nachzuhängen.

Zweiter Ansatz: die Akzeptanz- und Commitment-Therapie

Als Antoine zu mir in die Therapie kam, war ich in der klassischen Verhaltenstherapie nicht sehr erfahren – ein versierter Therapeut hätte es vielleicht besser gemacht. Erst nachdem ich ihm begegnet war, lernte ich die kognitiven Verhaltenstherapien der neuen Generation kennen, insbesondere die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), eine Therapie, die die Akzeptanz und den Kontakt mit den persönlichen Werten in den Vordergrund stellt. Ich schlug Antoine also vor, von seinen Werten zu sprechen, davon, was ihm im Leben wirklich wichtig war. Anfangs erklärte er mir, solange er die Behinderung habe, sei das einzig Wichtige, sie loszuwerden. Er sprach von Zielen, die er aufgrund seiner Behinderung nicht erreichen konnte: beruflich weiterzukommen und eine eigene Firma aufzumachen, eine Familie zu gründen, an Wettkämpfen teilzunehmen, mit seinen Freunden Bergtouren zu unternehmen. Sein Gesicht verdüsterte sich dann. Sein Leid war greifbar, und er hatte keine Lust mehr, davon zu sprechen. Ich schlug ihm vor, ein etwas anderes Gespräch zu führen, bei dem es nicht so sehr um seine Ziele als vielmehr um seine Werte ging, so wie es die ACT-Therapie empfiehlt.

Werte statt Ziele

Aus der Sicht der ACT-Therapie ähneln Werte eher einer Richtung, die man im Leben wählt, als Zielen, die man sich setzt. Sich für eine Richtung entscheiden ist, als würde man sich entscheiden, nach Westen zu gehen. Das ist kein Ziel, das sich erreichen lässt, denn man kann immer weiter nach Westen gehen. Wenn man stehen bleibt, ganz gleich, welche Strecke man zurückgelegt hat, geht man nicht mehr weiter in Richtung Westen. Man ist nicht stärker oder weniger stark nach Westen orientiert, je nachdem, wie schnell oder langsam man geht. Nach ACT sind Werte wie Himmelsrichtungen. Sie beziehen sich auf die Qualität der Handlungen, für die man sich im Moment entscheidet, nicht auf ihr Resultat. Wenn man sein Leben auf Ziele statt Werte ausrichtet, läuft man doppelt Gefahr: zum einen, die Ziele nicht zu erreichen, denn damit kann das Leben seinen Sinn verlieren; und zum anderen, sie zu erreichen, denn was dann? Nach ACT stellen Werte überdies Richtungen dar, die man für sich und aus freien Stücken wählt. Sie können nicht von außen auferlegt werden, weder durch die Umgebung, die Gesellschaft noch den Therapeuten.

Im Sinne seiner Werte handeln

Ich schlug Antoine eine Übung vor, die aus dem ACT stammt und die es ihm ermöglichte, seine Werte in verschiedenen, für ihn wichtigen Lebensbereichen zu formulieren. Mein Gedanke war, ihm damit zu helfen, in Berührung mit den menschlichen Qualitäten zu kommen, denen er durch seine Handlungen vielleicht Ausdruck verleihen wollte, ganz gleich, in welcher körperlichen Verfassung er war. Ich hoffte, dass sich auf diese Weise ein Raum öffnete, damit er sich aus eigener Kraft – mit seiner Behinderung, so wie sie war – für Handlungen entscheiden könnte, die seine Werte repräsentierten und sofort möglich waren, ohne auf eine eventuelle Heilung warten zu müssen. Natürlich würden solche Handlungen bescheidener ausfallen als das, was er ohne Behinderung hätte machen können. Und dennoch: Einfach aufgrund der Tatsache, dass er sie im Dienste seiner Werte freiwillig in Angriff nahm, war ich guter Hoffnung, dass er damit wieder den Weg zu einem Leben finden würde, das es wert war gelebt zu werden. Meine Hoffnung wurde durch den Umstand verstärkt, dass ich selbst die Kraft erlebt hatte, die darin steckte, als ich mich in einer für mich besonders schwierigen Lebensphase konsequent auf ein Handeln im Dienste meiner persönlichen Werte eingelassen hatte.

Seinen Handlungen Sinn geben

Aus unserer Arbeit an den Werten ergab sich, dass wichtige Werte für Antoine darin bestanden, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und andere zu unterstützen, Familien- und Freundschaftsbande zu pflegen und sich um seinen Körper zu kümmern. Ich schlug Antoine vor, die Richtung seines Lebens entsprechend diesen Werten zu bestimmen. Einige Augenblicke lang spürte ich, wie sich die Atmosphäre zwischen uns entkrampfte und emotionaler wurde. Dann gewannen Antoines depressive Gedanken rasch wieder die Oberhand und redeten ihm ein, dass es erst nach seiner Genesung möglich sei, in seinem Leben weiterzukommen. Mir blutete das Herz, als ich bemerkte, wie Antoine diesen Gedanken Glauben schenkte. Aber ich hatte auch gespürt, dass zwischen uns etwas Wichtiges geschehen war und sich ein festeres Band geknüpft hatte – als wenn Raum in seinem Inneren frei geworden wäre, von dem aus Antoine sich eines Tages entscheiden könnte vorwärtszugehen. Es war, als hätte sich in unserer Arbeit ein neuer Horizont geöffnet.

Aber zunächst blieb alles beim Alten. Antoine war weiterhin sehr depressiv und klammerte sich an den nächsten Termin beim Neurologen und dann an die entfernte Möglichkeit einer Operation. Seine Beziehung zu den Ärzten verbesserte sich nicht, und seine Laune erschien durch und durch düster. Unsere Sitzungen erfolgten ab jetzt in größeren Abständen.

Lernen, sich von seinen Gedanken zu distanzieren

Wir trafen uns nur noch alle drei Wochen. Antoine versäumte nie eine Stunde. Wir sprachen von seinen augenblicklichen Schwierigkeiten und von seinen Werten. Ich bemühte mich, ihm zu helfen, ein wenig Abstand von seinen depressiven Gedanken zu gewinnen. Da die frontale Methode, den Inhalt seiner Gedanken infrage zu stellen, nicht viel Erfolg gezeigt hatte, beschloss ich, Antoine zu helfen, sich mithilfe der Distanzierungsmethoden, die in der ACT-Therapie »kognitive Defusion« genannt werden, radikal von seinen Gedanken zu distanzieren. Antoine sollte unterscheiden lernen zwischen dem, was ihm einerseits sein Kopf und andererseits sein tieferes Selbst sagte. Mithilfe von Metaphern ermunterte ich ihn, seine Gedanken wie eine Art Ratgeber statt als Wirklichkeit zu betrachten. Ich sagte ihm: »Stellen Sie sich vor, Ihre Gedanken wären Handelsvertreter und sehr geschickte Verkäufer. Wer zahlt die Zeche, wenn Sie das kaufen, was diese Vertreter Ihnen anbieten? Und was wäre, wenn Sie die Wahl hätten, dem Rat derjenigen Gedanken zu folgen, die Ihnen beim Fortschritt behilflich sind, statt der Gedanken, die am überzeugendsten klingen?« So gelang es uns, Raum zu schaffen, der Antoine erlaubte, seine negativen Gedanken zu haben, ohne ihnen gehorchen oder sie bekämpfen zu müssen.

Indem er Abstand von dem nahm, was ihm sein Kopf sagte, konnte sich Antoine trotz seiner schwierigen Situation direkter mit seinen Werten und seinem Herzen verbinden. An dem befreiten Ort konnte er sich auf Handlungen einlassen, wie bescheiden auch immer, die ihm ermöglichten, seinen Werten und den Entscheidungen seines Herzens Ausdruck zu verleihen, statt ein Gefangener des Kummers in seinem Kopf zu bleiben.

In Übereinstimmung mit den eigenen Werten handeln

Ich erinnere mich an den Tag, als er beschloss, seiner Mutter bei der Renovierung der Küche zu helfen, indem er sich freiwillig anbot, einen kleinen Teil der Wand zu streichen. Obwohl ihm klar war, dass er dies in der Vergangenheit viel schneller und besser erledigt hätte, und seine Gedanken ihm rieten aufzugeben, entschied sich Antoine, beharrlich zu bleiben und seinem Wert, einen Beitrag zu leisten, praktischen Ausdruck zu geben. Er bezahlte es am nächsten Tag mit starken Schmerzen und musste viele Stunden das Bett hüten. Doch aus dem Ton seiner Stimme, als er mir davon erzählte, meinte ich herauszuhören, dass er doch mit der sehr speziellen Qualität von Handlungen, die die eigenen Werte zum Ausdruck bringen, in Berührung gekommen war. Es ist eine essenzielle Qualität, die man nur mit dem Herzen sieht und die für den Kopf unsichtbar bleibt. Es ist, als ob sich das Leben durch diese Handlung trotz der Schmerzen, Emotionen und negativen Gedanken ein wenig geweitet hätte. Und das bewirkt, dass sich diese Handlungen vervielfachen werden, sobald wir einmal bewusst gekostet haben, wie Handlungen »schmecken«, die unsere Werte repräsentieren.

Es war etwas in Bewegung gekommen. Dennoch ging es nur langsam weiter, sehr langsam. Mir kam oft der Gedanke, dass die Aussicht einer möglichen mehr oder minder kurzfristigen Genesung Antoine eher in seiner Passivität als im Handeln bestärkte. Aber unter der Oberfläche gingen die Dinge voran. Es wurde Antoine lästig, bei seinen Eltern zu wohnen, und er beschloss, wieder in seine eigene Wohnung zu ziehen, um autonomer zu werden. Eines Tages bot er einem Rentner in der Nachbarschaft an, ihn bei der Planung eines kleinen Gewerbes zu beraten, von dem dieser träumte. Mehrere Wochen besuchte er den Mann regelmäßig, um mit ihm sein Projekt durchzugehen.

Allmählich spürte ich, wie das Klima in unseren Sitzungen leichter wurde. Mir fiel es weniger schwer, dem Gespräch zu folgen. Auch Antoine wirkte in unseren Gesprächen engagierter. Sein körperlicher Zustand hatte sich allerdings nicht sichtbar gebessert, und die medizinische Ungewissheit blieb. Er wartete auf einen möglichen neurologischen Eingriff, aber ohne irgendeine Sicherheit. Trotzdem klagte Antoine weniger. Er schien sichtlich mehr gewillt, seine Gedanken infrage zu stellen; er war offener dafür, sie als Gedanken zu betrachten, statt ihnen blind zu gehorchen. Auch in unseren Gesprächen verteidigte er sie weniger. So entstand ein Freiraum zwischen uns, eine neue Art der Interaktion. Was mich am meisten frappierte, war, dass seine persönlichen Entscheidungen weniger von rationalen Erwägungen als vom Herzen getragen waren. Auch die Beziehung und der Kontakt zwischen uns wurden dadurch besser.

Trotz der Depression und der düsteren Gedanken hatte Antoine die entscheidende Wahl getroffen, nicht den Kontakt zu seinen Freunden abzubrechen. Er telefonierte oft mit ihnen und machte mit ihnen regelmäßig Ausflüge. Am Anfang unserer Arbeit schenkte Antoine gern Gedanken Glauben, die ihm sagten, dass keiner seiner Freunde den Kontakt mit ihm aufrechterhalten wolle, so behindert wie er war. Aber je mehr die Therapie fortschritt, desto mehr tat er Dinge, die ihm erlaubten, der Freund zu sein, der er sein wollte. Antoine war für seine Freunde da, wenn sie in Schwierigkeiten steckten. Ich war besonders berührt, als er mir eines Tages erzählte, dass er bereitwillig eine lange Busfahrt auf sich genommen hatte, die ihm starke körperliche Schmerzen bereitete, um einen Freund zu besuchen, der durch eine schwere Ehekrise ging.

Langsam verschwand Antoines Depression. Unsere Sitzungen wurden immer herzlicher und konzentrierten sich auf die Dinge, die er in Richtung seiner Werte unternahm. Eines Tages erwähnte er, dass er auf ehrenamtlicher Basis Kindern mit Schulschwierigkeiten helfen wolle. Sein Angebot wurde jedoch abgelehnt, da er nicht den notwendigen Hochschulabschluss besaß. Irgendwann sprach einer seiner Freunde von einer kooperativen Reparaturwerkstatt für Zweiräder. Antoine engagierte sich dort. Er schätzte es, dass er dort seine mechanischen Kenntnisse einbringen konnte, und träumte auch davon, zusammen mit Freunden ein Atelier für Modeschmuck aufzumachen. Um seinem Körper etwas Gutes zu tun, beschloss er, die Zeit, die er vor dem Computer verbrachte, zu reduzieren – und er beobachtete danach eine Abnahme der Muskelverspannungen, die allerdings nicht ganz verschwanden und weiterhin schmerzhaft waren.

Mit dem Wichtigen in Kontakt treten gibt dem Leben wieder Sinn

Heute erscheint Antoine wie verwandelt. Dennoch hat sich an seinem Zustand nichts Fundamentales verändert. Er ist infolge seines spasmischen Schiefhalses, der seine Körperhaltung beeinträchtigt und ihm starke Schmerzen bereitet, immer noch schwerbehindert. Seine körperlichen Fähigkeiten sind dadurch weiter sehr eingeschränkt. Mehr als drei Jahre nach dem Auftreten der Erkrankung bleibt die Ungewissheit bestehen, ob er je gesund werden wird. Doch heute hat Antoine wieder den Weg eines Lebens eingeschlagen, das sich lohnt.

Als ich ihn fragte, was ihn in unserer Arbeit am meisten angesprochen habe, antwortete er auf der Stelle: »Von den Werten zu sprechen und von dem, was wirklich wichtig für mich war.« Diese Arbeit ist lange gereift, und zusammen mit der Arbeit der Distanzierung und der kognitiven Defusion erlaubt sie Antoine, sich dafür einzusetzen, den ihm wichtigen Werten im Rahmen seiner Möglichkeiten Ausdruck zu verleihen ungeachtet dessen, was seine Gedanken ihm eingeredet haben.

Die Arbeit an den Werten, eine wirksame Methode

Ich habe mich entschieden, von dieser Erfahrung zu berichten, weil sie veranschaulicht, wie sehr die Arbeit an den Werten geeignet ist, Menschen mit starkem chronischem Leiden und unsicherer Prognose aus der Sackgasse zu holen. In Berührung mit dem zu kommen, was ihm wirklich wichtig ist, kann jedem Menschen die Chance geben, den Weg eines sinnerfüllten Lebens wiederzufinden. Diese Arbeit an den Werten, die aus der ACT-Therapie stammt und auf Forschungen über die verbale Intelligenz gründet, kann die kognitive Verhaltenstherapie bereichern und dynamischer gestalten. Im Übrigen wurde ACT von der American Psychological Association als eine der wenigen Therapien eingestuft, die sich für chronische Schmerzen eignet.

In der Arbeit mit Antoine berührten mich seine Tapferkeit angesichts der Schmerzen und der Ungewissheit und seine Entschlossenheit, selbst in den Phasen intensiver Verzweiflung vorwärtszugehen. Ich war auch berührt von der tiefen Verbindung, die sich zwischen uns einstellte, als wir uns während der Therapie auf Antoines Werte konzentrierten. Ich hoffe, dass dieser Bericht, den ich mit seiner Zustimmung veröffentliche, anderen Menschen mit schwerem Leiden eine Hilfestellung gibt, den gleichen Weg zu beschreiten, ihre Werte herauszufinden und die Handlungen ausfindig zu machen, durch die sie sie im Hier und Jetzt verwirklichen können. Ich hoffe auch, dass er Therapeuten inspiriert, mit ihren Patienten ein Gespräch über ihre Werte zu führen, das sich als so fruchtbar erweisen kann.