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Die Spannung wuchs mit jeder neuen Erhebung, die vor ihnen in der Dunkelheit der Nacht Gestalt annahm. Führte sie die Spur der Karawane tatsächlich zum Roten Tal? Oder gab es für ihr rätselhaftes Erscheinen eine andere Erklärung, die nichts mit der verschollenen Oase zu tun hatte? Jeder behielt seine Zweifel und seine Hoffnung für sich. Kaum ein Wort fiel in den folgenden zwei Stunden. Und dann, ganz unerwartet und ohne dass die vor ihnen liegende Wüstenlandschaft ihnen schon aus der Ferne einen ersten Hinweis gewährt hätte, geschah es. Wie aus dem Nichts gab die Wüste ihr Geheimnis preis.

»Da ist es!«, stieß Dshamal plötzlich hervor, als sie wieder einmal über die Anhöhe einer Dünenkette kamen. »Das muss das Wadi Hamra sein! Allah ist groß!«

»Allmächtiger! Es gibt sie wirklich, diese verschollene Oase mitten im Leeren Viertel!«, rief McIvor überwältigt. Jetzt war wieder alles möglich!

Dass die Felshänge der Berge, die das Wadi umschlossen, nicht schon längst vor ihnen zu sehen gewesen waren, hatte eine einfache Erklärung, wie sie jetzt feststellten. Sie erhoben sich nämlich unter ihnen in einer weiten, tief liegenden Senke. Ihre von Flugsand bedeckten Grate ragten kaum über die Dünen des Sandmeeres heraus, in dem die Oase lag. Und das Gestein war zudem von ähnlich ockerfarbener Tönung. Nur wenn man genau wusste, wo man zu suchen hatte, konnte man die Oase in dieser gewaltigen Einöde finden.

»Müssen wir mit Wachen rechnen, Dshamal?«, fragte Gerolt und spähte angestrengt zu den Felsgraten hinüber.

»Ich weiß es nicht, nehme es jedoch nicht an«, antwortete der Beduine.

Maurice zuckte die Achseln. »Außerdem bleibt uns gar nichts anderes übrig, als dieses Wagnis einzugehen. Denn da unten im Gelände vor den Felswänden gibt es nirgendwo etwas, was man beim Anschleichen als Deckung benutzen könnte. Wenn es Wachposten gibt, werden sie uns so oder so bemerken.«

Maurice stimmte ihm zu. »Also los, riskieren wir es!«, drängte er. »Wir haben schon ganz andere Gefahren auf uns genommen!«

Voller Aufregung, was nun geschehen würde, folgten sie der Spur der Karawane hinunter in die Senke. Es blieb jedoch still. Kein Alarmruf schallte durch die Nacht und auch sonst drang kein Geräusch an ihre Ohren. Die Fährte führte geradewegs auf eine Felswand zu, die gute dreißig bis vierzig Ellen hoch war und steil aufragte.

»Die Spuren enden direkt vor der Wand. Und da ist nichts als blanker Fels!«, murmelte Tarik irritiert. »Wenn es hier irgendwo ein Tor gibt, dann muss es unsichtbar sein!«

Doch als sie sich der Wand auf etwa zwanzig Schritte genähert hatten, sahen sie, dass sie einer Täuschung erlegen waren. In der Felswand klaffte ein gut sieben, acht Schritte breiter Durchgang, der als scheinbare Sackgasse in einer Felsrundung endete. Und dort zeichnete sich im Mondlicht ein etwa drei Ellen breites, oben gerundetes Tor ab. Aber auch das hätte man leicht übersehen können, denn es war mit Platten aus demselben Gestein belegt, aus dem auch die Felswände bestanden. Nur aus unmittelbarer Nähe sah man, dass sich zwischen den Steinplatten Ritzen entlangzogen. Aus ihnen ragten flache Eisenhaken hervor, deren kurze Enden sich um die Kanten krümmten und die Platten fest an ihrem Platz hielten. Einen Türknauf oder einen schweren Eisenring wies das Tor jedoch nicht auf, sondern nur eine Vertiefung in Brusthöhe, in die man hineinfassen konnte. Im Innern stieß die Hand auf einen senkrecht eingefügten Eisenstab, den man zum Aufdrücken und Zuziehen benutzen konnte. 

Rechts vom Tor wölbte sich die Wand nach innen und bildete eine Felsnische von doppelter Armlänge, die sich weit nach oben erstreckte. In Brusthöhe befand sich eine kleine, ovale Holzplatte, die durch ein Eisenscharnier mit der Wand der Nische verbunden war.

»Seht doch!«, rief Gerolt und wies nach oben. »Da ist der Umriss eines Vogels in den Fels gemeißelt!«

Alle Blicke richteten sich sofort auf das Abbild eines Vogels, dessen verwitterte, grobe Linien das Gestein der Wölbung durchzogen. Einer seiner weit ausgebreiteten Flügel ließ sich nur noch erahnen. Doch der angedeutete, stark gebogene Schnabel deutete darauf hin, dass das Relief einen Greifvogel, einen Falken darstellen sollte.

Dshamal trat nun in die Nische und klappte den Holzdeckel hoch. Darunter kam ein seltsames, dreieckiges Feld aus dünnen, fingerlangen Eisenstäben zum Vorschein, die senkrecht aus dem Fels aufragten. Es mochten gut dreißig Stäbe sein, die mit genau gleichem Abstand zueinander das Dreieck ausfüllten. Seine Fläche hatte annähernd die doppelte Fläche des Amuletts.

Der Beduine berührte einige der Stäbe, die ohne Spuren von Rost waren und unter dem vorsichtigen, tastenden Druck seiner Finger leicht nachgaben, und nickte dann. »So also wird der vom Himmel stürzende Falke zum Schlüssel des Tores!« Er klang beeindruckt.

Auch die Gralsritter begriffen, welche Aufgabe die Eisenstifte offensichtlich hatten.

»Ihr meint, dass man die ›Tafel der tausend Bilder‹ richtig zusammengesetzt und mit Druck auf die Stäbe legen muss, um den verborgenen Öffnungsmechanismus zu betätigen?«, vergewisserte sich Gerolt.

Dshamal nickte. »Aber der Falke muss nicht nur die richtige Form haben, sondern man muss auch wissen, wo genau man ihn auflegen muss«, stellte er klar. »Denn es ragen mehr Stäbe auf, als der Schlüssel abdecken kann.«

»Und wenn man auch nur einen einzigen falschen Eisenstift erwischt, wird der Mechanismus vermutlich blockiert!«, folgerte Tarik.

McIvor lachte kurz auf. »Ich kenne jemanden, dem solch ein raffiniertes System auch hätte einfallen können!«

Seine Gefährten wussten, wen er damit meinte, nämlich Abbé Villard.

»Tja, jetzt ist guter Rat teuer«, sagte Maurice. »Denn wir haben noch immer nicht das richtige Falkenbild gefunden. Vielleicht sollten wir es mal mit dem da oben versuchen.« Er deutete auf das Relief hoch oben in der Felswölbung.

Während sich Gerolt und Tarik um die Kamele kümmerten und ihnen Agale anlegten, damit sie sich nicht vom Zugang entfernen konnten, bemühte sich Dshamal, aus den Einzelteilen der Scheibe eine Form zu bilden, die dem Bild in der Felswölbung nahekam. Doch jede Kombination, die er auf die Eisenstifte legte und immer wieder leicht versetzt gegen den Felsen drückte, brachte keinen Erfolg. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich glaube nicht, dass wir das Tor damit öffnen können.« 

Über eine Stunde lang hockten sie zusammen vor dem Tor, das sich einfach nicht öffnen wollte, und versuchten immer neue Steckkombinationen. Doch nichts fruchtete.

»Wir Hohlköpfe!«, rief Tarik plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das kann ja alles gar nicht funktionieren!«

Verwundert sahen ihn die anderen an und wollten wissen, was sie denn die ganze Zeit falsch gemacht hatten.

»Es sind die Flügel!«, sagte Tarik. »Es heißt doch, das Amulett wird als ›vom Himmel stürzender Falke‹ zum Schlüssel! Und wenn ein Falke vom Himmel stürzt, um ein Beutetier zu schlagen, dann hat er seine Flügel nicht ausgebreitet, sondern ganz eng angelegt! So und nicht anders müssen die Teile zusammengesteckt werden! Das Relief im Fels ist nur ein Hinweis, nicht aber das genaue Abbild des Schlüssels! Wer würde auch so dumm sein, das Geheimnis der richtigen Zusammensetzung in Stein zu meißeln?«

»Tod und Teufel, das ist es!«, stieß McIvor mit einem breiten Grinsen hervor und schlug Tarik seine Pranke auf die Schulter. »Ich habe schon immer gewusst, dass du es ganz faustdick hinter den Ohren hast, kleiner Levantiner!«

Gemeinsam bemühten sie sich nun, die sechzehn Teile so zusammenzusetzen, dass sie den Umriss eines Falken mit eng anliegenden Flügeln ergaben. Und plötzlich fügte sich alles zusammen. Dass sie endlich die richtige Gestalt gefunden hatten, bewiesen auch die Linien auf der vergoldeten Oberfläche. Sie bildeten jetzt ein Oval mit einem Dreieck in seiner Mitte.

»Das ist der Schlüssel!«, rief Maurice und sprang auf die Beine. »Jetzt muss sich das Tor öffnen!«

Dshamal versuchte es, doch nichts tat sich.

»Versucht es doch einmal so, dass die Schnabelspitze des Falken genau mit der linken Spitze des Dreiecks der Stifte übereinstimmt, die auf das Tor weist!«, schlug Gerolt vor.

Der Beduine tat es, richtete den Falken genau im Winkel des Dreiecks aus und drückte ihn dann nach unten.

Diesmal stieß er auf keinen Widerstand, sondern die Eisenstifte unter dem Falken glitten wie geölt in die Wand hinein. Im nächsten Moment kam von hinter dem Tor eine rasche Abfolge von gedämpften, aber doch deutlich zu vernehmenden Geräuschen. Es klang, als sprangen Hölzer zurück, die unter Spannung gestanden hatten, in der nächsten Sekunde gefolgt von einem harten, metallischen Ton.

Im selben Augenblick bewegte sich das Tor und schwang eine Armlänge weit auf. Dann schlug auf der anderen Seite des Zugangs etwas dumpf zu Boden.

»Halleluja!«, flüsterte Maurice fast andächtig. »Wir haben es tatsächlich geschafft!«