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Am späten Abend, während die Marie Céleste einige Dutzend Seemeilen vor der französischen Küste in sicheren Gewässern kreuzte, versammelten sich die vier Ritter und die beiden Granville-Schwestern in der größten der drei Kabinen, die sie auf dieser Überfahrt belegt hatten. Was es zu besprechen gab, betraf sie alle. Denn sie mussten sich darüber einig werden, wie die Reise morgen nach der Landung in Marseille weitergehen sollte.

»Maurice ist inzwischen ja gottlob schon gut von seiner Krankheit genesen«, begann Gerolt die Unterredung. »Aber er ist immer noch nicht kräftig genug, um die Weiterreise zu Pferd durchzustehen.«

»Ach was, so kraftlos bin ich nun auch wieder nicht!«, widersprach Maurice sofort. »Ich werde mich schon im Sattel halten. Zumindest will ich es versuchen. Irgendwie wird es schon gehen.«

Sofort schüttelte Tarik energisch den Kopf. »Das halte ich für keine gute Idee. Denn wenn du dich übernimmst und einen Rückfall bekommst, ist damit keinem von uns gedient. Gerolt hat recht, du bist noch weit davon entfernt, den ganzen Tag im Sattel sitzen zu können.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete ihm McIvor bei. »Immerhin liegt vor uns eine Reise von gut zwei Wochen, vermutlich werden wir sogar noch länger brauchen. Denn um diese Jahreszeit müssen wir mit Regen, Nebel und aufgeweichten, schlammigen Straßen rechnen. Und so eine Wegstrecke im Spätherbst quer durch Frankreich verlangt viel Kraft von Pferd und Reiter! Nein, das lässt du besser bleiben.« 

Auch Beatrice gab durch ein nachdrückliches Nicken zu verstehen, dass sie Maurice noch nicht für fähig hielt, sich schon morgen dieser Strapaze auszusetzen.

Maurice verzog das Gesicht und gab einen Seufzer der Kapitulation von sich. »Mir scheint, ich bin überstimmt.«

Heloise zwinkerte ihm verschmitzt zu. »Und wie! Fünf zu eins, höher könnt Ihr gar nicht verlieren, Herr von Montfontaine!«

»Und was habt ihr euch vorgestellt, wie wir dann weiterreisen sollen?«, wollte Maurice wissen.

»Mit einer Kutsche, die einer von uns dreien lenkt, während die beiden andern sie zu Pferd begleiten«, schlug Gerolt vor. »Und die Kutsche ist allein schon wegen Beatrice und Heloise nötig.«

Dass sie die Granville-Schwestern in Marseille nicht sich selbst überlassen konnten, sondern sie nach Paris mitnehmen mussten, das stand für sie schon seit ihrer Flucht aus al-Qahira außer Frage. Denn der einzige Verwandte, bei dem die verwaisten Schwestern Aufnahme finden konnten, war ein Onkel mütterlicherseits, der als Kaufmann in Paris lebte. Es war ihre heilige Christenpflicht, sie dort wohlbehalten abzuliefern. Alles andere stand dann in der Barmherzigkeit ihres Onkels.

»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Tarik. »Mit einer Kutsche müssen wir zwar auf den Landstraßen bleiben und können nicht auf Seitenwege ausweichen, aber dafür dürften wir auch weniger Aufmerksamkeit erregen. Denn wenn man in Frankreich nach uns Ausschau hält, wird man wohl eher nach vier allein reisenden Tempelrittern zu Pferd suchen und nicht nach einer Kutsche mit zwei Begleitern.«

»Richtig«, bestätigte McIvor. »Deshalb sollten wir auch davon absehen, in Marseille die Komturei unseres Ordens aufzusuchen und uns dort neue Templergewänder zu besorgen, sondern uns weiterhin als gewöhnliche Ritter ohne Ordensbindung ausgeben.«

»Gut, dann ist das also geklärt«, sagte Tarik.

Beatrice hatte dem kurzen Wortwechsel aufmerksam, aber mit sichtlicher Beunruhigung zugehört. Und nun fragte sie besorgt: »Warum wäre es Euch denn lieber gewesen, die Reise nach Paris nicht auf Landstraßen, sondern auf viel beschwerlicheren Seitenwegen zu machen? Was oder wen genau fürchtet Ihr, meine Herren Ritter?«

Die vier Männer warfen sich unsichere Blicke zu. Bisher war es ihnen recht gut gelungen, die wahre Natur ihrer Mission und die Bedeutung des schwarzen Ebenholzwürfels vor den Granville-Schwestern geheim zu halten. Über die Hintergründe des Überfalls der Iskaris wenige Tage nach ihrem Aufbruch in die Wüste hatten sie nicht viele Worte verloren und auch jetzt wollten sie von ihrem Geheimnis nur so wenig wie möglich preisgeben. Aber völlig im Dunkeln lassen konnten sie Beatrice und Heloise wiederum auch nicht. Denn wenn es zu einer Begegnung mit den Knechten des Schwarzen Fürsten kam, stand auch ihr Leben auf dem Spiel. Und das mussten sie wissen, bevor sie sich entschieden, dieses Risiko einzugehen oder sich in Marseille nach einer anderen Reisegruppe umzuhören, deren Ziel Paris war und der sie sich anschließen konnten.

»Nun, das ist eine zu lange und zu komplizierte Geschichte, um sie Euch jetzt auseinanderzulegen, Beatrice«, antwortete Maurice. »Auch sind wir durch heilige Gelübde gebunden, mit Eingeweihten nicht darüber zu sprechen. Ich kann nur so viel sagen, dass wir damit rechnen müssen, von skrupellosen Männern verfolgt zu werden, die sich dem Bösen mit Leib und Seele verschrieben haben.« 

»Ihr solltet es Euch deshalb gut überlegen, ob Ihr die Weiterreise auch wirklich mit uns antreten und diese Gefahr auf Euch nehmen wollt«, warf Gerolt nun ein. »Vielleicht zieht Ihr es ja vor, Euch in den Schutz einer großen Reisegruppe von Kaufleuten oder heimkehrenden Pilgern zu begeben, die auf dem Weg nach Paris sind. Am Geld, das Ihr dafür benötigt, soll das nicht scheitern. Wir werden dafür sorgen, dass Ihr Eure Reise bezahlen könnt und nicht auf Barmherzigkeit angewiesen seid.«

»Verfolgen Euch diese bösen Männer, um Euch den kostbaren schwarzen Würfel abzunehmen?«, wagte Heliose nun zu fragen, und ihre Stimme klang überhaupt nicht verängstigt, sondern voll brennender Neugier.

McIvor, der das kleine Mädchen tiefer als jeder andere seiner Kameraden in sein Herz geschlossen hatte, lächelte ihr zu und nickte. »Ja, den wollen sie uns um jeden Preis abjagen, denn es handelt sich bei dem Würfel um eine sehr wertvolle Reliquie. Ich glaube, so viel darf ich dir und deiner Schwester verraten.« Und mit einem schnellen Blick in die Runde seiner Freunde versicherte er sich, dass er nicht zu viel ausgeplaudert hatte.

»Und noch etwas solltet Ihr bedenken«, fuhr Gerolt nun fort. »Wir können nicht ausschließen, dass unseren Verfolgern inzwischen bekannt ist, dass Ihr Euch uns angeschlossen habt. Vielleicht ist es daher wirklich besser, wenn Ihr getrennt von uns nach Paris reist.«

»Angeschlossen? Ihr habt uns mehr als einmal das Leben gerettet!«, stellte Beatrice sofort richtig. »Ohne Euch wären wir entweder vor Akkon ertrunken, im Harem des Emirs geschändet worden, in der Wüste zu Tode gekommen oder von den Sklavenhändlern verkauft worden! Wir waren nichts als eine Last für Euch! Und das wird auch so bleiben, bis wir in Paris sind! Denn ich denke nicht daran, auf Euren Großmut und Euren Schutz zu verzichten! Wir bleiben bei Euch, ganz gleich, welche Gefahren uns auch drohen mögen. Ihr werdet sie schon zu meistern wissen. Und mit ein wenig Glück wird unsere Reise ja ganz ohne unliebsame Zwischenfälle verlaufen.«

Gerolt hatte insgeheim gehofft, dass Beatrice sich anders entscheiden und sich mit ihrer Schwester in Marseille von ihnen trennen würde. Denn für Maurice wäre es ein Segen gewesen. Diese Wochen der erzwungenen Trennung hätten bei ihm zweifellos zu einer heilsamen Abkühlung seiner Gefühle für sie geführt. Und er hegte den Verdacht, dass Beatrice sich in erster Linie wegen Maurice für ein Verbleiben bei ihnen entschlossen hatte. Aber aus einem unerfindlichen Grund war er gleichzeitig doch auch froh, dass ihnen die Gesellschaft der Granvilles noch einige Wochen vergönnt war. Das irritierte ihn sehr, doch er verdrängte es schnell und konzentrierte sich wieder auf das, was er ihr noch zu sagen hatte.

»Ihr seid womöglich etwas voreilig mit Eurem Entschluss, Beatrice. Denn Ihr habt mich nicht ganz ausreden lassen und wisst nicht, was diese Entscheidung noch für Euch bedeutet. Wenn Ihr nämlich mit uns weiterreisen wollt, könnt Ihr und Eure Schwester das nur in sehr einfachen Männerkleidern – und mit einigem Schmutz im Gesicht, um die weibliche Anmut Eurer Züge darunter verschwinden zu lassen!« 

»Wie bitte?«, stieß sie hervor, als hätte sie sich verhört. »Heloise und ich sollen Männerkleidung tragen? Und auch noch Schmutz im Gesicht? Um Himmels willen, wozu soll denn diese . . . diese Zumutung gut sein?«

Gerolt machte eine bedauernde Geste. »Leider muss das sein. Wir müssen jeden kleinen Vorteil nutzen, den wir uns verschaffen können. Und dazu gehört nun mal diese Maskerade. Denn falls man uns in Frankreich schon erwartet und wir unterwegs irgendwo auf Späher treffen, dann halten sie, wie schon erwähnt, entweder Ausschau nach vier allein reisenden Tempelrittern oder nach vier Männern in Begleitung einer jungen, hübschen Frau und eines nicht weniger reizvollen Mädchens – nicht jedoch nach fünf Männern und einem Jungen. Zumindest ist das unsere Hoffnung.«

»Muss das wirklich sein?«, vergewisserte sich Beatrice mit gequälter Miene und blickte Maurice um Hilfe heischend an.

Tarik verstand ihren Widerstand nicht. »Was macht es schon aus im Bild des Ganzen?«, gab er leicht ungehalten zu bedenken. »Ein paar Wochen des Unbehagens und der Unansehnlichkeit werden Eurer Schönheit keinen Abbruch tun.«

Und auch Maurice antwortete ihr nun: »Ja, es muss leider sein! Wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen, das wir durch diese Unannehmlichkeit vielleicht ausschließen können. Also, seid Ihr damit einverstanden?«

»Aber natürlich!«, rief Heloise begeistert. »Von einem bisschen Dreck stirbt man nicht! Darf ich dann auch auf den Kutschbock, Herr von Conneleagh?«

»Sicher doch!«, versprach McIvor ihr mit einem vergnügten Auflachen.

Beatrice ließ geschlagen den Kopf sinken. »So sei es denn«, murmelte sie verdrossen und warf Maurice einen vorwurfsvollen Blick zu, weil er sich nicht für sie eingesetzt hatte.

»Gut, dann wären damit ja die wichtigsten Dinge geklärt!«, stellte Gerolt fest.

Sie saßen noch eine Weile zusammen, um andere Details wie die Beschaffung von Kutsche, Pferden, Proviant und Kleidung sowie die Route zu besprechen, auf der sie nach Paris reisen wollten. Beatrice verlor schon bald das Interesse an diesem Gespräch und kehrte mit Heloise in ihre Kabine auf der anderen Seite des Achtergangs zurück.

»Tja, wer mit Katzen spielt, muss auch ihr Kratzen ertragen«, bemerkte Tarik spöttisch, um dann noch mit einem kurzen Blick auf Maurice hintersinnig hinzuzufügen: »Und wer alles haben will, verliert alles.«

Schnell brachte Gerolt ihr Gespräch auf ihre Reisekasse, um zu verhindern, dass Tarik noch weitere spöttische Bemerkungen von sich gab und Maurice sich zu einer Erwiderung provozieren ließ, die ihn hinterher womöglich reute. Sein französischer Ordensbruder war in seiner angegriffenen seelischen Verfassung sicherlich noch empfindlicher für wahre oder auch nur vermeintliche Kränkungen. Zudem mussten sie auch wirklich über ihre arg zusammengeschmolzene Barschaft reden, die ihnen nach dem Verkauf der letzten Juwelen in Sephira Magna noch geblieben war. Und in Gegenwart von Beatrice hatte er dieses Thema nicht ansprechen wollen. 

Nachdem sie Kassensturz und eine Liste der notwendigen Ausgaben gemacht hatten, fiel das Ergebnis recht niederschmetternd aus.

McIvor war drauf und dran, sich die Haare zu raufen. »Es ist nicht zu fassen! Mit einem wahren Schatz an Gold und Juwelen sind wir von Akkon aufgebrochen – und was ist jetzt davon geblieben? Nach den Einkäufen morgen wohl gerade noch genug, um unterwegs die Wirte der Gasthöfe und Tavernen bezahlen zu können!«

»Das mit den Tavernen solltest du besser gleich vergessen!«, mahnte ihn Gerolt. »Teure Zechgelage sind nicht drin. Aber es dürfte reichen, um uns und die Pferde ohne Hunger nach Paris zu bringen.«

»Nur Brot und Wasser, ja? Allmächtiger, dass ich das noch erleben muss! Wir werden eine Schande für jeden anständigen, trinkfreudigen Templer sein!«, wetterte McIvor.

»Daran bist du selbst nicht ganz unschuldig«, sagte Tarik mit einem spöttischen Grinsen. »Während jeder von uns einige Goldstücke oder Juwelen nach al-Qahira gerettet hat, hast du deine Smaragde und Rubine in die stinkende Latrine einer Karawanserei befördert!«

Gerolt und Maurice mussten über das verdutzte Gesicht, das McIvor machte, schallend lachen. Und nach einem kurzen Stirnrunzeln und Zögern entschied er sich, in ihr Gelächter einzustimmen.

»Aber wartet nur!«, rief er, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. »Irgendwie werde ich es schon deichseln, dass wir nicht wochenlang mit staubtrockener Kehle durchs Land ziehen müssen. Der Teufel soll mich holen, wenn nicht gelegentlich der eine oder andere Krug mit süffigem Roten für uns herausspringt!«

»Nur zu! Lass deiner Fantasie freien Lauf, Highlander! Uns soll es recht sein!«, meinte Tarik belustigt.

Wenig später war es Zeit, auf die Knie zu gehen und die Komplet zu beten, bevor sie in ihre Kojen krochen. Jeder von ihnen sank in dieser letzten Nacht auf See einerseits mit dem froh stimmenden Wissen in den Schlaf, dass sie am Morgen in Marseille vor Anker gehen würden – aber andererseits auch mit der bangen Frage, wie leicht oder wie schwer es ihnen die Iskaris auf der Weiterreise machen würden.

Keiner von ihnen hegte nämlich den leisesten Zweifel daran, dass ihre Feinde die langen Monate ihrer Flucht quer durch halb Nordafrika dazu genutzt hatten, um Boten in alle Himmelsrichtungen zu schicken und überall die Knechte des Fürsten der Finsternis zu ihrer Ergreifung zu mobilisieren. Und ganz sicher hielt man längst auch schon in Frankreich nach ihnen Ausschau und hatte reichlich Pläne geschmiedet und Vorbereitungen getroffen, um ihnen eine tödliche Falle zu stellen und ihnen den Heiligen Gral zu entreißen!