Bevor Gerolt dazu kam, seinen Freunden an einem stillen Ort den genauen Hergang des heimtückischen Anschlags zu erzählen, verstrich fast eine Stunde. Jeder der herbeigeeilten Mönche und Konversen wollte wissen, was diese lärmende Aufregung zu bedeuten hatte. Sogar der Abt, eine hochgewachsene Gestalt mit einer weißhaarigen Tonsur, kam und verlangte Auskunft. Als er von dem Überfall auf einen seiner Gäste erfuhr, zeigte er sich so bestürzt wie vor ihm der Prior und der Cellerar.
Gerolt beschränkte sich ihnen gegenüber darauf, den Überfall als einen gewöhnlichen Raubversuch hinzustellen. Der Mann habe wohl versucht, Pferde aus dem Stall zu stehlen, und sei von ihm dabei überrascht worden, worauf es zu einem Kampf gekommen sei. Und er bedauerte, seine Schläfrigkeit nicht schnell genug überwunden zu haben, um den Schurken niederzuringen, damit der Mann vor Gericht gestellt werden konnte.
Da die Klosterpforte nicht aufgebrochen worden war, suchten einige der Mönche im Schein von Fackeln und Laternen nach dem Ort, wo der Übeltäter in ihr Kloster eingedrungen war. Sie fanden auch bald auf der Krone der Westmauer einen dreiarmigen, eisernen Wurfanker. Als sie ihn mit einer Mistgabel herunterholten, kam am Ring der kurzen Wurfstange ein langes Seil zum Vorschein, in das ein gutes Dutzend Knoten gebunden war, um den Eindringlingen das Hochklettern zu erleichtern.
Die Sache mit dem jungen Konversen und dem Krug verschwieg Gerolt den Mönchen und Kaufleuten. Auch seinen Verdacht, dass Chabrol Tullien und sein Schwiegersohn, die sich überhaupt nicht blicken ließen, womöglich mit dem Mann unter einer Decke steckten, behielt er für sich. Es war nichts damit gewonnen, sie zu verdächtigen, weil es für ihre Mittäterschaft nicht den geringsten Beweis gab.
Nachdem der Abt drei seiner Mitbrüder damit beauftragt hatte, für den Rest der Nacht auf dem Hof auf- und abzugehen und Wache zu halten, kehrten schließlich alle anderen Mönche und Konversen sowie die Kaufleute wieder in ihre Zellen und Quartiere zurück.
Erst jetzt konnte Gerolt seinen Gefährten, die sich mit ihm in den Stall zurückzogen hatten, erzählen, was sich wirklich zutragen hatte. Bestürzt lauschten sie seinem stockenden Bericht.
»Du hast den teuflischen schwarzen Trank getrunken, vor dem uns der Abbé noch gewarnt hat?«, stieß McIvor mit hörbarem Schaudern in der Stimme hervor.
Gerolt nickte, noch immer bleich und kaum Herr seines inneren Aufruhrs.
»Und dann? Was geschah dann?«, fragte Maurice. »Was hat er bei dir bewirkt? Nun erzähl schon!«
Gerolt verzog das Gesicht zu einer Grimasse und vermied es, ihn anzusehen, als er darauf antwortete. »Genau das, was der Abbé uns darüber berichtet hat«, sagte er mit belegter Stimme. »Dieser verfluchte Iskari hat meinen Geist verwirrt und mir vorgegaukelt, ich befände mich in einem . . . nun ja, einem Harem und umgeben von makellosen, nur spärlich bekleideten Konkubinen, die . . . die nichts anderes im Sinn hätten, als mich in . . . in den Garten paradiesischer Lüste zu entführen.« Ihm brannten die Wangen vor Scham, dass er seine Freunde in diesem Punkt anlog. Aber die ganze Wahrheit auszusprechen, überstieg seine Kräfte.
»Heiliger Bidenhänder!«, entfuhr es McIvor und sein Auge blitzte. »Das ist ein Traum, den ich mir gefallen lasse!«
Auch Maurice machte große Augen und dann stellte sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ein. »Schau an, Gerolt, tief in deinem Innern hast du also den Wunsch verborgen, dich im Kreis von liebeserfahrenen Konkubinen den fleischlichen Freuden hinzugeben! Denn wenn es stimmt, was wir von Abbé Villard erfahren haben, dann bringt der schwarze Trank doch nur unsere geheimsten Sehnsüchte zu Tage.«
Tarik versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. »Lass gefälligst deinen Spott, Maurice!«, herrschte er ihn an. »Er ist hier fehl am Platz, zumal aus deinem Mund! Ich möchte gar nicht wissen, was in dir brodelt, mein Freund!«
Maurice schoss das Blut ins Gesicht, verstand er Tariks Anspielung auf Beatrice doch nur zu gut. Schnell legte er seine Hand aufs Herz, deutete eine Verbeugung in Gerolts Richtung an und murmelte kleinlaut: »Tut mir leid. Das war wirklich töricht von mir. Vergiss bitte, was ich da geplappert habe!«
»Außerdem ist doch keiner von uns davor gefeit!«, warf McIvor freimütig ein. »Jeder von uns hat immer wieder mit solchen fleischlichen Anwandlungen zu kämpfen. Also lass uns über diese lächerliche Angelegenheit kein Wort mehr verlieren.«
»Ein wahres Wort, Schotte!«, pflichtete Tarik ihm bei. »Außerdem verdient Gerolt unsere allergrößte Bewunderung für das, was ihm gelungen ist. Oder habt ihr vergessen, was Abbé Villard uns über die Wirkung des diabolischen Tranks gesagt hat? Nämlich dass auch der tapferste Gralshüter unter dessen Einfluss zu jedem schändlichen Verrat bereit ist!«
McIvor nickte. »Und nur wer über außergewöhnliche Charakterstärke und Willenskraft verfügt, vermag den teuflischen Bann zu brechen! Und beides hat Gerolt bewiesen! Er hat dem verfluchten Iskari das Versteck des Heiligen Grals nicht verraten. Wer weiß, ob ich oder ein anderer von uns diese Prüfung so grandios bestanden hätte wie er?«
Maurice sah Gerolt ernst an. »McIvor hat recht«, sagte er leise und mit fast wehmütiger Bewunderung. »Wenn einer von uns jetzt mit Fug und Recht von sich behaupten kann, ein wahrer Gralshüter zu sein, der auch in den schwersten Prüfungen seines Amtes standhaft bleibt, dann bist du es, Gerolt!«
»So ist es!«, bestätigte Tarik. »Nehmen wir uns an ihm ein Beispiel und hoffen wir, dass uns erspart bleibt, was er erlebt hat!«
Gerolt fühlte sich tief beschämt. Zu seiner Erleichterung wandte sich ihr Gespräch dann auch schon der Frage zu, ob der Achsenbruch wohl in irgendeiner Verbindung mit dem heimtückischen Anschlag stand, welche Rolle Chabrol und Claude dabei gespielt hatten und welche Gefahr ihnen nun drohte.
Sie stimmten schnell darin überein, dass es sinnlos war, Chabrol und Claude zur Rede zu stellen. Entweder hatten sie wirklich nichts damit zu schaffen, dann beleidigten sie ausgerechnet die Männer, die ihnen geholfen hatten. Oder aber sie waren bezahlte Handlanger der Iskaris, dann hätten sie handfeste Beweise haben müssen, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können.
»Ich sehe die Sache so«, sagte McIvor schließlich. »Wir sind den Spähern der Teufelsknechte in Marseille entkommen. Andernfalls wären wir schon auf dem Weg nach Aix-en-Provence von ihnen angegriffen worden. Die logische Folgerung ist deshalb, dass uns nur dieser eine Iskari unterwegs irgendwo erkannt und die Verkleidung der Granville-Schwestern durchschaut hat, vermutlich gestern. Und da er entweder nicht die Zeit gehabt hatte, noch andere Komplizen zusammenzutrommeln, oder weil er den Ruhm, den Heiligen Gral erbeutet zu haben, mit keinem hatte teilen wollen, hat er sich diesen Plan ausgedacht. Wie die beiden Fuhrleute in dieses Bild passen und ob sie ihm geholfen haben oder nicht, soll uns nicht weiter interessieren, ist aber zu vermuten. Sicher dürfte jedoch sein, dass er mit dem Kloster und den Mönchen gut vertraut ist und aus dieser Gegend kommt. Jedenfalls hat er alles auf eine Karte gesetzt und es bei Gerolt mit dem teuflischen schwarzen Trank versucht. Doch er ist gescheitert. Punkt. Und jetzt dürfte die Not bei dem Hundesohn groß sein!«
»Weil er auf eigene Faust gehandelt und die Sache ganz übel in den Sand gesetzt hat!«, sprach Tarik aus, was McIvor mit seinen letzten Worten angedeutet hatte.
»Was bedeutet, dass er es kaum noch einmal allein versuchen, sondern sich Verstärkung holen wird«, führte nun Maurice den Gedanken fort. »Diesmal wird er sich jedoch nicht der Hilfe einfacher Leute versichern, die uns im Kampf nicht gewachsen sind, sondern mindestens ein gutes Dutzend kampferprobte Iskaris um sich versammeln.«
»Und womöglich muss er auch erst einmal einen ranghöheren Judasjünger alarmieren, weil er sich nicht noch einmal die Finger an uns verbrennen will«, sagte McIvor. »Das könnte uns die Zeit verschaffen, um die Kutsche zu reparieren, bevor die Bande hier eintrifft und über uns herfallen kann. Denn bei der Vorstellung, mit Beatrice und der kleinen Heloise zu Pferd quer durch Frankreich zu jagen, graust es mir. Sie würden das auf keinen Fall durchhalten. Mit der Kutsche sind wir jedenfalls um einiges schneller.«
Gerolt schloss sich der Einschätzung des Schotten an und einmütig beschlossen sie, nicht kopflos die Flucht anzutreten, sondern den Einbau einer neuen Hinterachse abzuwarten. Abt und Prior hatten ihnen versprochen, morgen schon in aller Herrgottsfrühe eine Gruppe von tüchtigen Handwerkern mit einem schnellen Gespann zum Unglücksort zu schicken, damit sie möglichst rasch ihre Weiterreise antreten konnten.
Sie redeten noch eine Weile darüber, welche Route sie nun einschlagen sollten. Weiter das Rhonetal flussaufwärts zu ziehen, kam für Gerolt und Tarik nicht infrage. Doch Maurice wandte ein: »Ist es nicht genau das, was wir tun sollten, nämlich weiter die Rhone entlangziehen? Denn die Iskaris werden doch vermutlich fest davon ausgehen, dass wir von unserer bisherigen Strecke abweichen werden. Sind wir dann nicht viel sicherer, wenn wir unsere Route scheinbar gegen jeden gesunden Menschenverstand einfach beibehalten?«
»Das klingt einsichtig«, räumte Tarik ein. »Aber wir haben es nicht mit Dummköpfen zu tun, Maurice. Und das, was dir eben durch den Kopf gegangen ist, werden sie bei ihren Überlegungen bestimmt auch berücksichtigen. Was bedeutet, dass sie vermutlich auch weiterhin im Rhonetal nach uns Ausschau halten werden.«
Worauf Maurice seinen Vorschlag schnell wieder fallen ließ und mit einem Achselzucken sagte: »So oder so, es bleibt in jedem Fall ein Glücksspiel, wie weit wir kommen, bis es zu einer erneuten Begegnung mit den Iskaris kommt.«
»Die dann sicherlich mit dem Schwert ausgetragen wird!«, fügte Tarik hinzu.
»Wenn es denn sein muss, ist mir der offene Kampf immer noch am liebsten!«, stieß McIvor grimmig hervor und ballte die Faust, als hielte sie sein Schwert. »Blanker Stahl zwischen die Rippen ist die einzige Sprache, die sie verstehen!«
Maurice verzog das Gesicht zu einer geringschätzigen Miene. »Ein offener Kampf ist das Letzte, worauf sich die feige Bande einlassen wird. Es sei denn, sie befinden sich in mindestens dreifacher Übermacht. Also lasst uns besser damit rechnen, dass ihr Vorrat an heimtückischen Plänen noch längst nicht erschöpft ist!«
»Wir nehmen, was uns der Herr gibt«, sagte Tarik voller Gottvertrauen. »Er wird uns schon den rechten Weg weisen!«
»Amen«, murmelte Maurice und alle bekreuzigten sich.
In den wenigen Nachtstunden, die ihnen noch blieben, fand Gerolt so gut wie keinen Schlaf. Er quälte sich mit seinen Schuldgefühlen – gegenüber seinen Kameraden, aber mehr noch gegenüber Gott, dem er sowohl als Kriegermönch wie auch als Gralshüter treu zu dienen versprochen hatte.
Beim ersten, schwachen Licht des anbrechenden Tages machte sich eine Gruppe von Handwerkerkonversen sofort daran, ein schnelles, vierköpfiges Gespann vor einen robusten Wagen zu spannen und ihn mit Werkzeugen und mehreren Achshölzern zu beladen, um gleich an Ort und Stelle die Kutsche wieder fahrtüchtig zu machen.
Und während Tarik und McIvor sich um ihre Pferde kümmerten, nutzte Gerolt die Zeit bis zum allgemeinen Aufbruch, um den Prior zu bitten, ihm die Beichte abzunehmen, was dieser auch bereitwillig tat.
Im Beichtstuhl sprach Gerolt sich seine Gewissensqual von der Seele, jedoch ohne Namen und Einzelheiten zu nennen.
Der Prior stellte auch keine tiefer gehenden Fragen. Geduldig lauschte er hinter dem Gitter dem, was Gerolt so schwer auf der Seele drückte. Und zu dessen Erstaunen zeigte er, nachdem alles gesagt war, milde Nachsicht mit ihm.
»Niemand von uns ist vor der Versuchung durch das schwache, sündige Fleisch gefeit, mein Sohn. Wir alle sind nur Menschen und geraten deshalb immer wieder ins Straucheln. Nicht einmal den Heiligen ist es anders ergangen. Worauf es allein ankommt, ist die Erkenntnis dieser unserer Schwachheit und der Wille, sie mit allen Kräften zu bekämpfen. Wir gewinnen nicht jede dieser bitteren Schlachten, mein Sohn. Das zu erwarten, wäre vermessen und würde bedeuten, uns mit Jesus Christus gleichzusetzen, der allein in seinem irdischen Leben frei von Sünde war. Aber den Krieg gegen die Einflüsterungen des Teufels dürfen wir nie verloren geben.«
Der Prior gab ihm noch einige gut gemeinte Ratschläge zur Selbstdisziplin mit auf den Weg, die Gerolt schon von seinen Beichtvätern im Orden vertraut waren. Dann trug er ihm als Buße auf, zehn Vaterunser zu beten und zehnmal die selige Gottesmutter im Gebet um ihren Beistand zu bitten, und erteilte ihm die Absolution.
Befreit von einer erdrückenden Last, begab Gerolt sich unverzüglich in die Kapelle, um niederzuknien und in der Stille die Bußgebete zu verrichten.
Wenig später brachen sie mit den Handwerkern des Klosters auf. Beatrice und Heloise fuhren auf dem schweren Wagen mit. Ihnen stand der nächtliche Schrecken noch immer ins Gesicht geschrieben, weil sie wussten, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Pferdedieb gehandelt hatte, der Gerolt beinahe getötet hätte.
Die Wolkendecke hatte sich am Himmel ein wenig aufgezogen, und wenn auch ein frostiger Wind wehte, so war es doch trocken. Zu ihrer aller Erleichterung fanden sie die Kutsche an derselben Stelle wieder, wo sie sie zurückgelassen hatten.
Als einer der Handwerker Dreck und Schlamm vom gesplitterten Ende der Hinterachse wischte, machte er ein verblüfftes Gesicht. »Kein Wunder, dass sie Euch gebrochen ist! Jemand hat sie angesägt!«, verkündete er und wies auf den glatten Einschnitt. »Da muss Euch jemand Böses gewollt haben!«
Für die vier Gralshüter stand nun fest, dass der Iskari auf dem Schimmel vor dem Gasthof Coq dOr nur so getan hatte, als würde er davonreiten. In Wirklichkeit war er wohl sofort auf einem anderen Weg heimlich wieder zurückgekehrt und hatte ihnen die Hinterachse angesägt, während sie sich in der Wirtsstube aufgewärmt und ihr Essen verzehrt hatten. Das schlechte Wetter war dabei sein hilfreicher Komplize gewesen. Dass auch Chabrol und Claude ihren Teil zu seinem Plan beigetragen hatten, hielten sie inzwischen für erwiesen. Es war schon verdächtig genug gewesen, dass sich die beiden in der Nacht nicht auch im Klosterhof eingefunden und nach dem Grund für den Aufruhr erkundigt hatten. Doch dass sie auch am Morgen ihre Gesellschaft mieden, hatte ihren Verdacht in Gewissheit verwandelt.
Um die Mittagsstunde war der Schaden an der Kutsche endlich behoben. Sie dankten den Konversen für ihre schnelle und vorzügliche Arbeit. Dann trennten sich ihre Wege. Während die Handwerker zum Kloster zurückfuhren, wandten sich die vier Gralshüter mit ihren Begleiterinnen für einige Stunden nach Süden, um dann den Fluss zu überqueren und erst einmal für mehrere Tage eine südwestliche Richtung einzuschlagen.
»Gebe Gott, dass sich das Netz der Iskaris nicht zuzieht, bevor wir aus dieser Gegend verschwunden sind und einen großen Vorsprung herausgeschunden haben!«, bat Maurice inständig. »Und möge ihr Netz nicht eng, sondern mit möglichst großen Maschen geknüpft sein!«
»Und gebe er auch, dass wir genau diese Maschen finden!«, fügte Gerolt noch hinzu.