Kapitel 15
Greg
Nachdem sich im Büro alles wieder beruhigt hat, fällt es mir leichter, mich ums Geschäft zu kümmern. Meine Wut auf Derrick hat sich nicht gelegt, aber ich weiß, dass ich einen klaren Kopf behalten muss. Nicht einmal dreißig Minuten nach meinem Anruf kommt Derrick mit einem Karton voller Fallakten ins Gebäude gerannt. Ich bin sicher, dass der Idiot sich fast in die Hose gemacht hätte, als er in mein Büro kam und nicht nur einen stinksauren Mann, sondern zwei weitere vorfand. Coop und Axel haben kein Problem damit, hier zu sitzen und den Idioten aus der Fassung zu bringen.
Ich brauche eine gute Stunde, um die Fallakten durchzusehen und zu begreifen, dass es ein großer Fehler war, ihm zu vertrauen. Er hat nicht nur versäumt, mir alle Informationen zu übermitteln, sondern auch nicht erwähnt, wie schlimm es im Hause Wagner zugegangen ist. Ich finde fünf Krankenhausbesuche, wobei die Geburt des Sohnes, von dem ich nichts wusste, nicht enthalten ist. Es gab fünf Besuche der örtlichen Polizei, die von den Nachbarn gerufen worden war und die immer damit endeten, dass Sofia Wagner sagte, dass alles in Ordnung wäre. Und was das Fass zum Überlaufen bringt, ist, dass Derrick nicht erwähnt hat, dass der Sohn oben schlief, während seine Eltern tot im Erdgeschoss lagen.
„Verflucht“, presse ich hervor und knalle die letzte Akte dieses verkorksten Falls auf den Schreibtisch. „Kannst du diesen ganzen Mist glauben?“, frage ich Maddox. Seit ich angefangen habe, die Akten durchzusehen, ist er der Einzige im Gebäude, der dumm genug ist, sich mit meinem Scheiß abzugeben. „Wie konnte ich nur so blind sein? Ich bin derjenige, der diesen Idioten zum Auskundschaften eingesetzt hat. Er sollte mir alles erzählen, und ich kriege Halbwahrheiten und verwässerten Blödsinn.“
„Du bist ausgespielt worden. Du kannst dir nicht die Schuld für sein Verhalten geben. Du hattest genug Probleme mit Axel, Izzy und diesem Dreckskerl Brandon.“
Er legt die letzte Akte beiseite, die ich ihm hingeworfen habe, lehnt sich im Stuhl zurück und reibt geistesabwesend sein linkes Knie.
„Ist alles in Ordnung?“, frage ich und nicke in Richtung seines Knies.
„Mir geht’s gut, halt die Klappe davon. Ich werde mir noch jahrelang Glitter aus den Haaren zupfen.“ Es ist klar, dass mehr dahintersteckt, ich weiß aber, dass ich ihn nicht drängen darf.
„Ich bin hier, wenn du über etwas reden willst. Und hör auf, dich mies zu benehmen, okay? Ich halte mich aus deinem Kram raus, aber hör damit auf. Du weißt verdammt gut, wen ich meine. Und jetzt zurück zu diesem Mist. Was soll ich nun machen?“
„Behalte es für dich, bis du mehr über die Frau weißt. Es gibt keinen Grund, alte Wunden aufzureißen, bis du weißt, dass sie es wert ist, ihr Fels in der Brandung zu sein, wenn sie einen braucht.“
Er steht auf und geht zur Tür. Als er sich umdreht und mich mit seinen schwarzen Augen ansieht, erkenne ich zum ersten Mal seit Jahren etwas Mitleid darin. „Ich glaube, dass du etwas Frieden verdienst, Bruder. Sie könnte auch der Fels sein, den du brauchst.“ Und mit diesen Worten geht er.
Ich bleibe noch ein paar Stunden im Büro und bringe mich bei einigen Fällen, die Arbeit erfordern, auf den neuesten Stand, überprüfe ein paar weitere und vermeide so jeweils für einige Sekunden, an Melissa zu denken. Das ist nicht einfach, denn ich muss ständig an das Wochenende denken, das ich mit ihr verbracht habe. Ihr Gesicht muss nur kurz vor meinem inneren Auge aufblitzen, dann wird mir die Hose eng. Zu sagen, dass es mich schwer erwischt hat, wäre wie zu sagen, dass die Sonne ein kleiner Stern ist.
Ich beschließe, dass es mir egal ist, was es über mich aussagt, wenn ich so früh anrufe, nehme mein Handy und drücke auf ihren Namen. Es klingelt ein paar Mal, dann höre ich ihre atemlose Stimme, und mein Herz schlägt sofort schneller.
„Hallo?“
„Melissa.“ Gott, allein ihre Stimme reicht aus, um mich den ganzen Scheiß des Tages vergessen zu lassen.
„Greg.“
Vielleicht bilde ich es mir ein, aber es kommt mir so vor, als hätte sie meinen Namen geseufzt, und das genügt, um mein Ego aufzublasen. Ja, sie geht vielleicht auf Distanz zu mir, aber sie ist nicht so unberührt, wie sie mich glauben lassen will.
„Es war ein langer Tag, Baby, und es ist nicht mal Mittag. Geh mit mir essen.“
„Das wäre netter, als mein aktueller Plan. Ich kann heute nicht weg, Greg. Und wegen morgen bin ich mir nicht sicher.“
Wenn ich nicht das Bedauern in ihrer Stimme hören würde, hätte ich gedacht, dass sie mir eine Abfuhr erteilt.
„Was ist los, Melissa?“
„Nichts, worum du dir Sorgen machen musst. Es sind Familienprobleme.“
Ich weiß, dass wir uns noch nicht lange kennen und ich mir ihr Vertrauen noch nicht verdient habe, aber das versetzt mir trotzdem einen Stich. Ich kann nichts dagegen tun. So bin ich nun einmal. Ich will alles für sie in Ordnung bringen.
„Du weißt, dass du mit mir reden kannst. Ich verstehe, dass du nicht willst, dass ich mich in deine Angelegenheiten einmische, weil wir uns noch nicht so gut kennen. Aber wenn du reden musst, schließ mich nicht aus.“
Es folgt ein langes Schweigen und ich kann fast hören, wie sich bei ihr die Rädchen drehen. „Ich weiß. Aber ich muss mich einfach darum kümmern, okay?“
Das gefällt mir nicht, aber ich lasse es vorerst so stehen. „Ja, meine Schöne. Vorerst.“
„Du bist so frustrierend, Greg Cage.“ Zumindest sind ihr Lachen und ihre Leichtigkeit wieder da.
„Ich will dich bald sehen und akzeptiere kein Nein als Antwort. Kümmere dich um deine Familienangelegenheiten und ruf mich morgen an. Wenn ich morgen nichts von dir höre, komme ich zu dir. Zum Mittagessen, Abendessen oder zum Brunch.“
„Okay, okay. Ich rufe dich morgen an und erzähle dir, was los ist. Ist das für dich in Ordnung?“
Neunmalkluge Verführerin.
Der nächste Tag ist nicht besser für meine geistige Gesundheit. Auf einem goldenen Bürgersteig zur Arbeit zu gehen, ist fast lustig genug, dass ich den Tag positiv beginne. Doch als ich das Büro betrete, finde ich Emmy in Tränen aufgelöst, Coop total frustriert, weil er nichts über Frauen und wie man sie beruhigen kann weiß, Beck besorgt und Emmy tröstend, und Maddox, der Löcher in sein Büro boxt. Das ist kein guter Anfang.
Ich fühle mich zerrissen zwischen dem Bedürfnis, Emmy und ihre unschuldige, reine Liebe zu einem Mann zu beschützen, der sie nicht akzeptieren kann, und einem Mann, der seit Jahren wie ein Bruder für mich ist. Ich kenne den Hintergrund und weiß, dass es in naher Zukunft nicht besser werden wird.
Da Axel sich den Rest der Woche freigenommen hat, landen alle Probleme bei mir. Alles, was man aus Emmy herausbekommt, ist, dass es ihr gut geht. Sie beruhigt sich, als ich sie zur Seite nehme und an unser Gespräch erinnere. Ich verstehe sie, wirklich. Einige von uns sind auf der Welt, um zu heilen, um das Leben anderer zu erhellen, aber was ist, wenn diese Menschen keine Hilfe und Liebe wollen? Das schmerzt tief. Egal was ich sage, es wird ihre Situation nicht ändern. Aber der Unfriede im Büro muss aufhören.
Danach scheint ein Problem nach dem anderen aufzuflammen. Wir haben Fälle mit Schwierigkeiten, Computer fallen aus, und Maddox wirft in seinem Büro immer noch mit Sachen herum.
Wenn ich wüsste, dass ich Melissa heute sehe, könnte ich es ertragen, aber da das nicht der Fall ist, wird meine Laune immer schlechter. Als der Nachmittag zur Hälfte um ist, halte ich es nicht mehr aus und rufe sie an. Ihre Mailbox meldet sich und ich hinterlasse eine Nachricht, dass sie mich anrufen soll. Sie antwortet mit einer kurzen Nachricht, die sofort auf den Punkt kommt:
Melissa: Heute schaffe ich es nicht, zu viel Familienkram .
Mein Magen zieht sich zusammen. Und mein Bauchgefühl täuscht mich nie. Irgendetwas stimmt nicht. Aber ich kann ihr nicht helfen, wenn sie mir nicht erzählt, was los ist. Das Gefühl, nicht helfen zu können, ist neu für mich. In den letzten fünf Jahren war ich der Fels in der Brandung, derjenige, zu dem man geht, der stark genug ist, um zu helfen, und das gab mir das Gefühl, etwas zu tun, worauf Grace stolz sein würde. Etwas Besseres als in all den Jahren, die ich mit Fusel und Straßenhuren an mir vorbeiziehen ließ.
Ich will dieser bessere Mensch für Melissa sein und es bringt mich um, dass sie mich nicht an sich heranlässt. Ich sage mir immer wieder, dass ich Geduld haben muss, wir kennen uns kaum, und wer vertraut einem anderen schon nach einer Woche? Aber mein Herz drängt mich, jetzt zu ihr zu fahren und zu verlangen, dass sie mich einweiht.
Das ist verrückt, ich weiß, aber mein Gefühl trügt mich nicht. Sie ist eine Frau, die den Ärger wert ist, und wenn ich richtig liege, könnte sie diejenige sein, die die Wunde heilt, die ich schon viel zu lange mit mir herumtrage.
Als mein Handy kurz vor Feierabend klingelt und ich Melissas Namen auf dem Display sehe, macht mein Herz einen Satz. Das verdammte Mistding schlägt mir bis zum Hals. Erst eine Woche, und mich hat es schon so schwer erwischt. Scheiße.
„Hast du mich vermisst?“ Ich rechne mit einer frechen Erwiderung oder wenigstens einem Hallo, doch das leise Schluchzen, das ich höre, lässt meine Stimmung sofort wieder sinken. „Melissa? Was ist los?“ Nach meinen Schlüsseln zu greifen, ohne zu wissen, wo ich gebraucht werde, ist eine reflexartige Reaktion. Ich bin aus der Tür, nicke den anderen vorher nur noch kurz zu. „Baby, wo bist du?“
Sie braucht eine Weile, um sich unter Kontrolle zu bringen, und als sie spricht, klingt sie nicht traurig. Aus ihrem Ton klingt reine Wut. „Ich bringe das kleine Flittchen um, Greg. Mein Auto mag für andere eine Scheißkarre sein, aber es ist meins und es ist wichtig für mich. Natürlich ist es ein Stück Schrott, aber es gehört mir!“
An diesem Punkt muss ich rechts ranfahren. Trotz meines Bedürfnisses, zu ihr zu kommen und in Ordnung zu bringen, was auch immer passiert ist, habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon zur Hölle sie redet.
„Babe, ich versuche, herauszufinden, wovon du eigentlich sprichst. Könntest du mir also mehr Einzelheiten verraten?“ Ich beuge mich vor und reibe meinen Nacken, um etwas von der Verspannung loszuwerden.
„Okay. Lass es mich so erklären, dass du es vielleicht verstehst. Deine kleine Stalkerin. Ich glaube, du hast dich nicht klar genug ausgedrückt, als du mit ihr Schluss gemacht hast. Ich würde gern glauben, dass ich dich gut genug kenne, um zu wissen, dass du mich nicht verarschst und so versuchst, dass ich mich dir öffne. Also stell dir meinen Schock vor, als sie bei meiner Arbeit aufgetaucht und total ausgerastet ist!“
Herr im Himmel. „Sag mir, dass das ein Witz ist, Melissa.“
„Glaubst du, ich würde dich jetzt anrufen, damit du kommst und diesen Abschaum abholst, wenn ich es nicht ernst meinen würde?“
Bei ihrem Geschrei lasse ich fast das Handy fallen. „Wo bist du?“
„Im Büro, du weißt schon, wo Kinder und Familien und diese ganze nette Familienatmosphäre ist. Ja, diese Atmosphäre hat sich gerade in Luft aufgelöst, als deine Stalkerin reinstürmte und rumschrie, was ich für eine Hure sei, weil ich ihre Beziehung mit dir zerstöre! Dann kriegten wir sie endlich aus dem Büro und ich hatte etwas Zeit, um mich zu beruhigen. Doch dann kam ich raus und erwischte sie beim Aufschlitzen meiner Reifen mit einem Messer! Und da ich mit vier platten Reifen nicht fahren kann, bin ich immer noch im Büro.“
Wieso hatte ich das nicht kommen sehen? Vielleicht nicht genau das, aber etwas in der Art. Schließlich ist Mandy total verrückt.
„Ruf die Polizei, Babe. Ich bin in fünfzehn Minuten da. Und, Melissa?“
„Was?“, faucht sie.
„Es ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, um das zu erwähnen, aber all das Feuer und die Leidenschaft, die du gerade zeigst? Baby, das hat mich so heiß gemacht, dass es ein Wunder sein wird, wenn ich dich nicht in dem Moment nehme, in dem ich dir in die Augen sehe.“
„Du bist ein Tier, Greg Cage.“
Das war vielleicht unangemessen, doch als ich ihr Lachen höre, bevor sie auflegt, weiß ich, dass ich heute etwas richtig gemacht habe.