Kapitel 16
Melissa
Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. Seit ich Sonntagabend Gregs Haus verlassen habe, schwebe ich auf Wolke sieben. Nicht einmal der Mist, den Cohens Großmutter väterlicherseits veranstaltet, kann mir die Laune verderben. Ich bin gestresst, aber nur, weil meine Mutter mich dazu treibt.
Susan hat wieder mit ihren Briefen angefangen und bald folgten Anrufe. Und schließlich hatten wir das Vergnügen, dass sie um drei Uhr morgens an der Tür meiner Mutter klingelte. Susan Wagner ist eine tablettensüchtige, betrunkene Schlampe aus der Gosse. Sie hat genug Strafzettel wegen Trunkenheit am Steuer, dass sie eigentlich nicht mehr fahren darf, doch das hält sie nicht auf. Inzwischen bin ich auch sicher, dass sie Geschlechtskrankheiten hat. Und wenn sie ihr unheimliches Hexengrinsen aufsetzt, sieht man nur noch Zahnfleisch. Das Einzige, was Simon Wagner in seinem Leben richtig gemacht hat, war, dafür zu sorgen, dass Cohen zu meiner Mutter kommt, wenn ihnen etwas passieren sollte. Und so durchgeknallt er auch war, sie ist tausend Mal schlimmer.
Also wird mein so nötig gebrauchter Schlaf nicht nur von einem verzweifelten Anruf unterbrochen, nein, ich muss mich auch noch zu meiner Mutter rüberschleppen und mit Susan in ihrer betrunkenen Wut fertig werden. Und jetzt habe ich es mit einer weiteren Kerze zu tun, die nicht hell genug für die Torte ist.
Als ich von einem zornigen Dr. Shannon buchstäblich aus dem Untersuchungsraum gezerrt werde, habe ich nicht damit gerechnet, die Frau zu sehen, die zu meinem Schatten wurde, seit Greg das erste Mal Interesse an mir gezeigt hat. Außer dass sie dieses Mal jegliche künstliche Perfektion abgelegt hat. Der makellose Look, den ich sonst von ihr kenne, ist verschwunden. Stattdessen steht mir eine völlig Fremde gegenüber. Sie erinnert mich an einen dieser streunenden Hunde, die man in Stadtgassen sieht. Sie haben so lange
um das letzte Stückchen Fleisch gekämpft, dass sie einen Krümel nicht mehr von einem Kiesel unterscheiden können. Und offensichtlich ist in dieser Gleichung Greg das Fleischstückchen.
„Du verfluchtes Miststück!“, kreischt sie so laut sie nur kann in einem Wartezimmer voller Patienten.
Nicht nur Patienten, sondern auch Eltern und Kinder aller Altersstufen. Ihr verrückter Ausbruch erschreckt die kleineren Kinder, die älteren werden neugierig und die Eltern wütend. Ich weiß jetzt schon, dass das nicht gut endet.
Ich verliere den Überblick über das, was sie mir im Wartezimmer alles an den Kopf wirft. Ich höre noch ein paar Mal ‚Miststück‘, ‚Beziehungszerstörerin‘ –was mich völlig umhaut –, aber ‚Hure‘ ist das Wort, das mich durchdrehen lässt. Ich tue, was ich tun muss, gehe um den Schreibtisch herum, greife nach ihrem knochigen Arm und ziehe sie zur Tür. Dabei sage ich kein einziges Wort, denn ich koche vor Wut und weiß, sobald ich den Mund aufmache, drehe ich genauso durch wie sie.
Ich öffne die Tür der Lobby, schubse sie so hart ich kann nach draußen und habe großes Vergnügen daran zu sehen, wie sie auf ihren Absätzen schwankt und auf den Arsch fällt. Sie macht den Mund auf, um weitere verbale Attacken loszulassen, aber ich zwinge mich, mit tödlicher Ruhe ‚Schnauze‘ zu sagen und schließe die Tür.
Ich gehe beschämt an den Patienten vorbei und entschuldige mich für den Zwischenfall. Die Kinder scheinen die verrückte Frau schon vergessen zu haben und richten ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf den Disney-Film, der gerade läuft, aber viele Eltern werfen mir fast hasserfüllte Blicke zu.
Als ich ins hintere Büro komme, wartet Dr. Shannon schon auf mich. Er drückt mir einen Karton in die Arme und sagt: „Raus. Sie sind gefeuert.“ Dann dreht er sich auf seinen alten Beinen um und geht.
„Sie können mich nicht für etwas feuern, das jemand anders getan hat! Das ist lächerlich“, rufe ich ihm hinterher.
„Da liegen Sie falsch, Melissa. Sie haben diese Störung in meine Praxis gebracht und eine Szene verursacht, die ich jetzt in Ordnung bringen muss. Räumen Sie Ihren Spind aus. Wir schicken Ihnen
Ihren letzten Scheck mit der Post.“
Ich brauche einige Minuten, um wirklich zu verstehen, dass ich gerade nicht nur meinen Job verloren habe, sondern auch das einzige Einkommen, das meinen Neffen, meine Mutter und mich über Wasser hält. Ich bin am Arsch. Ich darf nicht darüber nachdenken, wie viele Probleme ich jetzt habe, weil ich dann zusammenbreche.
Ich räume schnell meinen Spind aus, packe meine Sachen und sage der Geschäftsführerin Brenda, dass ich sie anrufen werde, um über Dr. Shannons Verhalten zu sprechen. Sie fühlt sich schrecklich, aber wir wissen beide, dass es sinnlos wäre, weiter mit ihm zu diskutieren.
Als ich durch die Tür der Lobby auf den Parkplatz gehe und Mandy sehe, die wie wild mit einem Messer auf meine Reifen einsticht, drehe ich durch. Rückblickend war es vielleicht keine kluge Idee, eine Frau anzugreifen, die ein großes Messer hat, aber ich hatte es so satt.
„Du verrückte Schlampe!“, schreie ich und beobachte, wie sich ihre Augen verdrehen. Ich lasse die Kiste fallen, überwinde schnell die Distanz zwischen uns, knicke in der Taille ab und werfe sie zu Boden. Ich nehme den scharfen Schmerz in meinem Arm zwar wahr, denke aber keine Sekunde darüber nach. Ich greife nach ihrer Hand mit dem Messer und knalle sie auf den Boden. Sie reißt die Augen auf, die vor Schmerz zu tränen beginnen. Ihr Griff lockert sich und ich schleudere das Messer schnell mit meiner anderen Hand weg.
„Du dumme, armselige kleine Schlampe! Ich weiß nicht, was du glaubst, mit Greg gehabt zu haben. Aber er will nichts mehr von dir. Du willst, dass ich denke, dass du etwas Besonderes für ihn bist. Dabei vergisst du, dass er schon klargemacht hat, dass er mit dir fertig ist.“
„Er gehört mir“, knurrt sie. „Du kriegst ihn nie!“
„Oh, da liegst du falsch. Ich habe ihn schon.“ Ich lächele sie spöttisch an, aber als sie das Gesicht zu etwas verzieht, was man nur als verrückte Fratze bezeichnen kann, weiß ich, dass sie keinen vernünftigen Argumenten zugänglich ist.
„Wirklich? Er war aber letzte Nacht in meinem
Bett, und jede Nacht davor auch! Er hat vielleicht Spaß mit dir, kommt aber immer wieder zu mir nach Hause zurück.“
„Du bist wahnsinnig.“ Ich will von ihr heruntersteigen, da richtet
sie sich ruckartig auf, greift in mein Haar und zerrt mich zu Boden. Mein Kopf schlägt auf dem Asphalt auf, aber nicht fest genug, dass ich sie nicht abschütteln und zurückspringen könnte.
Ich kümmere mich nicht darum, dass sie immer noch meine Haare gepackt hält, hole aus und ramme ihr meine Faust in den Bauch. Ihr Griff löst sich sofort. Ich versetze ihr noch einen Schlag gegen die Schläfe und beobachte, wie sich ihre Augen trüben, bevor sie zu Boden fällt.
„Oh, mein Gott! Melissa! Melissa! Ist alles in Ordnung, Süße?“ Ich drehe mich um und sehe Brenda aus der Tür der Praxis rennen, das Handy am Ohr. „Ich habe die Polizei angerufen, ich habe alles gesehen, oh Gott. Oh, mein Gott!“
„Mir geht es gut, Brenda, wirklich. Gib mir nur eine Minute, okay?“ Ich gehe ein paar Schritte und mache den einzigen Anruf, der für mich im Moment wichtiger ist, als die Polizei. Greg. Das hier ist nicht nur sein Chaos, sondern ich kann auch nicht bestreiten, dass ich mich besser fühlen würde, wenn er hier wäre.
Nach dem kurzen Gespräch mit ihm, das meinen Blutdruck wieder in die Höhe treibt, lege ich auf und kann nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Ja, ich will ihn hier haben, und nicht nur wegen diesem Chaos, das wohl seine Schuld ist, sondern weil er mich glücklich macht. Und zum ersten Mal seit langer Zeit genieße ich dieses Glück, ohne Angst zu haben, dass es mir genommen wird.
Die Polizei kommt und nimmt meine und Brendas Aussagen auf. Da Barbie immer noch bewusstlos neben meinem Auto liegt, rufen sie einen Rettungswagen, der sie ins Krankenhaus bringen soll. Zum Glück wird der Parkplatz von Kameras überwacht und die Polizei sagt, dass sie die Aufnahmen sicherstellen wird und auf mich zurückkommen, wenn sie noch weitere Fragen haben. Brenda ist geschockt, als ich sage, dass ich keine Anzeige erstatten will. Das ist meine Angelegenheit, und ich ändere meine Meinung nicht. Wenn sie mit noch mehr Scheiße anfangen will, soll sie. Ich warte das nächste
Mal ab.
Zu meinem Pech taucht Greg auf, als der Sanitäter den Kratzer auf meinem Arm reinigt, der von dem Messer stammt. Es ist nichts Schlimmes, aber auf meinem Arm und dem Oberteil meiner Arbeitskleidung ist genug Blut, dass er erstarrt. Man kann förmlich spüren, wie Wut in ihm hochsteigt.
Er ist mit zwei großen Schritten neben mir, mustert mein Gesicht und lässt den Blick über meinen Körper wandern, um sicher zu sein, dass ihm nichts entgeht.
„Du hast mir nicht gesagt, dass sie dich verletzt hat. Du hast mir nicht gesagt, dass sie dich angegriffen hat.“
Er scheint nicht auf mich wütend zu sein, trotzdem beschließe ich, vorsichtig vorzugehen. „Ich glaube, eine korrekte Beschreibung der Situation wäre, dass ich, technisch gesehen, sie angegriffen habe.“
Sein Blick, der auf den Verband gerichtet gewesen war, schießt hoch und mir entgeht die Erheiterung nicht, die kurz in seinen Augen aufblitzt, bevor er wieder besorgt aussieht. „Wie bitte?“, fragt er.
„Du solltest vielleicht über mich wissen, dass ich mich nicht einfach zurücklehne und jemanden mein Leben verkorksen lasse. Sie hat mein Auto beschädigt und sich daher mit mir angelegt. Das passierte zehn Minuten, nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass ich gefeuert wurde, weil sie so viel Mist in der Praxis herumgeschrien hat, dass ich jahrelang keine Arbeit mehr finden werde. Also ja, man könnte sagen, dass ich sie angegriffen habe.“
„Okay. Ich bin nicht sicher, was ich damit
anfangen soll, aber wir können später darauf zurückkommen. Ist alles in Ordnung?“
„Greg, mir geht es gut. Ich bin kurz mit dem Messer in Kontakt gekommen, aber es ist nur eine Fleischwunde.“ Ich lächele in sein attraktives Gesicht und versuche, die Wut zu mildern, die er immer noch ausstrahlt. „Falls es dich beruhigt, ihr geht es schlimmer.“
Er sieht mir eine Weile in die Augen und stößt schließlich ein tiefes Lachen aus. „Ich bin nicht wild darauf, dich verletzt zu sehen, meine Schöne. Bist du hier fertig? Was hältst du davon, wenn wir zu mir nach Hause fahren und du mir alles genau erklärst?“
„Ja, Greg. Das klingt gut.“
Brenda gibt mir meinen Karton, den ich völlig vergessen hatte,
und nachdem der Abschleppwagen mein Auto mitgenommen hat, fahren wir zu Greg. Auf dem Weg dorthin rufe ich meine Mom an, erzähle ihr, dass ich Ärger hatte und morgen bei ihr vorbeikomme. Ich weiß, dass meine Probleme dann nicht verschwunden sein werden, aber im Moment brauche ich das hier. Ich brauche Greg. Erstaunlicherweise erschreckt mich die Vorstellung, jemand anderen zu brauchen, diesmal nicht.