Kapitel 17
Greg
Nach dem kurzen Gespräch steckt sie ihr Handy weg und ist innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Eine Weile später sinkt ihr Kopf auf meine Schulter und ihre Arme schlingen sich um meinen Arm. Zur Hölle, sie könnte ihn mir gern ausreißen, wenn sie sich dann besser fühlt.
Als ich bei der Praxis des Kinderarztes vorfuhr und sie blutend
auf dem Bordstein sitzen sah, hätte ich fast den Verstand verloren. Mir ist das Gefühl eines überwältigenden Beschützerinstinkts nicht fremd. Aber so mächtig habe ich es noch nie empfunden. Noch nie hat sich alles in mir innerhalb von Sekunden in eiskalte Wut verwandelt. Seitdem gibt es keinen Zweifel mehr. Sie gehört zu mir. Und wenn man danach urteilt, wie schnell sie sich im Schlaf mir zugewandt hat, weiß sie das auch. Ihr Verstand hat ihr Herz und ihren Körper nur noch nicht eingeholt.
Ich winke Stan zu, als wir durch das Tor fahren. Ich nehme den langen Weg durch das Viertel, was mir ein paar zusätzliche Minuten gibt, in denen sie an mir ruht. Es gibt mir Zeit, ihr uneingeschränktes Vertrauen etwas länger zu genießen.
Als wir vor meinem Haus halten, rührt sie sich immer noch nicht. Ich stelle den Motor ab, steige vorsichtig aus und gehe auf ihre Seite hinüber. Eine Weile stehe ich nur da und sehe sie an. Behutsam streiche ich mit einem Finger über den Verband an ihrem Arm, was mir wieder alles deutlich vor Augen führt, und mein Herz zieht sich zusammen. Es war meine Schuld. Vielleicht nicht direkt, aber für mein Empfinden schon, und das macht mich fertig.
„Schönheit“, murmele ich und streiche ihr sanft übers Haar. Ihre Lider flattern, und dann sieht sie mir in die Augen. „Wollen wir reingehen und uns ein bisschen hinlegen?“ Es ist noch früh, nicht einmal Zeit fürs Abendessen, aber wenn sie sich besser fühlt, sicherer, wenn sie sich hinlegt, ist es mir auch recht.
„Mir geht es gut. Ich brauchte nur ein kleines Nickerchen.“ Ihre Stimme ist vor Schläfrigkeit heiser, und ich muss mein Verlangen mit Gewalt unterdrücken.
„In Ordnung. Dann lass uns reingehen und du erzählst mir die Details, okay?“
„Aber klar, Baby.“
Ich weiß, dass sie gerade aufgewacht ist und ihr höchstwahrscheinlich gar nicht bewusst ist, was sie eben gesagt hat, aber dieses Wort trifft mich direkt ins Herz. Erfüllt es mit Hochgefühl. Ich sollte besorgt sein, denn schließlich hat diese Frau die Macht, meine Welt aus den Angeln zu heben.
Wir gehen ins Haus und machen es uns bequem. Ich setze mich auf die Couch und gebe ihr keine Gelegenheit, sich irgendwo anders hinzusetzen, sondern nehme ihre Hand und ziehe sie auf meinen Schoß. Ich schlinge die Arme um sie und stoße ein erleichtertes Seufzen aus.
„Erzählst du mir jetzt alles, Babe?“
Sie sucht eine Weile etwas in meinen Augen, ich weiß nicht wonach, aber sie muss es gefunden haben, denn sie beginnt mit ihrer Geschichte. Sie ist nicht leicht zu ertragen, aber ich bin stolz auf Melissa, weil sie sich selbst durchsetzen kann. Als sie aufhört zu sprechen, kann ich erst mal nichts sagen. Ich muss still sitzen bleiben, um meine Wut und den Drang, etwas unternehmen zu müssen, zu beherrschen.
„Du hast keine Anzeige erstattet? Bitte sag mir, dass ich dich missverstanden habe, Melissa.“ Sie sieht mir in die Augen. Mein Tonfall scheint sie etwas zu verwirren. „Ich bin nicht wütend auf dich, Baby. Ich will nur wissen, warum du keine Anzeige gegen sie erstattet hast.“
„Ich wollte nur, dass sie verschwindet. Ich kenne sie nicht und weiß zwar, dass ihr beide etwas laufen hattet, aber das geht mir dann doch zu weit.“
Ich höre auf, ihren Schenkel zu streicheln. „Und du lässt zu, dass dieser Scheiß zwischen uns kommt?“
„Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, dass das zu weit geht. Wegen ihr habe ich meinen Job verloren, Greg. Meinen Job und das
Familieneinkommen, alles weg, wegen deiner Fickfreundin.“
„Baby, mir ist klar, dass das sehr schlimm ist, aber du musst verstehen, dass ich kein Heiliger war, bevor ich dich kennengelernt habe. Ich war nicht perfekt, nicht mal annähernd, aber die Sache mit Mandy hat aufgehört, als das mit uns anfing. Nicht, dass es da viel zu beenden gab, aber ich habe ihr auf der Hochzeit klargemacht, dass es zwischen uns vorbei ist. Ich habe es ihr noch mal erklärt, als sie am Tor aufgetaucht ist und noch mehr Blödsinn gequatscht hat. Ich weiß nicht, was sie sich einbildet, aber ich werde es herausfinden. Ich will nicht, dass du dir wegen ihr Sorgen machen musst.“
„Ich glaube dir. Wirklich. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich heute viel mehr verloren habe, als nur etwas Haut am Arm.“
Ich zucke zusammen, weil mich ihre Worte daran erinnern, wie gefährlich die Situation war.
„Ich werde mich darum kümmern, Baby.“
„Wie willst du dich darum kümmern?“ Sie runzelt die Stirn und Ungläubigkeit und Verwirrung blitzen in ihren Augen auf.
„Erstens kläre ich das mit Mandy und will eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken. Zweitens kenne ich so einige Leute in der Stadt. Ich habe gerade eine Alarmanlage in der Praxis eines Hausarztes die Straße runter installiert. Lass mich ihn anrufen und hören, ob er jemanden einstellt. Drittens wirst du mich in alles einweihen. Lass mich einfach an dich ran, meine Schöne.“
Das Schweigen lastet schwer auf mir, während sie über meine Worte nachdenkt. Sie will mich nicht an sich heranlassen. Das weiß ich, was aber nicht bedeutet, dass ich aufgebe, bis sie mir die Chance gibt, zu beweisen, dass ich es verdiene.
„Meli, Baby“, seufze ich. „Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich aus Erfahrung weiß, wann es sich lohnt, für etwas zu kämpfen. Ein Blick auf dich hat mir genügt, um zu wissen, dass du es mir wert bist. Es ist alles noch frisch, das verstehe ich, aber ich weiß, dass du es auch fühlst.“
„Ich fühle es“, flüstert sie. „Ich fühle es, und es erschreckt mich.“
„Warum? Was macht dir daran Angst, Baby? Sag es mir, damit ich dir helfen kann.“
„Du verstehst das nicht. Als ich Fia verloren habe, hat sich etwas
in meinem Inneren verändert. Ich war immer die Beschützende in der Familie. Meine Mom ist wunderbar, aber sie ist schwach. Fia war genauso. Sie ließen sich von Männern unterdrücken und ich habe immer gesagt, dass ich nicht so sein will. Dass ich keinen Mann brauche. Mein Dad war ein Stück Dreck. Meine Erinnerungen an ihn sind alles andere als schön und ich musste zusehen, wie meine Schwester denselben Albtraum durchlebt, ohne Hoffnung, ihr helfen zu können. Jahrelang habe ich meinen Spaß gehabt, aber nie einen Mann an mich herangelassen. Greg, du hast nicht nur die Macht, an mich heranzukommen, sondern auch, mich zu zerstören, wenn du wieder gehst.“
„Ich kann dir keine Versprechen geben, meine Schöne. Ich kann nur hier sitzen und dir erzählen, dass ich es wert bin, dass du deine Schutzwälle senkst. Aber ich muss dir auch sagen, wenn meine Gefühle für dich weiter so wachsen, dann ist keine Armee stark genug, mich von dir wegzubekommen. Ich habe mir zu lange jemanden gewünscht, der es wert ist, und so verrückt es auch klingt – es reichte ein Blick, Baby, nur ein einziger Blick und selbst die Tatsache, dass ich mit Nates Kotze bedeckt war, konnte deine strahlende Schönheit nicht trüben, die mich umgehauen hat.“
Sie lacht leise, sieht mich aber immer noch besorgt an, als könnte ich bei ihrem nächsten Atemzug verschwinden. „Ich will es auch. Im Moment ist nur so viel los. Wir beide und alles, was um uns herum außer Kontrolle gerät. Ich weiß nicht, wie ich loslassen soll.“
„Lass mich an dich ran“, wiederhole ich.
„Ich … ich weiß nicht, wie.“
Es ist, als ob ich ein gefangenes Tier beobachte, das zu entkommen versucht. Ich sehe, dass sie es will, dass sie mir unbedingt vertrauen will, aber nicht weiß, wie.
„Du musst nicht die ganze Zeit stark sein. Lass mich dir helfen, meine Schöne. Lass mich dein Fels in der Brandung sein. Lass mich für dich kämpfen. Um Himmels willen, lass mich der sein, den du brauchst.“
Bei jedem meiner Worte werden ihre Augen größer. Zur Hölle, ich weiß nicht einmal, wo das alles aus mir herkam, aber ich will, dass sie mich versteht. Sie muss mit mir auf einer Wellenlänge sein, bevor ich
mich an jemanden verliere, der mich nicht will.
„Meine Mom hat das Sorgerecht für Cohen, Fias Sohn, aber nur, weil ich so viele Stunden arbeiten muss, dass ich ihn nicht nehmen kann. Ich verbringe so viel Zeit wie möglich mit ihm, aber es ist trotzdem nicht genug. Mom ist alt, schafft es aber noch. Sie arbeitet nicht, weil … na ja, sie ist alt. Und dass sie klarkommt, heißt nicht, dass sie dabei keine Schwierigkeiten hat. Ich komme mit meinem Gehalt für alles auf, weswegen ich in einem Rattenloch von Apartment mitten im Ghetto wohne. Es geht alles für Cohen und sein Wohlbefinden drauf. Glaub nicht
, dass ich mich beschweren will. Ich würde alles für dieses Kind tun.“ Sie hält inne, sieht mir ein paar Sekunden in die Augen und dann auf meine Hand, die auf ihrem Bein ruht. Ich drücke ihren Schenkel leicht und sie fährt fort. „Simon, Fias Ex, war ein richtiger Mistkerl. Ich habe dir ja schon von ihm erzählt, und obwohl er tot ist, fühlt es sich so an, als würde er meine Familie immer noch schikanieren. Seine Mom, Susan, versucht seit einem Jahr, uns Cohen wegzunehmen. Sie hat es auf legalem Weg probiert, aber kein Richter auf der ganzen Welt würde ihr das Sorgerecht oder auch nur Besuchsrecht geben. Sie gehört zur schlimmsten Sorte Mensch.“
Ich bin gut über Susan Wagner informiert. Aber das sage ich ihr im Moment nicht. Sie lässt mich gerade an sich heran, senkt ihre Schutzwälle und fängt an, mir zu vertrauen. Das will ich mir auf keinen Fall kaputt machen.
„Wie auch immer. Sie hat ein Drama aufgeführt. Angerufen, Briefe geschickt, vor der Tür gestanden. Sie ist zwar harmlos, aber nervig, und erschreckt Cohen. Damit habe ich seit Sonntag zu tun. Ich habe versucht, meine Mom zu beruhigen und Cohen aus der Sache rauszuhalten.“
„Glaubst du, dass sie Ärger machen wird?“, frage ich.
„Nein. Ich meine, im Moment schon. Aber vielleicht vermisst sie nur ihren Sohn, oder eher die Vorstellung von ihrem Sohn. Sie will Cohen nicht. Sie will nur nicht, dass wir
ihn haben.“
„Klingt logisch, Baby. Aber mir gefällt nicht, dass du dich dem allein stellst.“
„Ich bin nicht allein“, sagt sie, und ein kleines Lächeln spielt um
ihre Lippen.
„Nein, meine Schöne. Das bist du definitiv nicht.“
Wir haben einfach nur eine Weile schweigend dagesessen und uns angesehen, als sie die Stille unterbricht. „Erzähl mir von Grace.“
„Versuchst du, das Thema zu wechseln?“ Ich lache, bin aber glücklich, dass sie offenbar mehr von mir wissen will.
„Ich will dich einfach kennenlernen, alles von dir, sogar das Tier, in das du dich bei mir manchmal verwandelst.“ Sie lächelt und legt den Kopf auf meine Schulter.
„Grace war erstaunlich. Wir waren die besten Freunde und klebten unser ganzes Leben aneinander. Sie hat es nicht gut aufgenommen, als ich mich verpflichtet habe, aber sie wusste, dass es das war, was ich wollte. Unser Dad hat Karriere bei den Marines gemacht und noch bevor ich laufen konnte, wusste ich, dass ich das auch wollte. Er war der mutigste Mann, den wir kannten, bis wir ihn verloren. Sie wusste, was es bedeutete, seine Erinnerung am Leben zu halten. Wir redeten, so oft es ging, aber es war trotzdem nicht genug. Ich lernte ihren Freund kennen, als ich mal Urlaub hatte, und mochte den Bastard nicht. Ich habe es ihr gesagt, aber sie war in ihn verliebt, also konnte ich nichts machen. Das war das einzige Mal, dass wir nicht einer Meinung waren. Kurz nachdem ich wieder weg war, heiratete sie ihn. Sie war zwanzig Jahre alt und bereit, ihm um die Welt zu folgen, wenn er es wollte.“ Ich atme tief durch und erinnere mich an ihr schönes Lächeln und ihre violetten Augen. „Du hättest sie gemocht. Sie war Dee sehr ähnlich, immer fröhlich. Du weißt, wie ich den Anruf bekam. Ich muss wohl nicht sagen, dass ich es nicht gut verkraftet habe. Ich bin an die Decke gegangen. Sobald es möglich war, stieg ich bei den Marines aus, ließ den einzigen Traum, den ich je hatte, hinter mir und verschwand. Axel und die Jungs, ja nicht mal meine eigene Mutter, wussten zwei Jahre lang nicht, wo ich war. Ich habe einen Typen getroffen, der mir half, mit meinem Scheiß klarzukommen. Ich kehrte nach Hause zurück und baute mein eigenes Geschäft auf. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.“
„Wird es besser? Deine andere Hälfte verloren zu haben?“, fragt sie.
Ich weiß, was sie meint. Grace war der andere Teil meiner Seele
und ich denke, ihr ging es mit ihrer Schwester genauso.
„Ja, Baby, es wird besser. Es ist nie einfach, aber es wird besser.“
„Das ist gut. Ich will diesen Schmerz nicht mehr“, flüstert sie.
„Wenn ich da bin, tue ich mein Bestes, damit er verschwindet.“ Sie hebt den Kopf von meiner Schulter, rutscht ein bisschen herum, legt die Hände um mein Gesicht und lehnt ihre Stirn an meine.
„Du bist ein guter Mann, Greg Cage. Gib mir etwas Zeit, und es könnte sein, dass ich mich in dich verliebe.“
„Das ist der Plan, Schöne“, flüstere ich und küsse sie. Ich hoffe, ich übermittele ihr die Botschaft, dass ich ihre Liebe wert sein will.