Kapitel 6

Molly

Sobald ich in den Flur trete, bin ich umringt von lauter Leuten, die ich noch nie gesehen habe, und ich spüre, wie mir die Hände feucht werden.

Der Fluchtreflex ist stark, doch ich ermahne mich, mich an den Plan zu halten. Getränk holen. So tun, als gehörte ich dazu.

Cora finden. Dann … hoffen, dass sie auch allein ist und auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht zum Reden. War ja erst ein Tag. Da kann sie ja noch nicht so viele Leute kennengelernt haben, oder?

Ich halte Ausschau, während ich mich durch die Menge quetsche und mir merke, wo das Bad ist, falls ich eine Auszeit brauche. Ich finde den Weg in die Küche und schnappe mir einen roten Einwegbecher vom Stapel. Ich halte ihn gegen den Eisspender am Kühlschrank, mustere die Getränkeauswahl – ein Bierfässchen, ein halb leerer Sixpack Mike’s Hard, drei Riesentetrapaks Sangria und ein paar Coladosen – und merke deshalb erst verzögert, dass da gar kein Eis rauskommt.

»Der ist im Arsch«, sagt ein großer verschwitzter Junge, der neben mir aufgetaucht ist und einen Becher mit einer braunen Flüssigkeit hält, die keine Cola sein dürfte. »Hier. Du musst …« Mit der freien Hand reißt er den Kühlschrank auf und ich springe aus dem Weg, als er ein echtes Beil herauszieht. Entgeistert sehe ich zu, wie er aufs Eis einhackt und meinen nicht rechtzeitig weggezogenen Arm mit seinem Becherinhalt vollschwappt.

Jupp. Definitiv keine Cola.

»Äh, danke«, sage ich, als er mir mit bloßen Händen einen Eisbrocken aufhebt und in meinen Becher versenkt. Er grunzt, schleudert das Beil wieder ins Innere des Kühlschranks und stapft davon, als wäre nichts geschehen. Ich gehe hinüber zur »Bar« und schenke mir eine Dose Cola ein. Muss ja keiner wissen, dass sonst nichts drin ist. Vermutlich nicht der günstigste Moment für meinen ersten Alkoholkonsum.

Ich verlasse die Küche durch eine andere Tür und komme in das Esszimmer, wo ein Plastiktisch für Beerpong aufgestellt ist. Es hieß immer, Cora sei ein Genie im Beerpong, also scheint mir das der beste Ort, um nach ihr Ausschau zu halten und mich unter die Leute zu mischen. Ich finde einen freien Platz an der Wand und gebe vor, fasziniert von den vier Typen zu sein, die ein paar Bälle hin und her in die Becher werfen. Dabei tut der Anblick richtig weh, weil sie sie ja für das verwenden könnten, wofür sie eigentlich gemacht sind. Das schönste aller Spiele.

Ich werfe einen Blick auf den Jungen neben mir. Das Gesicht kenne ich doch.

»Hi«, sage ich und sehe in Jason Shobers blaue Augen. Seltsam, dass ich noch nie ein Wort mit ihm gewechselt habe, aber hier, so weit weg von zu Hause, allein unter Fremden, hat seine Anwesenheit etwas Beruhigendes.

»Hi. Ich bin Jason«, stellt er sich vor, als hätte ich nicht in der Schule vier Jahre vor ihm gesessen.

Mir liegt ein »Ich weiß« auf der Zunge, aber ich schlucke es hinunter. »Molly«, sage ich stattdessen und es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

Doch es kommt schlimmer.

Gerade als ich meinen Kopf zurück zum Spiel drehen will, fliegt etwas Weißes direkt auf mich zu.

Ich könnte mich ducken.

Ich könnte die Hand hochhalten und es abfangen.

Aber ich tue nichts davon. Fünfzehn Augenpaare verfolgen, wie der Tischtennisball von meiner Stirn abprallt und in meine Cola plumpst.

»Sorry!«, ruft ein Typ vom Tisch.

Mein Gesicht wird sofort knallheiß und ich weiß, dass es röter sein muss als der Becher in meiner Hand. Das Zimmer bricht in Jubel und Klatschen aus, als sich ein Junge in aufgeknöpftem Hemd meinen Becher schnappt, ihn in einem Zug leert und dann den Ball auf den Boden spuckt, knapp vorbei an meinen Perlensandalen.

»Was, nur Cola?« Er sieht mich an und verzieht das Gesicht, und ich schalte in den Panikmodus.

»Was? Nein, das ist …« Er rülpst und reicht mir den Becher zurück, bevor mir etwas einfällt. Ich kann weder ihn noch sonst jemanden anschauen, sondern verschwinde schnurstracks im Bad, das ich vorhin entdeckt habe.

Ich mache die Tür zu und schließe ab.

»Molly, was zum Henker …« Ich fahre mir durchs Haar und lasse mich mit den Ellbogen auf den Waschbeckenrand sinken. Wär ich nur zu Hause geblieben.

Ich bin an einem neuen Ort, umgeben von neuen Leuten, doch die Wahrheit ist … ich selbst bin die Alte. Ich hab mir in die Tasche gelogen, mir vorgemacht, ich könnte eine andere sein. Aber es ist überdeutlich, dass, egal was um mich herum geschieht, ich immer die gleiche Molly Parker sein werde. Ohne Freunde. Ohne Leben. Es ist völlig absurd zu glauben, dass Cora je mit mir sprechen wird, geschweige denn mit mir ausgeht .

Ich hebe das Kinn, um mich im Spiegel zu mustern, und entdecke voller Entsetzen, dass mein Eyeliner und der Mascara völlig verschmiert sind. Scheiße. Ich schminke mich so selten, dass ich die Grundregel über das Gesichtanfassen vergessen habe. Die, die besagt: Lass es.

Ein Blick nach unten und schon wühle ich mich ohne größere Gewissensbisse durch die Schubladen. Normalerweise würde ich so was nie tun, nie, aber jetzt ist nicht die Zeit, sich um die Privatsphäre anderer Leute Gedanken zu machen. Ich habe hier einen Notfall mitten im Gesicht. Bingo. In der untersten Schublade liegt ein kleines Schminktäschchen. Danke, Kristen.

Ich wasche mir das Gesicht und schrubbe mit der Seife, bis die schwarzen Schmierer weg sind. Ich tusche mir die Wimpern neu, pfeife aber auf den Eyeliner, weil ich schon beim ersten Mal fast eine halbe Stunde gebraucht habe, um einen sauberen Strich hinzukriegen.

Prüfend blicke ich in den Spiegel. Meine Haut wirkt ein bisschen fleckig nach all dem Geschrubbe. Also klappe ich Kristens Puder auf und bestäube mir mein ganzes Gesicht.

Oh Gott.

Mein Spiegelbild macht große Augen, denn jetzt wird klar, dass Kristen ungefähr zwei, drei … eine Million Hauttöne heller ist als ich. Ich rücke näher an den Spiegel und erschaudere. Wie frisch aus Die Geisha , nur dass ich eben zur Hälfte Koreanerin bin und nur ein Viertel so attraktiv.

Rasch wasche ich mir das ganze Make-up wieder runter und lasse mich frustriert auf den Toilettendeckel fallen, versenke das Gesicht in den Händen.

Vielleicht will das Universum mir was sagen.

Vielleicht sind manche Leute einfach zum Alleinsein bestimmt.

Ich ziehe mein Handy raus, um den einzigen Menschen anzurufen, mit dem ich jetzt gerade sprechen möchte.

»Hey, Baby«, sagt meine Mutter, während ich die Augen schließe. »Wie geht’s dir? Wie ist das Wohnheim? Was treibst du so?«

»Hey, Mom. Mir geht’s gut. Ich bin nur …« Ich lache, blicke mich um. »Ich bin grad auf einer Party und verstecke mich auf der Toilette.«

»Wovor versteckst du dich?«, fragt sie.

»Cora ist da«, erkläre ich. »Ich glaub aber, ich krieg das nicht hin. Ich kann nicht mit ihr reden. Ich hab noch nicht mal in einem Raum bleiben können, ohne dass … Argh!«

»Molly …«

»Ich will hier nicht mehr sein«, flüstere ich ins Handy und wünsche mir, ich wäre bei ihr, zu Hause. Ich hätte ihr nie sagen sollen, dass ich Abstand brauche. Nicht, wo sie doch der einzige Mensch ist, den ich je zum Reden haben werde.

»Jetzt hör mir zu«, sagt sie. »Du sprichst schon so lange über dieses Mädchen. Jetzt ist es genau auf der anderen Seite der Tür. Das ist die perfekte Gelegenheit.«

»Sie wird mich nicht mögen.«

»Tja, du musst ihr erst mal überhaupt eine Chance geben, Schätzchen«, sagt sie. Mir fällt wieder ein, was Noah gesagt hat. Schwer, mich dagegen zu verwehren, wo ich mich gerade in einem Badezimmer eingeschlossen habe. Das ist geradezu die Definition von sich abkapseln. Vielleicht haben die beiden recht. Außerdem war Cora ja noch nicht mal im Zimmer, als das da draußen passiert ist. Mit ihr könnte ich völlig neu anfangen. Es ist nicht zu spät.

»Stimmt, Mom. Ich ruf dich später an. Ich muss los.«

»Denk dran, nicht trinken, wenn du fährst!«, brüllt sie noch, bevor ich auflege. Herrgott noch mal. Noah wird sich total aufregen, wenn ich ihm sage, dass sie praktisch zu einer Person verschmolzen sind.

Ich stecke mein Handy ein, erhebe mich von der Toilette und gehe in dem winzigen Raum umher, um mir einen neuen Plan auszudenken.

Ich werde sie suchen und statt ihr einfach wie zufällig zu begegnen, werde ich zu ihr gehen und Hallo sagen. Ich werde mich mit ihr über die Seminare unterhalten, die sie besucht, und fragen, ob sie sich für einen Schreibkurs eingetragen hat, wie den, den wir letztes Jahr zusammen in Oak Park belegt hatten. Die Antwort weiß ich schon, weil ich ihren Stundenplan gesehen habe, den sie irgendwann im Sommer gepostet hat. Sie wird Ja sagen und dann kann ich ihr erzählen, dass ich ganz oben auf der Warteliste stehe für Einführung in die Literatur. Das ist das perfekte Gesprächsthema, weil es uns beide interessiert.

Das war’s. Und dann schau ich mal, was passiert.

Gerade will ich einen neuen Schminkversuch starten, als mich ein lautes Bollern an der Tür fast zu Tode erschreckt und der Mascara mir aus der Hand unter den Schrank kullert.

»Gleich!«, rufe ich, bücke mich, angle nach der Tusche und fahre dann wieder hoch zum Spiegel, aus dem mir mein vertrautes Gesicht entgegenblickt.

Eigentlich fühlt es sich ungeschminkt viel besser an. Wenigstens nach mir selbst.

Wieder wummert es an der Tür.

Ich werfe alles zurück in die Tasche, stopfe sie wieder in die Schublade und schließe auf. Kaum bin ich draußen, stürmt ein Junge an mir vorbei und knallt die Tür hinter sich zu. Mit pochendem Herzen wische ich mir die Handflächen an den olivgrünen Shorts ab und kehre in die Küche zurück, um mir noch eine Cola einzuschenken. Mit dem Becher in der Hand mache ich einen großen Bogen um den Pongtisch und trete hinaus ins Treppenhaus.

Auf den Stufen sitzen ein paar Leute herum, ich vermute also, dass auch das nächste Stockwerk bespielt wird. Vielleicht ist sie ja dort. Ich gehe hinauf, drücke mich an einem knutschenden Paar vorbei, das sich den unpraktischsten Ort im ganzen Haus dafür ausgesucht hat.

Durch den Flur dringt Lachen und so steure ich das letzte Zimmer rechts an und spähe hinein. Ein paar Leute sitzen in Grüppchen herum, einige auf dem Bett, andere beim Fenster und …

Mir stockt der Atem, als ich sie auf dem Boden entdecke, in der coolsten Hose, die ich je gesehen habe.

Sie sieht genauso aus wie in meiner Erinnerung. Kurze Haare, Nasenring und ein Lächeln, bei dem ich mich wie auf Wolken fühle.

Sie sieht perfekt aus.

Plötzlich ist mir, als müsste ich mich übergeben, und hastig ziehe ich mich in den Flur zurück, wo ich mich gegen die Wand drücke und tief durchatme. Ich rufe mir meinen Plan in Erinnerung, die Gesprächsthemen.

Gib ihr eine Chance, dich zu mögen.

Noch ein großer Schluck Cola und dann schlendere ich ins Zimmer, gehe … genau an ihr vorbei zu einer orangefarbenen, mit Büchern bepackten Pappkiste am Boden. Denn natürlich ist sie wie immer von einer Menge Leute umgeben und meine Gesprächsthemen sind ungeeignet für Publikum oder eine Gruppe, in die ich mich hineindrängen müsste.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie laut auflacht und den Arm eines großen blonden Mädchens drückt, das … also … viel, viel besser aussieht als ich. Es ist mein glattes Gegenteil, von Kopf bis Fuß in Schwarz und mit Ringen an fast jedem Finger. Es scheint sich auch kein bisschen schwer damit zu tun, sich mit Cora zu unterhalten.

Äußerst ermutigend.

Doch da schnappt sich das Mädchen sein Getränk vom Boden und lehnt sich zurück gegen die Kommode, außerhalb von Coras Reichweite, als wolle es nicht angefasst werden. Aber wer will bitte nicht von Cora Myers angefasst werden?

Dieser Gedanke beschäftigt mich so sehr, dass ich vergesse den Blick abzuwenden. Cora muss es spüren, denn sie sieht so schnell zu mir hoch, dass ich nicht rechtzeitig weggucken kann. Heiße Panik steigt mir den Rücken hinauf und ich versuche mich auf die Bücher zu meinen Füßen zu konzentrieren.

»Hey, warst du nicht auch auf der Oak Park?«, höre ich sie fragen, drehe mich aber nicht um. Sie könnte mit jedem hier sprechen. Hier sind so viele Leute aus unserer Schule, Chris zum Beispiel.

»Molly, bist du das?«, fragt sie und tja, jetzt hab ich keine Ausrede mehr.

Aber gleichzeitig geht mir auf, was das bedeutet. SIE KENNT MEINEN NAMEN . Cora Myers kennt meinen Namen.

Und das gibt mir das Selbstvertrauen, mich langsam, ganz langsam umzudrehen. Sie starrt mich direkt an. Ich mache den Mund auf, aber weder eines meiner sorgfältig geplanten Gesprächsthemen noch sonst ein Konversationseröffner kommt mir über die Lippen, weil ich hier gerade völlig auf dem braunen Zottelteppich eingehe.

»Molly, oder?«, fragt sie und schlägt die Hände vors Gesicht, als ich ihr die Antwort schuldig bleibe. »Herrje, bitte sag jetzt nicht, dass das nicht stimmt. Tut mir so leid!«, entschuldigt sie sich und mir springt fast das Herz aus der Brust.

Mund auf, Molly. SAG WAS !

»Äh, nein.« Ich räuspere mich. »Sorry, ja, ich bin Molly, genau.« Wie blöd kann man sich eigentlich anstellen?

Sie lächelt mich erleichtert an und ihre grünbraunen Augen erstrahlen im Licht der Lampe über ihr. Gott, sie sieht so gut aus. »Du warst das mit dieser Geschichte im Schreibkurs, oder? Über die zwei Mädchen, die weglaufen?«

»Ja. Ich …« Sie – erinnert – sich – an – meine – Geschichte. »Ja, das war meine«, bestätige ich und versuche nach Kräften die Ohnmacht zurückzudrängen, die am Rande meines Gesichtsfelds prickelt. »Gehst du hier auch in ein Schreibseminar?«, frage ich und umklammere meinen Pappbecher so fest, wie es geht, ohne ihn zu zerdrücken.

»Ja, ich hab gedacht, ich mach weiter«, sagt sie und weist dann auf ihre Freundinnen, die mit ihr auf dem Boden sitzen. »Hey, wir wollten grade was spielen. Machst du mit?«

»Okay.« Der Gedanke, hier meine Brettspieltalente zeigen zu können, macht mich gleich selbstsicherer, denn die hab ich in Hunderten von Familienabenden zur Perfektion gebracht. Einmal tief Luft holen und ich sitze im Schneidersitz neben Cora.

Was passiert hier?

»Das ist Abby Williams, meine Mitbewohnerin.« Sie weist auf ein Mädchen mit schwarzen Locken und Brille, das mir zulächelt und winkt. »Und das ist Alex …« Sie dehnt die letzte Silbe und neigt sich zu dem blonden Mädchen bei der Kommode.

»Blackwood«, ergänzt das Mädchen.

Cora runzelt die Augenbrauen und lacht, warm und samtig. »Du heißt … Alex … Blackwood?«, fragt sie beeindruckt. »Himmel, geht’s noch cooler?«

»So cool bin ich jetzt auch wieder nicht«, sagt Alex mit einem wenig überzeugenden Grinsen und nimmt einen Schluck aus einer Flasche Mike’s Hard. Ich tue mich schwer nicht die Augen zu verdrehen.

Ich warte darauf, dass jemand Monopoly auspackt, doch stattdessen plaudern alle nur weiter und nippen an ihren Getränken. Ich gebe mir solche Mühe, etwas zum Gespräch beizutragen, eins meiner Themen anzuschneiden, doch jedes Mal, wenn ich den perfekten Einwurf zusammenhabe, sind sie schon zu einem ganz anderen Thema übergegangen.

Endlich erzählt uns Abby, dass sie und Cora eigentlich ins Sutherland-Wohnheim hätten ziehen sollen und nicht ins Nordenberg. Die perfekte Vorlage, um zu berichten, dass ich in einem Einzelzimmer gelandet bin, was mir hoffentlich eine Einladung einbringen wird, wieder mal was mit ihnen zu machen, doch gerade als ich den Mund öffne, wechselt Alex schon wieder das Thema.

Also sitze ich einfach da und lächle standhaft vor mich hin und nicke und lache, wenn die anderen lachen.

Doch trotz alldem – hier bin ich. Ich sitze auf einer Party und unterhalte mich mit Cora Myers … oder höre zumindest zu, wie sie sich unterhält.

»Echt, das sind jetzt zwanzig Minuten, seit wir Rosie auf die Suche nach den Karten geschickt haben, die ist bestimmt am Beerpong-Tisch hängen geblieben. Was könnten wir sonst noch spielen?«, fragt Abby. Jetzt kann ich mich endlich einbringen und ein Spiel vorschlagen, aber dann …

»›Ich hab noch nie‹?«, schlägt Alex vor. Ach. Eins von diesen Spielen. Na klar schlägt sie was vor, bei dem sie mit all den »coolen« Sachen protzen kann, die sie schon getan hat.

»Glaubst du, du kannst mich besiegen?«, fragt Cora in einem Ton, bei dem es mich vor Eifersucht schüttelt. Wer ist dieses Mädchen, bitte?

Alex zuckt mit den Schultern. »Finden wir’s raus.« Sie hält die Hand hoch, alle fünf Finger sind ausgestreckt.

Wir anderen machen mit, doch meine Gedanken sind weit weg. Ich bin so abgelenkt von Coras Bein, das auf dem Teppich ganz nah neben meinem liegt, und von der Hoffnung, dass sie mich einmal so anschaut, wie sie Alex anschaut.

Als ich zum ersten Mal drankomme, zermartere ich mir das Hirn nach etwas, das nicht unendlich langweilig, aber gleichzeitig auch nicht zu peinlich ist, wie … also, im Grunde alles, was irgendwie mit Sex, Drogen oder Alkohol zu tun hat, denn (ÜBERRASCHUNG !) Molly Parkers Erfahrungen sind … äußerst beschränkt. Und nach dem, was ich aus den ersten Runden erfahre, trifft das auf die anderen nicht zu. Denn es sind schon mehr als ein paar Finger unten, nur meine sind alle noch in der Luft.

»Ähm. Ich hab noch nie … eine Zigarette geraucht«, sage ich, weil ja jeder weiß, dass Zigaretten widerwärtige krebserregende Todesstängel sind. Völlig uncool. Versteht sich von selbst, dass Alex gleich einen Finger fallen lässt, doch sie ist wenigstens die Einzige. Endlich ein Punkt für mich.

Andere gesellen sich zu uns und die Runden werden länger, je größer der Kreis wird. Aber mir ist klar, dass das nicht am Spiel liegt. Genau wie in der Schule zeigt Coras magnetische Anziehungskraft ihre Wirkung, ohne dass die es überhaupt bemerkt.

Mit späterer Stunde werden die Leute mutiger in ihren Behauptungen und noch immer senken sich Finger und ich sitze wie auf Kohlen, denn je unerhörter die Aussagen, desto wahrscheinlicher mein Sieg, und jeder weiß, dass in diesem Spiel der Sieg eine Niederlage ist.

Wie es scheint, bin ich ziemlich gut, denn ich »gewinne« gleich dreimal hintereinander. Aber hier ist das was anderes. Aus naheliegenden Gründen bin ich in der Oberstufe nie auf Partys gewesen, aber ich habe so ein Gefühl, dass die auch ganz anders gelaufen wären als hier. Viel Getuschel und biestige Kommentare. Hier scheint sich niemand drum zu scheren, was ich alles nicht gemacht habe, obwohl ich Alex’ Augen auf mir spüre, als sie noch einen Schluck ihrer Alkohol-Limonade nimmt.

»Ich bin noch nie auf einem Motorrad gesessen«, sagt ein Typ mit Rauschebart und Baseballcap von den Pittsburgh Pirates, als die nächste Runde halb durch ist. Endlich! Endlich kann ich einen Finger einklappen. Ich nehme einen Schluck und Cora und ich lächeln einander an.

»Du schon?«, fragt sie und stupst mich mit der Schulter an.

»Ja.« Ich nicke, meine Wangen werden heiß. »Mein Onkel restauriert alte Harleys.« Sie sieht mich wieder an, vage beeindruckt.

Gut gelaufen!

Dann ist Alex dran und sie sieht mir voll ins Gesicht. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie unglaublich grün ihre Augen sind. Sie grinst mich spöttisch an.

»Molly, wie alt bist du?«, fragt sie.

»Achtzehn«, sage ich und Angstschweiß läuft mir über den Rücken. Oje.

»Ich hab noch nie mit achtzehn noch nie Sex gehabt«, verkündet Alex. Ich schnappe nach Luft und staune sie an, weil ich einfach nicht fassen kann, was sie da eben gesagt hat. Ihre Stirn ist auf ihrem Knie, ihre Schultern beben.

Meine Reaktion war zu offensichtlich, als dass ich noch lügen könnte. Mir würde das ohnehin niemand abkaufen. Ich klappe den Finger ein, aber diesmal fühlt es sich kein bisschen an wie ein Triumph. Ich hebe meinen Becher und trinke einen Schluck, und dann blicke ich über den Kreis hinweg zu Alex, die ihren Kopf hebt und feixt.

Mir verschwimmt alles vor Augen und ich nehme noch einen Schluck, um es zu verbergen.

Nicht weinen. Heul jetzt bloß nicht los, Molly Parker.

Ich versuche den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken und zwinge mich mit den anderen mitzulachen. Jede einzelne Person in diesem Kreis lacht über mich.

Alle, bis auf eine.

Cora wirft Alex einen Mörderblick zu. »Das war nicht lustig«, sagt sie und schlägt Alex auf die Schulter, bestätigt damit alles, was ich über Cora zu wissen glaube. Sie ist eine Gute.

»Die fanden es aber alle ziemlich lustig.« Alex weist mit der Flasche auf den Kreis. »Du bist dran, Boss«, sagt sie zu ihr.

»Ich hab noch nie illegal Alkohol für Fremde gekauft«, sagt Cora und sieht herausfordernd zu Alex, die lacht und stößt ihre Flasche gegen Coras, obwohl sie sie ihr gar nicht hingehalten hat. Dann ext sie den Rest ihrer harten Limo, um das Ende des Spiels zu signalisieren.

»Ich brauch Nachschub«, sagt Abby.

»Ich auch.« Alex springt auf die Füße und mein Herz macht einen Satz. Endlich . Aber dann windet Cora ihren Finger in die Schlaufen von Alex’ hohen Converse und ihr Ärger scheint vergessen.

»Bringst du mir auch noch was mit, biiitte?«, fragt sie und wedelt mit ihrer leeren Flasche. »Ich glaub, ich bin betrunken genug, um mich an Kristens Sangria zu wagen.«

Alex zögert, nimmt dann aber die Flasche und schaut zu mir hinunter. »Molly? Du auch was?«

Wow, wie reizend von dir.

Ich schüttle den Kopf. »Nein, alles gut.« Ich atme tief durch, weil meine Augen endlich trocknen. Zum Glück.

Kaum sind sie aus dem Zimmer, rückt Cora herum, bis sie mir gegenübersitzt, und ihre leuchtenden Streifenhosen schleifen dabei über den Teppich.

»Hey, dir ist klar, dass sie einfach nur einen Witz gemacht hat, oder? Du musst dich nicht genieren.« Sie legt mir die Hand auf die Schulter. Cora Myers sorgt sich um mich.

»Ich genier mich nicht.« Ich schüttle den Kopf, ringe mir ein möglichst authentisches Lachen ab. »Das war verdammt komisch.« Ich spüre meine Haut heiß unter ihrer Hand. Genau das habe ich mir schon so lange gewünscht, aber nicht so. Nicht als Jammerlappen, den sie trösten muss. Ich schaue auf mein Handy, hoffe, dass meine Wangen nicht so rot sind, wie sie sich anfühlen. »Ich sollte langsam mal zurück in mein Wohnheim.«

»Ach komm, bitte bleib, wirklich!«, sagt sie und das treibt mir wieder die Tränen in die Augen, allerdings aus einem ganz anderen Grund.

»Vielleicht können wir, wenn sie wiederkommen, dieses Kartenspiel auftreiben und stattdessen Kings spielen.«

Sie will, dass ich bleibe.

»Okay. Das wäre wahrscheinlich deutlich lustiger, als Alex die ganze Nacht beim Verlieren zuzuschauen«, entgegne ich und ihr aufrichtiges Lachen bringt mich innerlich zum Schmelzen.

Ich mache es mir wieder neben ihr gemütlich, während sie sich die Ponyfransen auf entzückende Weise aus den Augen schiebt.

Wenn sie nur wüsste, dass ich die ganze Nacht hierbliebe, wenn sie das wollte.