Kapitel 11

Alex

Ich steige aus dem Bus und bemerke, dass ich … offiziell die gruseligste Ecke von ganz Pittsburgh entdeckt habe.

Eine gigantische, halb verfallene Lagerhalle ragt vor mir auf, mit so viel Rost und eingeschlagenen Fenstern, dass eins schon mal sicher ist: Wer hier was einlagert, kann sein Zeug vergessen.

Sie sieht verlassen aus.

Knäuel aus alten Plastikflaschen und Schokoriegelverpackungen fegen über den leeren Parkplatz, Graffiti prangen auf den Garagentoren und parallel zum Gebäude führen stillgelegte Eisenbahnschienen ins Nichts, überwuchert von Gras und Gebüsch.

Ist sie wirklich verlassen?

Ich prüfe noch mal die Adresse, die Jim, der Foodtruck-Besitzer, mir erst heute Morgen geschickt hat, und gleiche sie mit dem Gebäude vor mir ab.

Überraschenderweise stimmt sie.

Falls ich hier zu Tode komme, gehören die ganzen sechsundzwanzig Dollar auf meinem Konto meiner Mutter. Was vermutlich bedeutet, dass sie dann eher Lydias Spirituosenladen gehören, direkt hinter der Tankstelle zwei Straßen weiter von unserem Haus.

Überraschenderweise ist es genau dieser Gedanke, der mir jetzt Auftrieb gibt.

Wird schon schiefgehen.

Ich werfe den leeren Becher des überteuerten Kaffees in einen Mülleimer, der in den nächsten tausend Jahren nicht geleert werden dürfte, und folge den Nummern am Gebäude bis zu Abschnitt 134 .

Wer hätte gedacht, dass es so kostspielig ist, ein guter Mensch zu sein?

Ich stoppe, als ich eine offen stehende Garagentür entdecke, und seufze erleichtert auf, als sich darin ein schwarzer Foodtruck befindet, auf dessen Seite JIMBISS steht. Daneben sitzt ein hünenhafter Typ mit einem schweißgetränkten roten Halstuch und einem fleckigen grauen T-Shirt.

Die Kochlegende persönlich, nehme ich an.

»Äh, Jim?«, sage ich, als er einen Karton voller Riesensandwiches in den Transporter wirft.

Er knallt die Hecktür zu und richtet sich auf, um sich die Hände an einem schmutzigen Tuch abzuwischen und mich zu mustern. »Alex?«, fragt er mit aus dem Mundwinkel baumelnder Zigarette.

Als ich nicke, verzieht er das Gesicht. »Du bist zu spät.«

»Ich musste noch einer Freundin helfen. Wird nicht mehr vorkommen, versprochen. Ich …«

»Du siehst nicht so aus, als wär das dein Job«, fällt Jim mir ins Wort und reibt sich misstrauisch das Stoppelkinn. »Das ist nichts für kleine Feenprinzesschen. Weißt schon, nicht einfach nur rumsitzen und hübsch aussehen.«

Ich verkneife mir die bissige Antwort und den Drang, die Zunge rauszustrecken, weil ich Mollys Ratschlag von vorhin noch im Kopf habe. »Gut, denn ich hab viel Erfahrung darin, nicht rumzusitzen. Tellerwaschen, Küchenarbeit, Kassieren. Was es auch zu tun gibt, ich hab’s schon gemacht«, sage ich, als er seinen Schlüssel von einem mit Ketchuptüten übersäten Tisch nimmt. Im Tilted Rabbit war ich so ziemlich die Frau für alle Fälle und bin im Laufe meiner drei Jahre dort überall eingesprungen, wo ich gebraucht wurde.

»Weiß nicht. Ist harte Arbeit«, sagt er. »Keine Klimaanlage, keine Heizung. Keine Pinkelpausen. Lange Schichten.«

Ich zucke mit den Schultern. »Toll. Klingt wie meine Kindheit.«

Er schnaubt und reißt die Fahrertür auf, erklimmt die Metallstufen.

Aber ich gebe hier nicht kampflos auf. Ich brauche diesen Job. Auf meine anderen Bewerbungen hat sich niemand gerührt.

»Außerdem, wenn Sie eh glauben, dass ich hübsch bin«, sage ich, als er auf seinen abgewetzten Fahrersitz rutscht, aus dem schon die gelbe Füllung quillt, »dann denken Sie doch an das ganze Trinkgeld, das ich reinbringe.«

Jim verdreht die Augen, ohne drauf anzuspringen, und ich wechsle sofort die Taktik.

»Was, wenn Sie’s einfach mal mit mir probieren? Was soll groß schiefgehen? Sie müssen ja heut Abend offensichtlich irgendwohin«, sage ich und mache einen Schritt auf den Truck zu. »Und wie’s scheint, müssen Sie dann beides alleine schmeißen, den Fensterverkauf und den Grill.«

Er seufzt und schnippt seine Kippe mit nachdenklicher Miene aus dem Fenster.

Ich mache weiter, weil ich weiß, dass ich diesmal den richtigen Ton getroffen habe.

»Wenn ich’s versiebe, dann müssen Sie mich nicht zahlen. Dann geh ich einfach und beschwer mich nicht. Kein Risiko für Sie.«

Er reibt sich die Stoppeln, mustert mich aus blutunterlaufenen blauen Augen.

Ich tue es ihm nach.

Wir starren einander eine ganze Weile an und keiner blinzelt.

»Steig ein.« Er nickt zum Klappsitz, der buchstäblich am seidenen Faden hängt. »Du hast einen Versuch. Fahr’s nicht an die Wand.«

Ich steige ein, klappe den knirschenden Sitz herunter und setze mich drauf. Ich blicke nach rechts und links, aber da ist nur die nackte Metallwand.

»Gibt’s einen …«

»Sicherheitsgurt?«, fragt er und schüttelt schnaubend den Kopf. »Ach was.«

Oh Gott.

Er dreht den Schlüssel in der Zündung und der Laster hat kaum Zeit zum Anspringen, da jagt er schon aus der Garage und legt sich so scharf nach rechts in die Kurve, dass die Brötchen überall umherfliegen und die Kühltruhe von Wand zu Wand rutscht.

Wenn ich vor dieser Fahrt nicht an Gott geglaubt habe, dann tue ich es verdammt noch mal jetzt, denn ohne ein Wunder komme ich hier bei lebendigem Leib nirgendwo an.

Die Fahrt dauert keine fünf Minuten, doch Jim schafft es trotzdem, zwei verschiedenen Fahrern mit seinem heraushängenden Zigarettenarm den Stinkefinger zu zeigen, weil sie ihn »ausbremsen«, als er seinen Truck über drei Spuren zieht.

Bald erreichen wir eine hiesige Brauerei, vor der unter Lichterketten lauter Picknicktische aufgestellt sind. Der warme Nachmittag hat ordentlich Besucher angelockt, die schon interessiert die Hälse nach uns recken.

Nachdem Jim die Fritteuse angeworfen hat, zeigt er mir, wie die Kasse funktioniert, und gibt mir einen schnellen Überblick über das äußerst überschaubare Angebot. Burger, Käsesteaks und drei Varianten von Pommes (ohne Käse, mit Käse und natürlich mit Speck-Käse). Dann sieht er mich ernst an.

»Jetzt pass gut auf. Jeder Kunde kriegt genau eine davon«, sagt er und tätschelt den Stapel brauner Papierservietten neben der Kasse. »Und die Gabeln gibt’s ausschließlich zu den Speck-Käse-Pommes. Wenn sonst wer nach einer Gabel fragt, gibt’s einfach keine.«

Ich werfe einen Blick auf den riesigen Behälter. Da müssen locker tausend Gabeln drin sein. »Warum nicht?«

Er hält eine hoch. »Jedes dieser Dinger kostet mich sieben Cent. Wenn ich jedem verdammten Kunden eine gebe, bin ich morgen pleite.«

Ich nicke, als wäre das total begreiflich, obwohl dieser Mann für einen Burger, einen Softdrink und Pommes fünfzehn Dollar verlangt.

Er saust an mir vorbei und beäugt die Fritteuse, nickt zufrieden und dann stößt er das Fenster auf und wir sind bereit für den Ansturm.

Zumindest hoffe ich das.

Anfangs wächst es mir ein bisschen über den Kopf. Die Warteschlange, die Kasse, der grummelnde, brutzelnde Jim hinter mir.

Aber bald machen sich meine drei Jahre im Tilted Rabbit bemerkbar und es läuft wie am Schnürchen mit uns. Bestellung aufnehmen, Quittung am Halter befestigen, servieren, sobald er es zubereitet hat.

Unendlich oft wiederholen.

Jim hat nicht übertrieben. Der Grill und die heiße Sonne verwandeln diese Metallkiste binnen Minuten in eine absolute Sauna und schon nach einer halben Stunde ist meine Stirn schweißnass.

Jim entpuppt sich – Überraschung! – als reichlich maulfaul, obwohl er vorhin im Lager so viel zu sagen hatte.

Überwiegend grunzt er oder flucht leise vor sich hin, wenn ein Kunde mit irgendeinem Zusatzwunsch ankommt.

Selbst nach ein paar Stunden, als die Hektik langsam nachlässt, bleibt er stumm. Also lasse ich meine Gedanken schweifen, blicke hinaus zu all den Leuten, die ihren Abend in der Brauerei genießen. Da hinten am Tisch sitzt ein Mädchen mit langem schwarzen Haar mit seinen Freunden, wirft den Kopf beim Lachen in den Nacken und erinnert mich dabei so sehr an Natalie, dass mir weh ums Herz wird.

Ich stoße einen langen Seufzer aus und lehne mich gegen den Tresen.

Ich frage mich, was Natalie wohl von Molly halten wird. Denn … unterschiedlicher können zwei Leute nicht sein. Wie sie durchs Leben gehen, wie sie sich anziehen, wie sie sich gebärden. Obwohl sie eine Sache ganz offensichtlich gemeinsam haben: Beide lassen sich von mir nichts bieten.

Molly vielleicht sogar noch weniger als Natalie. Und ganz ehrlich – heute hab ich sie schon ziemlich strapaziert.

Okay, ich geb’s zu – das mit dem »fünfstufigen Plan« hab ich mir vorhin beim Kaffee einfach spontan aus den Fingern gesaugt. Aber Molly schien einen zu brauchen und, also, so schwer kann’s jetzt nicht sein sich vier weitere Schritte auszudenken.

Schließlich hab ich’s selbst schon hundertmal gemacht. Ich muss es nur mal für mich aufdröseln und ein bisschen drüber nachdenken.

Besonders, wo mir jetzt aufgegangen ist, dass das, was bei mir klappt … vermutlich für Molly nicht genauso funktioniert.

Und genau darum geht’s. Dass es für Molly funktioniert.

Ich verziehe das Gesicht bei der Erinnerung daran, wie sie vorhin das Getränk dieses Mädchens verschüttet hat und an die Peinlichkeiten danach.

Ich habe es mir nicht anmerken lassen, aber nachdem das passiert war, war ich der Meinung, man könne das Ganze einfach vergessen. Oder sich jedenfalls auf viel, viel Arbeit gefasst machen.

Ich dachte, es würde reichen, es ihr einfach vorzuführen. So quasi … keine Ahnung. Sie ins kalte Wasser zu werfen oder so. Ihr das Werkzeug in die Hand zu geben und sie es in einer sicheren, vor Konsequenzen gefeiten Umgebung einsetzen zu lassen.

Aber da hatte ich die Rechnung ohne diesen Vanilla Latte gemacht. Oder, na ja … Molly selbst. In der Sekunde, in der das Getränk umkippte, war mir klar, dass ich danebengelangt hatte.

Ich hörte Natalie regelrecht sagen, ich hätte sie »über die Klinge springen lassen« und würde hier »nur Schaden anrichten«.

Aber dann … Mollys kleines Lächeln, nachdem sie es geschafft hatte. Der Schock in ihren braunen Augen, weil sie tatsächlich geglaubt hat, Dustin wäre nur am Lernen interessiert.

Darüber muss ich lächeln und ich schüttle den Kopf.

Darum geht’s. Darauf muss ich mich konzentrieren, wenn ich den »Plan« entwerfe.

Molly muss das an sich finden, was Cora lieben wird, und …

»Bestellung«, brüllt Jim und ich schalte wieder in den Arbeitsmodus, schnappe mir das rot-weiß gestreifte Papptablett und eine einzelne Serviette und reiche beides dem wartenden Kunden.

»Danke«, sage ich zu dem Verbindungsburschi mit dem falsch herum aufgesetzten Käppi und lächle ihm reizend zu, während er sich das Essen nimmt.

Er hält verlegen sein Tablett und zieht wie erhofft ein paar Dollar aus der Tasche, die er in die überquellende Trinkgeldbüchse stopft, von der ich hoffentlich wenigstens einen kleinen Teil abbekommen werde.

Als der Essenstrubel sich legt, schaut einer der Bartender am Fenster vorbei und Herr Sieben-Cent-Gabel überrascht mich, indem er ihm ein Gratis-Käsesteak reicht. »Wollt ihr noch was von drinnen? Bier? Cider? Dosen zum Mitnehmen?«

»Nee«, sagt er und ich schüttle ebenfalls den Kopf, obwohl ich, wenn ich mit Craft-Cider bei der nächsten Party aufkreuzen würde, es wohl zu ziemlichem Ruhm brächte. Der Bartender bedankt sich fürs Steak und kehrt zurück in die Brauerei.

»War doch ein nettes Angebot. Trinken Sie nicht beim Arbeiten?«, frage ich und er schnaubt.

»Zwanzig Jahre hab ich nichts anderes gemacht, als beim Arbeiten zu trinken«, sagt er und wendet einen der Burger. »Trockener Alkoholiker.«

So viel hat er die ganze Schicht noch nicht geredet, also ist das doch schon mal was.

Aber ich wende den Blick ab, weil mir ganz anders wird. Ich will Jim noch mehr darüber fragen. Weshalb er aufgehört hat, wie er es geschafft hat, aber da kommt eine Gruppe Leute zum Fenster und ich klebe mir ein Lächeln ins Gesicht, um ihre Bestellung aufzunehmen und hoffentlich etwas Trinkgeld abzustauben.

Als wir schließlich Feierabend machen, haben wir fast Mitternacht. Jim springt auf eine Rauchpause aus dem Truck. Während ich den Käse und das Gemüse einwickle und errate, wo sie wohl in den Kühlschrank kommen. Draußen nimmt er die Tafel mit der Speisekarte ab und schließt das Fenster so energisch, dass der Boden unter meinen Füßen wackelt. Er dreht ein paar Runden um den Truck, tritt die Zigarette im Kies aus und steigt wieder ein, um das Geld zu zählen. Ich halte den Atem an.

»Du kriegst zehn Ocken die Stunde«, sagt er und hält mir ein eingewickeltes Käsesteak und ein Geldbündel hin. »Und die Hälfte vom Trinkgeld.«

Vielleicht sollte ich das mit dem Trinkgeld noch verhandeln, da mein »hübsches Gesicht« ja ordentlich Bargeld eingebracht hat, aber mir ist klar, dass Jim nicht leicht zu knacken ist. Noch nicht mal von mir.

Also strecke ich die Hand aus und nehme es, spüre, wie die Erleichterung mich durchflutet. Ich habe den Job.

»Du kannst gehen.« Er weist aus dem Fenster zu einer Bushaltestelle an der Straße. »Ich hab deine Nummer. Morgen früh schick ich dir den Arbeitsplan.«

Ich eile zur hinteren Tür, bleibe dann aber stehen und grinse ihm zu. »Hab ich doch ganz gut gemacht, oder?«

Er schüttelt den Kopf und zieht mit einem Schmunzeln eine alte Bargeldtasche mit den heutigen Einnahmen zu. »Verzieh dich bloß, eh ich mich noch umentscheide.«

Muss er mir nicht zweimal sagen. Lachend springe ich hinaus und rufe ihm noch über die Schulter ein »Bis bald!« zu, bevor ich die Tür zumache.

Was für eine Erleichterung, in den klimatisierten Bus zu steigen, und noch eine größere, als ich wieder in meiner Wohnung bin und das Geld zähle, das ich heute Abend verdient habe.

Hundertvierundsechzig Dollar bar auf die Hand.

Ich teile es auf zwei Gläser auf, eins für mich und eins für meine Mutter. So habe ich es schon immer gemacht.

Aber diesmal zögere ich, bevor ich ihre Hälfte ins Glas fallen lasse, die Hand mit den Scheinen schwebt über der Öffnung. Jetzt bin ich so weit weg von ihr, in Pittsburgh, und ich mache es immer noch.

Zweiundachtzig Dollar.

Das sind all die gebrauchten Taschenbücher für meinen Literaturkurs. Das ist fast ein Viertel meiner Miete. Das ist jede Menge Essen, wenn man sich nicht gerade Mokkas von der Cafeteria in der Uni gönnt.

Und wahrscheinlich ihr Alkoholvorrat für eine Woche.

Aber ich kann nicht zulassen, dass sie wieder zu Tommy geht. Das kann ich nicht.

Mit einem tiefen Seufzer lasse ich das Geld ins Glas fallen, bevor ich auf meinem Bett zusammenbreche.

Ich bin völlig am Ende. Die Beine schmerzen vom stundenlangen Stehen auf dem Stahlboden des Trucks, die Hitze am Anfang der Schicht hat mich ausgelaugt.

Gerade fallen mir die Augen zu, als mein Handy sich lautstark auf der Decke neben mir meldet. Ein Snap von Natalie.

Natalie. Vor zwei Tagen habe ich aufgehört ihr zu schreiben, weil ich nie eine Antwort bekommen habe. Hab ich’s doch gewusst, dass sie sich endlich meldet, wenn ich ihr ein bisschen Luft lasse. Ich zwinge mir die Augen auf und greife nach dem Handy, tippe aufs Display, um die Nachricht zu öffnen.

Sie trägt immer noch mein verwaschenes Led-Zeppelin-T-Shirt, das lange Haar über einer Schulter. Mit einem schläfrigen Lächeln lese ich den Text darunter: Konzert in Texas heute war krass, scheint ein Glücksshirt zu sein.

Und es ist eine gute Nachricht. Eine einladende.

Wie die alte Natalie.

Es tut sich was.

Ich tippe auf die Kamera, schieße ein Foto und garniere es mit einer Tonne Herzchenaugensmileys. Träge gleitet mein Daumen über Senden und schon dämmere ich weg, während hinter meinen Lidern Natalies Lächeln tanzt.