Molly
In der Woche drauf stehe ich gerade vorm Kaffeestand in der Carnegie Library für einen Snack und einen Tee an, als eine schlaksige Gestalt mit schwarzem, hochgezogenem Kapuzenpulli sich direkt vor mich drängt.
Ich bohre sengende Blicke in den Stoff, während die Person ins Kühlfach greift und sich einen Orangensaft und einen plastikverpackten Zimtbagel rausnimmt.
Hey, Kumpel, hier warten noch andere!
Ich will schon den Mund aufmachen und es laut sagen, doch dann beschließe ich es gut sein zu lassen. Hat ja keinen Sinn, wegen so was einen Streit anzuzetteln, besonders nicht mitten in der Bibliothek.
»Du lässt mich einfach so vordrängeln?«, fragt die Stimme unter der Kapuze, eine Stimme, die mir aus unerfindlichen Gründen nur allzu vertraut ist.
»Herrgott noch mal! Hast du sonst niemanden, dem du auf den Geist gehen kannst?«, frage ich, als Alex sich zu mir umdreht.
»Weißt du, du musst nicht mehr so tun, als könntest du mich nicht leiden.« Sie zieht die Kapuze ab und grinst wie eine, die sich ach so schlau findet mit ihrem genialen Auftritt.
»Gut zu wissen«, sage ich trocken und wähle einen eingeschweißten Hagelzuckerkeks aus dem Korb über dem Kühlschrank. »Was willst du hier? Außer mir den letzten Nerv rauben?«
»Autsch!« Sie windet sich wie unter Schmerzen, presst sich eine Hand aufs Herz und zeigt mir dann das Buch, das unter ihrem Arm klemmt.
»Worum geht’s?«, frage ich und lege den Kopf schief, um den über tausendseitigen Fantasyziegel zu begutachten.
»Kann ich noch nicht sagen.« Achselzuckend stellt Alex ihren O-Saft und den Bagel vor die Kassiererin. »Ich hab mir einfach im obersten Stock eins aus dem Regal genommen.«
»Du nimmst dir einfach wahllos irgendein Buch aus irgendeinem Regal und dann liest du’s, ohne zu wissen, worum’s überhaupt geht?«, frage ich ungläubig.
Wieder Achselzucken. »Ist das nicht gerade der Sinn, dass man was liest und es selbst herausfindet?« Sie reicht das Geld rüber und tritt beiseite, damit ich bezahlen kann.
»Kann ich einen mittelgroßen Darjeeling haben, bitte?«, frage ich die Kassiererin und wende mich wieder an Alex, die ihre Bagelverpackung mit den Zähnen aufreißt wie ein Raubtier. Wieder fällt mein Blick auf den Roman, den verblichenen Einband mit Rittern und Fabelwesen, die alle unter einem grünen Himmel ineinander verschlungen sind. Sieht aus wie etwas, das meinem Bruder gefallen würde, aber mir garantiert nicht. »Sieht … interessant aus.«
»Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass Äußerlichkeiten trügen können?«, fragt sie. »Und apropos, wie weit bist du mit Coras Nummer?«
»Was heißt hier ›apropos‹?«, frage ich und blicke mich hastig um, während ich meinen Tee entgegennehme. Ich zerre Alex in eine ruhige Ecke. »Was haben deine seltsamen Lesegewohnheiten bitte mit Cora zu tun? Und kannst du bitte schön aufhören, ihren Namen in aller Öffentlichkeit in der Gegend herumzuposaunen?«
»Also, du magst sie wegen ihres Äußeren«, sagt sie, als gäbe es da gar keine Frage. Sie muss mein ausdrucksloses Starren bemerkt haben, denn schließlich ergänzt sie: »Sie sieht gut aus, oder?«
»Nein. Ich meine, ja, natürlich schon, aber das ist nicht … Ich mag sie selbst, alles an ihr.«
»Tja, nur dass du eben nicht alles kennst. Ich meine, du hast noch keine zwei Worte mit ihr gewechselt.«
»Doch, habe ich.« Ich kann spüren, wie es in mir zu brodeln beginnt. »Ich bin vier Jahre lang mit ihr zur Schule gegangen.«
»Ja, aber hast du dich in diesen vier Jahren auch nur ein einziges Mal mit ihr unterhalten?«, bohrt sie nach.
Das überhöre ich geflissentlich. »Ich hab genug von ihr mitbekommen. Außerdem hab ich den ganzen Abend bei der Party neben ihr gesessen. Wir wollen beide Schriftstellerinnen werden. Wir haben jede Menge Gemeinsamkeiten.« Ich muss lächeln, wie immer bei meiner Zukunftsfantasie, in der ich so gern schwelge. Wir schreiben beide Bücher und verbringen unsere Abende zu Hause, schauen alte Folgen von Wynonna Earp. Dann ziehen wir wieder in den Vorort, in dem wir aufgewachsen sind, um nahe bei unseren Familien zu wohnen und …
»Jetzt mal ehrlich, du kennst sie ungefähr so gut, wie ich … Olivia Wilde kenne. Ich weiß, was ich auf Instagram sehe, was die Welt von ihr mitkriegen soll. Ich weiß, dass wir beide Indie-Musik mögen, aber sie selbst kenne ich nicht. Genau wie du Cora nicht wirklich kennst. Zumindest noch nicht.«
Ich atme tief durch, rufe mir in Erinnerung, mit wem ich’s hier zu tun habe. Das hier ist Alex Blackwood, eine Person, die mit wildfremden Mädchen flirtet. Natürlich glaubt sie, dass es nur auf Äußerlichkeiten ankommt. »Schau, du kannst das einfach nicht verstehen, okay?« Ich schwinge meinen Rucksack herum und stecke meinen Keks für später ein.
»Und warum sollte ich das nicht verstehen können?«, will sie wissen. Ich lache, weil ihre Frage ja wohl nur rein rhetorisch gemeint sein kann, so sehr liegt es auf der Hand. »Nein, sag, warum sollte ich das nicht verstehen können?«, beharrt sie.
»Weil du offensichtlich nicht so viel für deine Freundin empfindest. Sonst würdest du ja nicht einfach mit Cora auf einer Party herumflirten.« Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du so empfinden würdest wie ich, dann hättest du noch nicht mal den Drang dazu verspürt, weil du schon alles hast, was du dir ersehnst.«
Ein paar Sekunden sieht sie mich schweigend an und ihr Gesichtsausdruck geht von Wut über Schmerz in Gleichgültigkeit über.
»Okay, da magst du recht haben«, sagt sie schließlich und beißt sich von innen in die Wangen. Es ist eindeutig, dass ihr eigentlich etwas anderes auf der Zunge lag, aber sie hält sich nicht auf damit. »Also, hast du jetzt schon ihre Nummer?«
»Nein.« Die Wahrheit ist … ich hab’s die ganze Woche lang versucht. Jedes Mal, wenn ich ihr über den Weg laufe, fällt mir irgendein wilder Plan ein, wie ich sie ansprechen, vielleicht sogar den Mut aufbringen könnte, sie um ihre Nummer zu bitten. Aber die ständigen Zweifel einzustellen ist viel schwerer, wenn ich es mit Cora Myers zu tun habe und nicht einfach mit irgendeinem Kerl aus der Schulzeit. Weiter als zu einem Lächeln und einem Winken bin ich nicht gekommen. Ganz zu schweigen von letztem Mittwoch, als ich sie vor der Hauptmensa gesehen habe. Ich wollte ihr gerade auf die Schulter tippen, um Hallo zu sagen, da bin ich völlig aus heiterem Himmel ausgerutscht und auf die Nase geflogen, direkt vor ihre Füße. Nicht der optimalste Moment, um nach ihrer Nummer zu fragen. »Ich hab noch keine gute Gelegenheit gefunden«, sage ich zu Alex, aber ich weiß, dass es wie eine Ausrede klingt.
»Dir ist schon klar, dass jeder Tag, den du ohne ihre Nummer verstreichen lässt, einer ist, an dem sie sie einer anderen geben könnte«, sagt sie und nippt an ihrem Orangensaft, während mir das Herz in die Hose sinkt. Stimmt ja! Ich muss es durchziehen. Und zwar bald.
»Hilfst du mir?«, flehe ich und blicke zu ihr auf, aber ihr Gesicht wirkt völlig mitleidslos.
»Erst beleidigst du mich und jetzt kommst du mir so?«, fragt sie, doch dann wird sie weicher. »Molly, ich hab dir schon geholfen. In der Cafeteria.«
»Ich brauch mehr konkrete Unterstützung. Kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass sich die Gelegenheit ergibt? Du hast das doch alles schon durchdacht, oder? Kommt das in deinem Plan nicht vor?«
Sie lacht schnaubend auf. »Na klar kommt das in meinem Plan vor. Der Plan ist wasserdicht. Stabil. Wie Beton.«
Eine Nachricht von meiner Mom erscheint, ein Bild von Leonard im gelben Regenmantel. Mein Blick jagt zur Uhrzeit hinauf. Ich seufze. »Scheiße.«
»Was?«, fragt Alex und rupft einen weiteren Riesenbissen aus ihrem Bagel.
»Ich komm zu spät zu meinem Kurs. Irgendwer hat sein Einführungsseminar Literatur sausen lassen und ich konnte aufrücken, aber das ist ganz oben im dritten Stock in der Kathedrale.« Ich stecke mein Handy ein. »Erzählst du mir später von diesem stabilen Betonplan?«
»Jaja, sicher.«
Ich versuche mich zu erinnern, wie ich von hier aus zu dem Gebäude kommen soll. Als ich mich zum Südausgang wende, schnappt mich Alex bei der Schulter und dreht mich in die völlig entgegengesetzte Richtung.
»Zur Kathedrale geht’s … da lang, Parker.«
»War mir völlig klar«, lüge ich.
Ich stapfe, so schnell ich kann, aus der Tür und über die Straße, versuche ihren Worten zu entkommen. Diesem ganzen Blödsinn von wegen, dass ich Cora eigentlich gar nicht kenne. Ich hab sie nicht gebeten sich dazu zu äußern. Sie sollte einfach nur ihren Plan abliefern, mir beibringen, wie ich diese Dinge gebacken kriege, die ich vorher noch nie getan habe. Zu mehr brauche ich sie nicht. Wenn sie mir das beibringt, dann klappt es am Ende schon mit mir und Cora.
Wieder schaue ich aufs Handy. Ich hätte mich von Alex nicht so ablenken lassen sollen. Jetzt komme ich wahrscheinlich zu spät zu einem Seminar, von dem ich schon die erste Woche verpasst habe.
Ganz toll, ganz toll.