Kapitel 13

Alex

In dem Moment, in dem Molly »Einführung in die Literatur« gesagt hat, war mir klar, dass sie in meinem Grundlagenkurs ist.

Ich lächle in mich hinein und strecke die Beine aus, tippe mit dem Bleistift gegen meinen Block, während der Lehrer – oder, wie er von uns genannt werden will, Jon  – vorne die Anwesenheitsliste vorliest.

Und sie hat mir eine Predigt gehalten, weil ich zu spät dran war.

Ich hebe schlaff die Hand, als er mich aufruft, und ein Mädchen mit ausgewaschenen roten Strähnchen zwei Reihen vor mir beäugt mich genau, wie in jeder Stunde.

Ich wende den Blick ab, damit ich nicht mal in Versuchung gerate ihr zuzuzwinkern, und starre deshalb gerade den Boden an, als Jon ruft: »Molly Parker?«

Aber keine Molly Parker weit und breit.

»Haben wir hier eine Molly?«, versucht er es wieder und wie aufs Stichwort geht die Tür auf und enthüllt eine vertraute, zerzauste Gestalt.

»Hier! Tut mir leid«, quietscht Molly von der Tür her, streicht sich das braune Haar und das Hemd glatt und bekommt große Augen, als sie mich entdeckt.

Ich grinse ihr zu und tätschle den freien Platz neben mir.

Und natürlich wirft sie mir einen vernichtenden Blick zu, der es absolut wert war im gegenüberliegenden Treppenhaus die drei Stockwerke hochzusprinten, um vor ihr da zu sein.

»Setzen Sie sich, Miss Parker«, ruft Jon und betrachtet sie über seine Brillenränder hinweg. »Der Kurs beginnt Punkt elf.«

Molly murmelt eine Entschuldigung und sieht sich nach einer alternativen Sitzgelegenheit um, bevor sie sich zornig neben mich fallen lässt.

»Warum hast du mir nicht einfach gezeigt, wo ich hinmuss, obwohl du genau wusstest, dass ich bei dir im Seminar bin?«, zischt sie mir zu, kaum dass der Professor sich umgedreht hat.

»Molly«, sage ich und schlage die Beine übereinander. »Ich kann nicht gleichzeitig dein Liebesleben und deinen Orientierungssinn richten. Ich bin nur eine einzige Frau.«

Sie verdreht die Augen und packt einen Ordner und ein zerlesenes Exemplar von Was ihr wollt aus, eins meiner liebsten Shakespearestücke und die Kurslektüre für die ersten beiden Wochen.

Als Jon mit seinem Vortrag über die enthaltenen Motive loslegt, fällt mir wieder ein, was sie in der Bibliothek gesagt hat.

Weil du offensichtlich nicht so viel für deine Freundin empfindest. Sonst würdest du ja nicht einfach mit Cora auf einer Party herumflirten .

Noch nicht mal diesen Vortrag über mein beknacktes Lieblingsstück kann ich genießen, so sehr ärgere ich mich darüber.

Weil schließlich – was weiß sie schon, wo sie wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch keinen Menschen geküsst hat?

Ich schüttle den Kopf und drehe mich zum Fenster, sehe unten die Menschen herumwuseln und spüre ein Prickeln auf der Haut, als ich Mollys Spiegelbild im Glas erblicke.

»Und was sagen Sie dazu?«

Ich blinzle und komme wieder zu mir, als ich merke, dass sich mehrere Köpfe zu mir umgedreht haben, weil der Professor mich ins Visier genommen hat. Er hat seine Brille fast bis auf die Nasenspitze runtergezogen und blickt mit unerträglicher Oberlehrerarroganz über sie hinweg.

Molly lehnt sich zurück und sieht mich erwartungsvoll an, mit offensichtlicher Genugtuung.

Ich räuspere mich, setze ein selbstbewusstes Lächeln auf. »Wer?« Ich sehe nach links und rechts. »Meinen Sie etwa mich?«

»Ja.« Selbstzufriedener geht nicht mehr. »Sie meine ich.«

Seine Herablassung grenzt schon an Mitleid. Als hätte ich dieses Stück nicht hundertmal gelesen. Als hätte mein lesbischer Arsch nicht noch tausendmal öfter die Verfilmung mit Helena Bonham Carter gesehen, als wär’s der Sonntagsgottesdienst. »Ich wollte wissen, unter welchen Gesichtspunkten Shakespeare hier Ihrer Meinung nach das Thema Liebe erörtert.«

»Nun«, sage ich, schnappe mir Mollys Buch von ihrem Tisch und blättere zum II . Akt, 5 . Szene. »Wie? Weht Ansteckung sogar geschwind uns an?«, trage ich vor, die Stelle, an der die Figur Olivia die Liebe mit einer richtigen Krankheit vergleicht. »Romantik, Liebe … das ist wie eine Krankheit«, sage ich wie nebenher, auf die gleiche großspurige Weise, mit der er mir eben gekommen ist. »Wenn man alles so dramatisch sieht wie Olivia zumindest.« Ich schlage das Buch zu und schiebe es wieder auf Mollys Seite. »Aber klar, sie hat die Person, über die sie da redet, ja auch eben erst kennengelernt, also ist sie vermutlich ohnehin ziemlich dramatisch veranlagt.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Man kann wohl sagen, dass Shakespeare hier zwei Argumente bringt. Erstens, Liebe heißt Leiden, weil man sich in jemanden verliebt, den man gar nicht kennt. Zweitens, oft ist man in die Liebe selbst verliebt und gar nicht in den Menschen.«

Molly schnaubt. »Vielleicht schließt du da von dir auf andere«, sagt sie und trommelt mit den Fingern auf den Bucheinband. Ob ihr wohl klar ist, dass uns alle zuhören? »Ich meine, schließlich geht am Ende doch alles gut, oder? Für die Figuren. Olivia, Sebastian, Herzog Orsino. Alle reiten am Ende glücklich in den Sonnenuntergang, völlig zufrieden mit ihrer Liebe, in welcher Form sie auch daherkommt. Niemand ist unglücklich. Ihre Liebe genügt, solange sie nur der richtigen Person gilt.«

Beim Reden bekommt sie rote Wangen und wir wissen beide, dass es hier um mehr geht als nur ein paar Shakespearefiguren.

»Ja, aber wer weiß, was passiert, nachdem sie in den Sonnenuntergang geritten sind?«, frage ich unter Jons beifälligem Nicken vor allen Teilnehmern.

»Guter Einwand«, sagt er und ich spüre, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen schleicht. »Denn wer weiß, wie lange Vernarrtheit die Sache am Laufen hält.«

»Da widersprech ich ja gar nicht«, lenkt sie ein, ein kleiner Sieg für mich nach diesem Moment in der Bibliothek. Doch ihr Gesicht wird sogar noch röter, die Waffen sind noch nicht gestreckt. »Aber muss es denn unbedingt hinterher schiefgehen?«

Ich mache den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber … sie hat recht. Muss es denn unbedingt schiefgehen? Warum gehe ich automatisch davon aus?

Bei mir. Bei Molly und Cora. Vermute, genau da liegt mein Problem. Wahrscheinlich hab ich deshalb immer diese Scheu, mich Hals über Kopf in was hineinzustürzen.

Vielleicht ist Natalie ja »die Richtige«.

Vielleicht kann ich ja »die Richtige« für Natalie sein.

Und vielleicht ist Cora die Richtige für Molly, wenn es mit meiner Hilfe so weit kommt. Sie ist mein persönlicher Herzog Orsino, so schwer sie sich damit tut, dem Objekt ihrer Liebe ihre Gefühle zu gestehen.

Der Professor dreht sich wieder zur Tafel, schreibt mit Kreide etwas auf und labert weiter.

Aber Molly und ich starren einander an. Schließlich nicke ich und wende den Blick wieder auf die linierten Seiten meines Blocks, gebe mich zum zweiten Mal am heutigen Tag geschlagen. Aber diesmal meine ich es auch. »Es muss nicht unbedingt schiefgehen.«

Als der Unterricht endet, nuschelt uns Jon vorne noch die Aufgaben für die nächste Woche zu und entlässt uns in die Freiheit. Molly ist schon mit allen Siebensachen aus der Tür, bevor ich noch meinen Block zugeklappt habe.

Ungelenk räume ich meinen Kram zusammen und schiebe mich durch die Leute, haste ihr hinterher und packe sie am Arm, ehe sie im überfüllten Treppenhaus verschwindet. »Molly!«

»Was gibt’s, Alex?« Genervt dreht sie sich zu mir um. »Ich muss zum nächsten Kurs.«

»In der kommenden Biostunde setzen wir uns neben Cora, klar? Das ist der Plan.«

Denn schließlich kann sie nicht ewig auf Stufe null herumkrebsen. Sie braucht Coras Nummer, sonst kann sie nie … Was weiß ich. Mit ihr in den Sonnenuntergang reiten, im Partnerlook mit regenbogenstreifigen Cargohosen.

»Dann sollten wir allerdings versuchen pünktlich zu sein.« Ich lasse ihren Arm los und strahle sie an. »Wenn du wieder zu spät kommst, bleibt nicht viel Zeit zum Reden.«

Sie funkelt mich an, aber ich kann sehen, wie sie sich das Lächeln verkneift. »Okay, wir sehen uns um acht Uhr fünfundzwanzig«, ruft sie mir noch über die Schulter zu und verschwindet hinter der Tür zum Treppenhaus,

Ich grinse ihr hinterher und bin überrascht, als ihr Kopf wieder in der Tür erscheint und sie mich ansieht.

»Und, Alex?«

Ich betrachte ihr Gesicht, die winzige Falte, die sich zwischen ihren Augenbrauen kräuselt, wenn sie sich mit etwas schwertut.

»Danke«, sagt sie und ihre braunen Augen werden weicher. »Und es tut mir leid. Was ich vorhin in der Bibliothek gesagt habe.«

»Kein Problem«, sage ich, aber es nimmt mir eine Last von der Seele. Ich eile ihr hinterher und wir schieben uns durch die Tür und stapfen gemeinsam die Stufen hinunter.

Im Gehen zücke ich mein Handy und öffne Snapchat, nur um zu sehen, dass Natalie schon wieder einen meiner Snaps geöffnet, aber nicht drauf reagiert hat. Sie ist immer noch sauer, dass ich nach meiner Foodtruck-Schicht eingeschlafen bin.

Anscheinend bin ich noch vor dem Abschicken weggedämmert, was sie mir aber partout nicht glauben wollte, als sie mich am Morgen danach angerufen und sich ewig darüber aufgeregt hat, dass ich wahrscheinlich wieder »meine übliche Scheiße abziehe« und mir nicht mal die Mühe mache, ihr eine Nachricht zu schreiben oder anzurufen. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass sie sich vorher mindestens drei Tage lang auf keine meiner Nachrichten gerührt hat.

Aber ich rufe mir in Erinnerung, dass sie sich nie so aufführen würde, wenn ich sie nicht vorher so schlecht behandelt hätte.

Frustriert stopfe ich das Handy zurück in die Tasche, doch jetzt bin ich noch mal doppelt so wild entschlossen Molly zu helfen.

Je schneller sie Coras Nummer bekommt, desto schneller habe ich etwas Handfestes, das ich Natalie zeigen kann, wenn sie Ende des Monats kommt.

Beweise. Dass ich nichts Übles im Schilde führe. Dass das mit uns beiden nicht schiefgehen muss.

Mir knurrt der Magen, als wir aus dem Gebäude treten, und Molly hält mir ein Stück von dem Zuckerkeks hin, den sie vorhin in der Bibliothek gekauft hat.

Ich greife dankbar zu und sie nickt nach rechts. »Ich hab jetzt Geschichte, da drüben im Posvar-Bau. Wir sehen uns später«, sagt sie, dreht sich in die angedeutete Richtung und marschiert glücklich von dannen, mit im Wind flatternden Haaren.

»Molly!«, rufe ich ihr hinterher.

Sie bleibt ruckartig stehen, dreht sich zu mir um. »Wieder falsch?«, fragt sie verlegen und ich nicke mit breitem Lächeln.

Ich weise sie zum richtigen Gebäude und beobachte, wie sie und ihr Riesenrucksack langsam am Horizont verschwinden.

Alex Blackwood und Molly Parker.

Nicht unbedingt Freundinnen, aber … vielleicht wird das noch.