Kapitel 23

Alex

Ich flüchte mich in die Bibliothek, klatschnass von Kopf bis Fuß. Nichts wirkt so belebend, wie im strömenden Regen bergab zu radeln. Als ich gerade meine quietschenden Schuhe auf dem Teppich im Eingangsbereich trockne, legt sich eine Hand auf meinen Arm und zieht mich in einen kleinen Erker neben der Eingangstür.

»Wäh«, sagt Molly und wischt sich die Hand an ihrer neuen Levi’s ab. »Du bist nass.«

Ich verdrehe die Augen und tue, als ringe ich den Rand meines T-Shirts über ihr aus. Sie springt beiseite und sieht mich vernichtend an. »Ja klar, ich hätte auch das Unwetter im Chemiegebäude aussitzen können, wenn mir nicht irgendwer alle zehn Sekunden geschrieben hätte, wo ich denn bleibe.«

Ich recke meinen Hals an ihr vorbei zum Hauptsaal und entdecke den rechteckigen Tisch beim Café, wo Abby und Cora schon hinter aufgeschlagenen Büchern sitzen.

»Warst du schon drinnen oder hast du nur die ganze Zeit gruselig vor der Tür rumgelungert?«

»Gruselig vor der Tür rumgelungert«, entgegnet Molly und wuchtet sich die Schlaufen ihres Monsterrucksacks über die Schulter.

Ich sehe sie prüfend an. Nicht nur besitzt sie offensichtlich einen Regenschirm, sie sieht auch ziemlich gut aus. Sie trägt die neuen Jeans und ein süßes grafisches T-Shirt, das wir bei H&M rausgesucht haben. Ihr dunkelbraunes Haar hat sie zum Schutz vor dem Regen zu einem chaotischen Knoten aufgesteckt.

Ich nicke, dezent beeindruckt. Definitiv eine Verbesserung zu ihren üblichen vier Outfits. »Schicke Jeans.«

Molly bekommt leicht rote Wangen. »Danke.« Sie blickt an ihrer Kleidung hinab. »Hab ungefähr eine Stunde gebraucht, um mich für was zu entscheiden. Ich wollte das Beste für ein echtes Date aufsparen.«

»Schön. Gute Einstellung. Und jetzt …« Diesmal greife ich sie beim Arm und drehe sie herum, bis sie zum Hauptsaal schaut. »Sehen wir mal, was Cora denkt.«

Wir steuern auf den Tisch zu, wo Cora und Abby bei unserem Anblick den Kopf heben.

»Hi!«, ruft Cora und zieht ihre Bücher näher an sich heran, um uns Platz zu machen. Abby tut es ihr nach, wuchtet ihr gigantisches Maschinenbaulehrbuch aus dem Weg, sodass sich ein wahrer Ozean aus grellbunten Textmarkern vor ihr auftut.

»Hi«, antwortet Molly und … sinkt auf den Stuhl, der am weitesten von Cora entfernt ist.

»Süßes Shirt«, sagt Abby und Cora nickt zustimmend, was … immerhin etwas ist.

»Hey, Molly«, sage ich und tippe mit den Zehen ihren Stuhl an. »Musst du nicht dein Handy aufladen?« Ich weise auf den freien Sitz direkt Cora gegenüber und hoffe, dass sie schaltet.

Tut sie, zum Glück.

»Oh! Stimmt!«, sagt Molly und setzt sich mit schreckgeweiteten Augen um.

Reiß dich zusammen, Kind. Das ganze Team verlässt sich auf dich!

»Lest ihr das auch für Jons Seminar?«, fragt Cora und hält ihr 1984 - Exemplar in die Höhe.

Molly und ich nicken, und ich bedenke sie mit einem Blick, der geradezu schreit: Sag irgendwas.

»Ja, äh, ich dachte, wir hätten das Ding in der Schule hinter uns gelassen, aber war wohl zu viel der Hoffnung.«

Gut, endlich ein Fortschritt. Der Witz funktioniert und Cora lacht, schüttelt den Kopf. »Wem sagst du das. Einmal hat echt gereicht.«

Bei diesem Buch muss ich ihr tatsächlich zustimmen.

Die Unterhaltung weicht Lernen und ich verbringe die folgende Stunde damit, etwas Interesse für ionische und kovalente Bindungen aufzubringen, während Molly an die hundertmal nicht besonders unauffällig zu Cora rüberschielt und mit dem Stift lautstark gegen ihren Block schlägt.

Ich lehne mich zurück, strecke mich, dass die feuchten Kleider auf dem Stuhl unter mir quietschen, und beäuge die Bücherregale der Bibliothek.

Den dicken Fantasyschmöker aus der zweiten Uniwoche habe ich schon durch und nach meinem Streit mit Natalie brauche ich dringend neuen Lesestoff. Und nach dem mit meiner Mutter. Besonders, weil ich seitdem von keiner ein Wort gehört habe.

Ich trommle mit den Fingern auf dem Tisch und werfe einen Blick auf mein Handy. Weiterhin Flaute.

Vor lauter schlechtem Gewissen wegen dem, was ich gestern gesagt habe, habe ich meiner Mutter heute früh fünfzig Dollar geschickt, aber sie hat sie sofort kommentarlos zurücküberwiesen. Ich hab versucht sie anzurufen, aber sie hat nicht abgehoben. Auf meine Nachricht kam … keine Antwort.

Schon klar, das sollte mich nicht aus der Fassung bringen. Ich meine, ihre Rechnungen werden automatisch beglichen und das Essen lasse ich liefern und Tonya schaut vorbei, um nach ihr zu sehen, und trotzdem kann ich nicht aufhören zu …

Ich schiebe den Stuhl nach hinten und stehe auf. Alle heben den Kopf wegen meiner plötzlichen Aktivität.

Entspann dich, Alex. Ganz locker.

»Ich dreh mal eine Runde. Ich kann hier nicht gut weiter über Atombindungen lernen, wenn um die Ecke die Versuchung lockt, oder?«, sage ich und rekele mich ganz wohlig, bevor ich den Stuhl wieder reinschiebe, um zwischen den Regalen zu verschwinden. Mollys Blick bekommt eine panische Note, aber ich drücke ihr im Vorbeigehen beruhigend die Schulter.

Unterwegs entdecke ich Heather, meine Mitbewohnerin, die in der Schlange beim Café steht. Ich nicke ihr zu und wundersamerweise winkt sie mir zurück.

Erfolg!

Jackson ist nicht mehr gerade viel da und ich hab mich schon gefragt, ob das der Grund für die gesteigerte Nettigkeit sein könnte. Neulich hat sie sich sogar fürs Müllrausbringen bei mir bedankt.

Vermutlich sollte ich bald anfangen unsere Freundschaftsbänder zu knüpfen.

Ich eile zur YA -Abteilung, wo ich mir eine Neuerzählung von Romeo und Julia mitnehme und einen Fantasyroman, vor dem es auf BookTok momentan kein Entkommen gibt. Dann sammle ich noch ein paar alte Lieblinge ein: Cyrano de Bergerac , Betty und ihre Schwestern und Stolz und Vorurteil . Letzteres geht mir seit diesem Frage-Antwort-Spiel mit Molly vor einer Woche nicht mehr aus dem Kopf. Ich weiß, dass ich kaum dazu kommen werden, die alle binnen zwei Wochen zu lesen, aber es gibt mir schon Sicherheit, sie nur um mich zu haben, und bei all dem, was gerade mit Natalie und meiner Mutter abgeht, brauche ich das ganz bestimmt.

Bei meiner Rückkehr zum Tisch lacht Cora gerade aus voller Kehle über etwas, das Molly gesagt hat, und Molly grinst über beide Ohren, als hätte sie gerade den Oscar bekommen.

»Jessas«, sagt sie und stupst mit dem Finger gegen den Bücherstapel, den ich auf dem Tisch absetze. »Warum genau studierst du Medizin, wenn du ständig nur liest?«

Ich schlage ihren Finger fort. »Ich weiß nicht, der sichere Arbeitsplatz vielleicht? Das Anfangsgehalt von 208000  Dollar?«

Molly verdreht die Augen. »Magst du dieses Zeugs überhaupt?«, fragt sie und hält meinen Chemiewälzer hoch, unter dem ihr Arm beinah nachgibt.

»Nicht besonders«, sage ich und schnappe ihn mir zurück. Ich deute auf Coras 1984 - Ausgabe. »Aber du magst dieses Zeugs hier ja auch nicht besonders, also …«

»Ja, aber du liebst es. Wahrscheinlich mehr als wir anderen beiden«, sagt Molly und zieht Stolz und Vorurteil vom Stapel. Auf der anderen Tischseite kommt von Cora ein bestätigendes Nicken. »Kannst du das von irgendwas Medizinischem behaupten?«

Ich sehe sie mit erhobenen Augenbrauen an. »Hast du das mit dem Anfangsgehalt von zweihundertachttausend Dollar nicht mitgekriegt?«

»Ach, komm schon«, sagt Cora. »Es kommt doch nicht aufs Geld an, sondern allein darauf, dass man tut, was man liebt.«

Ich verdrehe die Augen so sehr, dass sie mir fast aus dem Schädel fallen.

»Hat denn eine von euch auch nur irgendeine Vorstellung davon, wovon ihr mit einem Literaturabschluss eure Rechnungen zahlen wollt?«

Molly schüttelt den Kopf. »Nein. Noch nicht. Aber …«

»Das ist doch im Moment völlig gleichgültig«, unterbricht sie Cora, um ihr beizuspringen.

Im Ernst? Ich reiße schon den Mund auf, um etwas zu sagen, aber da mischt sich Molly ein, versucht die Gemüter zu beruhigen.

»Ich glaube, beides kann wichtig sein. Geld zu verdienen und das zu tun, was man liebt«, sagt sie und sieht zwischen mir und Cora hin und her, bis ihr Blick an mir hängen bleibt. »Beides hat seine Berechtigung, denk ich mal.«

Sie lächelt mir entschuldigend zu und lässt das Buch wieder oben auf den Stapel fallen. Ich schnaube und hebe es hoch, schlage es auf der ersten Seite auf und bin diesmal heilfroh, dass dieses Gespräch vorüber ist.

Aber … die Worte verschwimmen vor meinen Augen, weil ich immer noch drüber nachdenken muss. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich zehn Jahre lang etwas studieren will, das mir nicht mal gefällt, aber ich habe einfach nicht den Luxus, mich fragen zu können, wonach mir denn so wäre. Nicht, wenn die Dinge so sind, wie sie sind. Nicht, wenn ich meine Mutter mitfinanzieren muss.

Ich werfe einen flüchtigen Blick auf mein Handy, widersetze mich dem Drang, ihr noch eine Nachricht zu schicken.

»Also, ich hol mir was aus dem Café«, sagt Molly und schiebt ihren Stuhl zurück.

»Ich komm mit!«, sagt Cora. Mollys Blick erinnert fast eins zu eins an ein Tier in der Falle. Aber schnell hat sie sich wieder gefangen.

Ich schlucke meinen Ärger hinunter und halte ihr schnell den erhobenen Daumen hin, als Cora sich bückt, um ihr Portemonnaie aus ihrem knallgelben Rucksack zu kramen.

»Wollt ihr auch was?«, fragt Cora.

»Schokokekse«, sagt Abby und reicht Cora ihre Mensakarte zum Scannen.

Ich schüttle den Kopf und sehe ihnen nach, wie sie davonspazieren. Molly hat die Hände nervös in die Jeanstaschen gestopft, während Cora von den Biscotti schwärmt, die sie neulich hatte und die Molly unbedingt probieren muss.

Ich lächle in mich hinein, Erleichterung überkommt mich. Was sagt man dazu, Natalie? Es geht voran!

Aber es ist ein seltsames Gefühl. Besonders nach dem suboptimalen Telefonat gestern. Als würde … ihr das hier rein gar nichts mehr beweisen, aber selbst wenn das so sein sollte, will ich doch …

Ich will aufrichtig, dass Molly Erfolg hat. Weil sie mir etwas bedeutet. Weil sie meine Freundin ist. Egal was Natalie glaubt.

Ich stöhne leise und senke den Blick aufs Buch.

Stufe drei, wir kommen.