Alex
Ich fasse es nicht, dass ich mir ein Rugbyspiel antue. An einem Freitagabend! Früher bin ich ausgegangen! Ich bin auf Partys gewesen!
Wer hätte gedacht, dass es so weit mit mir kommt?
Ich schließe mein Rad ab und jogge die Straße zum Spielfeld hinauf. Die Menge dreht durch, als ein Mädchen in Kastanienbraun und Weiß plattgemacht wird wie Molly vor zwei Wochen und der Ball ihr aus den Händen rollt.
»Du bist zu spät«, ruft eine vertraute Stimme. Molly Parker lehnt an einer gewaltigen Eiche und hat die Arme vor der Brust verschränkt. »Wie gewohnt.«
»Ich hab was zu essen mitgebracht.« Ich halte eine Papiertüte mit genau der Art von Zuckerkeksen hoch, die sie sich damals in der Cafeteria vor dem Unterricht gekauft hat. Muss ja niemand wissen, dass ich auf dem Weg hierher schon drei gefuttert habe.
»Toll, wie du dein Team farblich unterstützt«, stichelt Molly und mustert mein gesamtschwarzes Outfit.
Sie ist vollständig in Pitt-Farben ausgestattet. Blau und Gold von Kopf bis Fuß. Wahrscheinlich hat ihre Unterhose noch PITT über den Arsch gestempelt.
»Tja, die spielen gegen ein Team aus Philly, da bleibt mir nur mich in die Neutralität zu flüchten«, sage ich und grinse sie breit an, während sie sich langsam den Schal abwickelt. »Ich hab zu viele Temple-Studentinnen geküsst, als dass ich denen jetzt in den Rücken fallen könnte.«
Sie verdreht die Augen und wendet sich zu mir, stellt sich auf die Zehenspitzen und wickelt mir den Schal einmal, zweimal um den Hals. »Aber jetzt bist du hier, also verhalt dich entsprechend.«
Unsere Blicke treffen sich, als sie die Enden feststeckt.
Jetzt, wo sie so nahe ist, muss ich wieder an diesen Moment in der Umkleidekabine denken. Wie Mollys Augen … Ich räuspere mich und wir fahren auseinander.
Das hatte null zu bedeuten. So schaut mich dauernd irgendwer an.
Außerdem bin ich nicht mal ansatzweise ihr Typ, genau wie sie definitiv nicht meiner ist.
»Und, hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie ein Rugbyspiel abläuft?«, raune ich ihr zu, als Abby uns aus den Metallrängen zuwinkt.
»Na klar«, sagt sie beim Hochsteigen. »Dank meines Nahtoderlebnisses nach drei Minuten Spiel bin ich jetzt amtlich beglaubigte Expertin.«
Ich kichere und wir setzen uns hin, nicken Abby grüßend zu. »Was haben wir verpasst?«
»Nicht viel«, sagt sie, als hätte ich gerade nicht miterlebt, wie ein Mensch zur Flunder geplättet wurde. »Noch keine Punkte, aber besser als verlieren.«
Ich verfolge, wie beide Teams sich zusammendrängen und Arme um Taillen schlingen, der Ball in die Mitte rollt, Pitt sich in die stärkere Position ringt und damit das Feld hinunterdrängt. Die Leute um uns herum drehen durch.
»Wow, gutes Paket!«, brüllt einer der Typen auf der Tribüne und klatscht laut, während unser Team es schafft, den Ball deutlich nach vorne und unter Kontrolle zu bringen.
Gutes was?
Ich sehe Molly fragend an, doch die zuckt nur mit den Schultern und langt in meine Papiertüte, um sich ein Stück Keks abzubrechen. Sie bröselt sich ihre verwaschene Jeans voll und staunt Bauklötze, als Cora übers Feld gejoggt kommt wie eine winzige, graziöse Gazelle und uns dabei ein wenig zuwinkt. Sie trägt ein senfgelbes Schweißband und eine bedrohliche Menge schwarzer Augenfarbe, die sie wild auf den Wangen verschmiert hat, als ginge es in den Krieg.
Was ja eigentlich zutrifft.
Ich weiß nicht, ob ich hier einem Turnier oder einem … Gladiatorenkampf um Leben und Tod zuschaue. Zur Halbzeit sind schon zwei Mädchen weggetragen worden, eines mit Gehirnerschütterung, das andere mit gebrochener Nase. Ich zucke zusammen und wende mich unter Mollys amüsiertem Blick ab, als dem Mädchen das Blut heruntertropft.
»Was ist los, Frau Doktor?«
Ich starre sie böse an und bewerfe sie mit der zusammengeknüllten Papiertüte, während wir aufstehen, um ein paar Minuten von den Zuschauerrängen zu steigen und uns die Beine zu vertreten.
»Ich muss mal«, sagt Abby und nickt in Richtung eines zweifelhaften Trios babyblauer Dixiklos.
Sie joggt davon und kaum ist sie sicher außer Hörweite, sage ich: »Also, wir sollten dann wahrscheinlich mal über Stufe …«
Molly hält mir den Mund zu. »Nö. Nicht jetzt.«
Ich runzle die Stirn, entwinde mich ihrem Griff. »Was? Warum nicht?«
»Ich weiß, du hast es eilig, aber ich … bin noch nicht so weit. Das mit dem Hin- und Herschreiben läuft so gut, ich will das nicht kaputt machen.«
Ich sehe sie eindringlich an. »Molly. Du wirst es nicht kaputt machen. Wenn überhaupt, dann …«
»Ich bin noch nicht so weit, okay?«, fällt sie mir entschieden ins Wort. Ich atme tief aus, schüttle den Kopf. Mir läuft die Zeit davon, aber was noch wichtiger ist …
»Hör mal, damit hab ich ja gar kein Problem, aber du musst bedenken, sie wird nicht ewig auf dich warten …« Ich nicke in Richtung Feld und sie wirbelt herum und sieht Cora auf der Bank, wie sie über irgendwas lacht, was eine Teamkollegin gesagt hat, mit der Hand auf ihrem Arm. Da liegt definitiv was in der Luft.
Ich drehe Molly wieder zu mir, bevor ihr Starren zu auffällig wird. »Also klar, keine Eile. Ich will dich nicht in was hineindrängen, wozu du noch nicht bereit bist. Aber warte nicht zu lange und verpass deine Chance, okay?«
Sie nickt, beißt sich auf die Lippe.
Als das Spiel weitergeht, rutschen wir wieder auf die Sitze, ich ziehe mein Handy aus der Tasche und wische mich durch die Nachrichten meiner Mom.
Hey. Hoffe, alles ist gut.
Ich drücke auf Senden und füge damit dem See aus blauen Nachrichten auf der rechten Seite einen weiteren Tropfen hinzu, nur sehr gelegentlich flankiert von einsilbigen Antworten links. Seit unserem Streit vor zwei Wochen hat sie mit ihren Nachrichten stark nachgelassen.
Zum Glück hat Tonya nach ihr geschaut und gemeint, es gebe jetzt nichts Superungewöhnliches zu vermelden, aber … ich mache mir trotzdem noch Sorgen. Und trotz meiner Schuldgefühle bin ich auch ein klein bisschen genervt. Ich sollte mir nicht mitten in einem Uni-Rugbyspiel Sorgen um meine Mutter machen müssen.
Die Menge bricht in Jubel aus und als ich aufblicke, sehe ich ein Mädchen in Blau und Gold nach vorne ausbrechen, mit dem Ball unterm Arm. Obwohl ich keinen Schimmer habe, was sich da tut, werde ich mitgerissen. Alle springen auf, die Sitze wanken unter dem Jubel, der ausbricht, als sie das Feld entlangrennt, mit einer Verteidigerin auf den Fersen.
Fünfzehn Meter.
Zehn Meter.
Fünf Meter.
Sie schafft es zum Ende des Felds, knallt den Ball kämpferisch auf den Boden und das ganze Team schwärmt herbei und umringt sie, während um uns herum alles durchdreht. Ich reiße mir Mollys Schal vom Hals und wedle ihn über meinem Kopf, Molly springt auf den Sitz neben mir. Abby setzt zum »Panther, Panther!«-Schlachtgesang an und wir fallen alle ein.
Bald ebbt der Jubel ab, denn das Spiel geht weiter, und alles setzt sich wieder hin. Ich sehe, wie Cora vom Platz läuft und ihrer Auswechselspielerin ›high five‹ gibt.
Als sie auf der Ersatzbank Platz nimmt, schickt sie Molly ein kleines Lächeln hinüber und ich bekomme ein ganz ungewohntes Gefühl in der Brust.
Nachdenklich reibe ich die Stelle.
Wahrscheinlich waren das auf dem Hinweg zwei Kekse zu viel.