Kapitel 27

Alex

Ich schleudere meinen Eyeliner in meine Schminktasche und lehne mich zurück, um ein letztes Mal mein Gesicht im Badezimmerspiegel zu überprüfen, atme langsam aus und lege die Hände um den Rand des kühlen Porzellanbeckens. Mit dem Bein wippend starre ich mein Spiegelbild an, wende den Kopf nach links und rechts und wieder nach links, fahre mir mit den Fingern durchs Haar, damit es genau richtig fällt. Bin ich … aufgeregt?

»Es ist nur Rollschuhfahren, Alex. Wie schwer kann das sein?«, schnaube ich und greife mir mein Handy von der Ablage. Das Display leuchtet auf, eine Nachricht von Molly, dass sie unten auf mich wartet.

Ich hole mir mein Portemonnaie und die Schlüssel aus meinem Zimmer, eile die Treppe hinunter und ziehe mir dabei die ausgewaschene Jeansjacke über. Als ich die Tür aufmache und Molly gegen ihr Auto lehnen sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Sie trägt die neue Jeans mit der hohen Taille und ein enges weißes T-Shirt, das wir zusammen gekauft haben, dazu ein schwarz-gelb kariertes Flanellhemd, das sie gekonnt um die Taille geknotet hat. Der Wind spielt in ihrem langen Haar, als wären wir mitten in einem Film und nicht auf einer der abstoßendsten Straßen von Pittsburgh.

Ich will gerade etwas sagen, als mein Blick an ihren Augen hängen bleibt die mit etwas Mascara und Eyeliner plötzlich noch viel hellbrauner leuchten als sonst.

Ich glaube nicht, dass ich sie schon mal geschminkt erlebt habe.

»Scheiße«, sagt sie, schiebt sich vom Auto weg und blickt zweifelnd an ihrem Outfit hinunter. »Daneben?« Sie zupft an dem Hemd um ihre Taille. »Das Flanellhemd, oder? Ich wusste, ich hätte einfach eins mit geknöpftem …«

»Nein! Du siehst … echt … hübsch aus«, bringe ich heraus und starre auf die Jeans, die ihren Hüftschwung umschmeicheln.

Mollys Hüftschwung, rufe ich mir in Erinnerung und wende rasch den Blick ab.

Überrascht hebt sie den Kopf. Ich räuspere mich und rette mich in gewohnte Gefilde. »Du weißt schon, ganz objektiv. Zumindest würde Cora das finden.«

»Ach«, sagt sie. Wir starren einander einfach nur an.

Sag was, Alex. Hab ich meine Zunge verschluckt? Wer bin ich?

Ich kratze mir den Nacken und weise auf die Autotür. »Wir sollten dann mal …«

»Stimmt! Klar!« Sie murkst mit dem Schlüssel herum und schließt mit einem Piepen die Tür auf, bevor sie sie aufzieht und mir bedeutet doch einzusteigen.

»Welch Ritterlichkeit!«, necke ich sie und gleite neben ihr auf den Sitz.

Sie verdreht die Augen, doch die Spannung löst sich, genau wie erhofft. »Ehrlich, Alex, Füße rein, eh ich dir die Tür draufknalle.«

Wir müssen beide lachen, als sie um die Kühlerhaube herumjoggt und auf der Fahrerseite einsteigt. Wir rollen die Straße hinunter und das Radio springt an. Die Fahrt zur Rollschuhbahn beschert uns einen malerischen Ausblick auf Pittsburgh, die in Gold getauchte Skyline glänzt in der untergehenden Sonne.

Philly ist es nicht, aber … eigentlich ziemlich gut. Richtig schön ist sie, diese Stadt, in die ich mich geflüchtet habe. Ich recke den Hals, um möglichst lange etwas davon zu haben, bis sie ganz außer Sicht ist und die Autobahn vor uns liegt.

»Gesprächsthemen«, sage ich, während wir dahinbrausen. »Was sind so deine Vorstellungen?«

Molly zuckt mit den Schultern, doch ihre Hände krampfen sich ums Lenkrad. »Also. Ich hab jede Menge. Ich hab gedacht, ich steig ein, indem ich sie nach Bio frage. Und dann reden wir bisschen über Rugby. Vielleicht auch einfach nur … fragen, wie ihr Tag so war?«

»Genau«, bestätige ich. »Besonders Letzteres. Leute lieben es, wenn sie über sich selbst reden können.«

Molly wirft mir einen Seitenblick zu, hebt die Augenbrauen. »Was du nicht sagst.«

Ich grinse. »Egal worüber sie redet, hake nach. Bau daraus ein Gespräch auf. Das zeigt, dass du ihr zuhörst, und nichts toppt das Gefühl, dass einem zugehört wird.«

Molly nickt, legt alles in ihrem inneren Hefter ab.

Als wir zwanzig Minuten darauf ankommen, ist es auf der Bahn überraschend voll. Der Geruch nach altem Teppich, Füßen und dem fetttriefenden Was-auch-Immer vom Imbissstand verstopft mir die Nase und ich bin dankbar, dass das Licht bis auf die glitzernde Discokugel derart funzelig ist, denn dieser Laden hier sollte, so viel ist klar, nie ans Tageslicht gelangen.

»Das mit dem Türaufhalten war ein guter Move«, sage ich, als wir die Tickets kaufen. Ich muss ihr verständigungshalber dabei dichter auf die Pelle rücken, dank des aus gigantischen Lautsprechern plärrenden »September« von Earth, Wind & Fire. »Als Nächstes solltest du zumindest anbieten sie einzuladen. Besonders, wenn du sie ums Date gebeten hast.« Molly erstarrt, mit der Hand noch im Portemonnaie.

»Soll … Soll ich dich jetzt auch einladen?«

Ich ziehe einen Zehner aus der Tasche und schüttle den Kopf. »Den Teil müssen wir nicht trainieren. Das ist ja schließlich kein richtiges Date hier.«

Sie nickt und dann verstummen wir beide, während die Kassiererin unser Wechselgeld abzählt und sich dann auf die Suche nach unseren Rollschuhgrößen macht. Als sie damit wiederkehrt, strecken wir beide zugleich die Hände danach aus, sodass unsere Arme sich streifen.

Hmm … vielleicht ist Rollschuhfahren doch gar keine so fürchterliche Date-Aktion. Definitiv nicht mein übliches Ding, aber zugegebenermaßen kann ich sehen, dass es die Ansprüche eines soliden ersten Dates erfüllt. Bisschen Näherkommen, bisschen Händchenhalten, vielleicht hinterher noch was vom Kiosk? Könnte klappen.

Ich muss einfach lachen, als Molly die Rollen an unseren beiden Schuhpaaren ausprobiert, an jeder einzelnen prüfend herumdreht, bevor sie ihre Zustimmung gibt, als verkoste sie einen edlen Tropfen Wein in einem Sternerestaurant.

Das wird ein lustiger Abend.

***

Die Rollschuhe anziehen ist gar kein Problem.

Sie tatsächlich einzusetzen ist die Hölle.

Nachdem ich über den schwarzen, fleckigen Teppich geholpert bin und dabei so viel vom Vaterunser aufgesagt habe, wie mir noch einfällt, habe ich mich auf den glänzenden Holzboden gewagt.

Was ein … Riesenfehler war.

Sofort habe ich mich an die Umrandung geklammert, während alles an mir vorbeizischte. Und seitdem wollen meine Beine bei jedem Bewegungsansatz nur in unterschiedliche Richtungen davonrollen.

Also habe ich logischerweise beschlossen es einfach aufzugeben und mich mit aller Kraft am Rand der Bahn festzuhalten.

»Du musst dich nur trauen«, sagt Molly, die in kleinen Kreisen rückwärts vor mir herumzirkelt.

Ich funkle sie an, meine Fingernägel graben sich in die Wand und ich stampfe etwas voran. »Wenn ich mich nur traue , dann werd ich …«

Die Worte sind kaum aus meinem Mund, als sie schon Realität werden. Ich verliere das Gleichgewicht, die Rollschuhe sausen unter mir weg und ich lege eine perfekte Arschbombe aufs Parkett. Mein Steißbein zersplittert in eine Million Stücke. Hier liege ich, platt wie eine Palatschinke, starre an die weiße Decke, bestrahlt vom Glitzerlicht der Discokugel.

Ich drehe den Kopf und sehe Molly herbeiflitzen, eine kleine Drehung machen und direkt vor mir abbremsen.

»Ungemein elegant«, sagt sie mit offensichtlichem Genuss.

»Sprich nicht mit mir«, sage ich und sehe von ihrem Gesicht zurück zur Decke. »Lass mich einfach sterben.«

»Tja, du hörst ja nie auf mich«, sagt sie und beugt sich lächelnd über mich. »Also hör ich jetzt auch nicht auf dich.«

Sie streckt mir die Hand hin und macht ein aufforderndes Gesicht und ich seufze tief auf und greife zu. Sie zieht mich hoch, lässt mich aber zu meiner Überraschung nicht los, als ich aufrecht stehe.

»Lass es uns langsam angehen, okay?«, sagt sie und ihre Finger fühlen sich so warm und weich an, als sie langsam rückwärts losfährt und mich sanft mit sich zieht. Ich kann richtig spüren, wie mein Magen einen Satz macht.

»Also, das hier«, sage ich und entwinde ihr rasch meine Hand, »ist eine Eins-a-Technik, um bei Cora zu landen.«

Die Worte sind kaum aus meinem Mund, da verliere ich schon wieder die Balance, doch Molly packt mich bei den Schultern und hält mich aufrecht.

Auf mein verlegenes Grinsen hin schüttelt sie nur ungläubig den Kopf.

Ihre Fingerspitzen gleiten meine Arme hinab, nehmen wieder meine Hände und mit sicherem Griff führt sie uns über das Holz. Wir fahren rundherum im Kreis und wieder herum und werden mit jeder Runde schneller. Ich konzentriere mich so fest auf unsere Rollschuhe und unseren gleichmäßigen Rhythmus, dass mir die Stille zwischen uns kaum auffällt.

Rechts, links, rechts, links.

»Siehst du?«, flüstert sie und man hört sie kaum in der Musik. »So schlimm ist es nicht.«

Ich blicke auf zu ihr, um ihr zu sagen, dass ich mir beim Sturz wahrhaftig den Hintern gebrochen habe, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken.

Ihr Gesicht ist so nahe bei meinem, das Licht der Discokugel glitzert in ihren dunklen Augen und tanzt über ihre glänzenden Lippen. In der Kurve lehnt sie sich näher zu mir, bis unsere Oberkörper sich fast berühren, und der süße, blumige Geruch ihres Parfums vertreibt das Aroma aus dreckigen Socken, ist vertraut und sicher und fast schwindelerregend.

Das kommt so unerwartet, dass mein Herz geräuschvoll in meiner Brust zu hämmern beginnt.

Ich kann tatsächlich nicht sagen, ob es an der drohenden Gefahr eines weiteren Sturzes liegt oder … an Molly.

Und ob ich die Antwort wirklich wissen will, weiß ich auch nicht recht.

Natalies Gesicht blitzt vor meinen Augen auf und rasch ziehe ich Molly meine Hände weg, wackle schwankend an ihr vorbei. »Jetzt schaff ich’s.«

Mit geballten Fäusten konzentriere ich mich darauf, nicht auf der Stelle einzugehen und das, was auch immer es war, völlig zu missachten. Ein Fuß vor den anderen, Alex. Ein Fuß vor …

Ich blicke zur Seite, als ein – ungelogen! – Kindergartenkind an mir vorbeifliegt, so schnell, dass schon der Fahrtwind mich beinahe umlegt.

»Denk doch nur«, sagt Molly, als ich rücklings in sie reintaumle. Wieder kommen mir ihre Hände zu Hilfe, richten mich auf, ehe ich uns beide zu Boden reißen kann. »Eines Tages wirst du vielleicht so gut wie ein Fünfjähriger sein.«

Ich schnaube und die Spannung löst sich sofort. »Ich bezweifle es.«

»Also, wie, glaubst du, würde es laufen?«, fragt Molly und fährt wieder rückwärts, während ich weiter voranschwanke. »Wenn ich mit Cora herkomme?«

»Ziemlich gut vermutlich!« Ich beobachte aus den Augenwinkeln, wie sie eine graziöse Schlaufe um mich macht, um neben mich zu rollen. »Also, ich würde definitiv mit dem Händchenhaltenscheiß loslegen, bevor sie sich die Wirbelsäule bricht, aber dafür sind Probeläufe ja da, schätz ich mal.« Ich nicke, wieder ganz geschäftsmäßig.

Sie möchte mit Cora hier sein. Nicht mit mir. Alles ist gut. Wenn überhaupt, beweist das nur, was für eine Spitzenlehrerin ich bin.

Sie nickt zustimmend und lächelt mir leise zu, doch ich kann das Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlt, regelrecht spüren.

***

Die nächste Stunde verbringe ich damit, Molly über die Bahn hinterherzujagen, obwohl »jagen« wahrscheinlich etwas zu stark formuliert ist.

Ich sehe wahrscheinlich aus wie ein Kleinkind, das Usain Bolt hinterherrennt.

Jedes Mal, wenn ich auf die Nase zu fliegen drohe, sind ihre Hände da und stützen mich, und wir brechen beide in Gelächter aus.

»Gott, du bist so was von schlecht«, sagt Molly und schüttelt den Kopf, nachdem ich beinahe seehundgleich gegen die Wand geschlittert bin.

»Eine besondere Begabung«, sage ich gerade, da krächzt aus dem uralten Lautsprecher eine Stimme und würgt Rock with You von Michael Jackson auf halber Strecke ab. »Nun kommt das, worauf ihr alle gewartet habt! In der Mitte der Bahn starten wir eine Partie Limbo mit jeder Menge toller Preise!«

Ha, das ist in jeder Hinsicht das Letzte, auf das ich gewartet habe. Als ich versuche in nicht rutschige Gefilde zu türmen, packt Molly mich am Arm und zieht mich in die Schlange.

»Molly, ich bin schon mit Boden unter den Füßen scheiße im Limbo«, sage ich, als die Musik wieder anspringt und Limbo Rock durch die Lautsprecher dröhnt. »Siehst du, wie groß ich bin? Also klar, mach das gerne mit Cora, Cora ist deutlich kürzer als ich.«

»Das ist die erste Runde. Da musst du gerade mal den Kopf in den Nacken legen«, sagt sie, als wir uns langsam weiterschieben und vor uns die Kinder, Teenager und Erwachsenen unter der Holzstange durchtauchen, als wäre es nichts.

Als ich an der Reihe bin, beäuge ich misstrauisch die Stange, die mir auf Brusthöhe hängt, und ruckle vorsichtig an sie heran.

Gerade will ich den Kopf nach hinten neigen, als sich mein rechter Rollschuh am linken verhängt und ich nach vorne taumle und mir im Sturz noch den Schädel am Holz anhaue. Fest. Die Musik bricht abrupt ab und alle Münder in der Limboschlange rufen vereint »AUTSCH

Totenstille. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.

Ich setze mich auf, reibe mir die Stirn, fange Mollys Blick und … es ist vorbei. Ich glaube nicht, dass ich je so gelacht habe. Sie kippt nach vorne, heult vor Lachen, während ich mich auf dem Boden herumrolle und versuche mich wieder zu fangen. Bald stimmen alle ein und Molly wischt sich die Tränen aus den Augen und rollt endlich zu mir herüber.

Sie hält mir die Hand hin und nickt Richtung Ausgang. »Wollen wir es gut sein lassen?«

»Ja, wahrscheinlich ratsam«, sage ich, als sie mich hochzieht und mich sicher aus dieser Hölle von einem Hochglanzholzboden schafft. Unsere Finger trennen sich, sobald wir den klein gemusterten Teppich erreicht haben, aber unser Gekicher geht weiter.

Wir setzen uns auf die Bank bei der Schuhrückgabe und Molly dreht sich zu mir, macht ein ernsteres Gesicht. Mit einem besorgten Blick hebt sie die Hand, um sachte die Beule zu betasten, die mir auf der Stirn wächst. Ihre Finger sind kühl und sanft und noch schwindelerregender als die Limbostangengehirnerschütterung, die ich mir gerade zugezogen habe.

Ich habe absolut unterschätzt, wie gut sie darin sein würde.

»Brauchst du Eis?«, fragt sie und nickt Richtung Kiosk. »Ich kann dir welches holen.«

»Ähm, nö.« Ich schüttle den Kopf und sie weicht ein bisschen zurück, konzentriert sich aufs Schuheausziehen, während ich versuche mein ungebetenes, ungleichmäßiges Herzklopfen zu beruhigen.

Vielleicht braucht Molly überhaupt keine Übung.

Sie tritt sich die Rollschuhe ab und steht auf. »Ich hol dir trotzdem welches«, sagt sie und beäugt mein Gesicht. »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dein Verkaufsschlager durch eine Beule verunstaltet würde«, ruft sie mir über die Schulter zu.

»Haha, klar«, brabble ich halbgar heraus, weil mein Hirn anscheinend beschlossen hat den Dienst großflächig einzustellen. Ich sehe ihr nach, stöhne gequält auf und mache mich wieder daran, meine Rollschuhe aufzubinden.

Mein Handy brummt in der Tasche und als ich es herausziehe, leuchtet mir eine Nachricht von Tonya entgegen.

Grade gesehen, wie Tommy bei deiner Mutter raus ist. Dachte, du solltest es wissen.

Scheiße.