Molly
Obwohl es schon längst dunkel ist, als wir wieder in der Pitt ankommen. Obwohl ich vollkommen am Ende bin. Obwohl mir die Knöchel schmerzen von guten zwei Stunden Rollschuhfahren.
Ich bin noch nicht so weit, Gute Nacht zu sagen.
Also setze ich Alex nicht direkt vor der roten Tür ihres Hauses ab, sondern halte gegenüber vom Unigelände, genau vor der Kathedrale, wo es abends meistens ruhig ist, weil das Nachtleben sich anderswo abspielt.
»Raffinierter Schachzug. Zögere das Ende des Dates noch ein bisschen hinaus«, sagt Alex und sieht mich an, während sie sich abschnallt.
»Ja. Dachte ich auch«, entgegne ich, damit sie glaubt, genau das wäre mein Plan gewesen.
Wir steigen aus und schlendern den verlassenen Gehweg entlang, stoßen gelegentlich mit den Schultern aneinander. Alex ist ungewöhnlich still, seit ich auf der Rollschuhbahn mit dem Eisbeutel zurückgekehrt bin.
»Alles okay mit dir?«, frage ich nach.
»Ja, alles okay«, antwortet sie und seufzt tief auf. Es scheint gar nicht so, als sei alles okay, aber nach ein paar Minuten Schweigen höre ich sie lachen und sehe, wie sie ungläubig den Kopf schüttelt.
»Denkst du an den Limbo?«, frage ich lächelnd.
»An alles«, sagt sie. Und dann lachen wir uns schief über alles, was heute Abend passiert ist.
»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich mich hier tatsächlich ein bisschen zu Hause fühle«, sagt Alex und ringt nach unserem letzten Ausbruch nach Luft.
»Ich weiß, was du meinst.«
Irgendwas an diesem Abend …
Genauso habe ich mir das Unileben erhofft, aber nie mehr ganz dran geglaubt, seit ich beim Einzugstag in dieses Einzelzimmer getreten bin.
Es ist alles, worauf ich gewartet habe, aber irgendwie so viel mehr.
Das ist definitiv ein Abend, den ich nie vergessen werde. Alex genauso wenig, falls diese Beule auf ihrem Kopf eine Narbe hinterlassen sollte.
»Ich weiß eigentlich nicht, ob ich mich je … irgendwo zu Hause gefühlt habe. Es ist schön«, sagt sie und ich bekomme einen Kloß im Hals beim Gedanken, dass sie sich selbst zu Hause nie zu Hause gefühlt hat.
»Das freut mich«, entgegne ich und remple sie sanft an.
Die kühle Herbstluft macht mir Gänsehaut und so knote ich mir das Flanellhemd ab und ziehe es über, ohne es zuzuknöpfen.
Alex biegt nach links ab, führt uns weiter weg von ihrer Wohnung in Richtung Schenley Park, wo der Bau mit den Geisteswissenschaften im Licht des großen Brunnens davor erstrahlt.
»Komm mit«, sagt sie, leicht heiser von all den Stunden, die wir heute rumgebrüllt und gelacht haben. Sie nimmt meine Hand und zieht mich die Betonstufen zur Carnegie-Bibliothek hinauf. Ich frage nicht mal, wieso wir an einem Sonntag so kurz vor Schluss noch in die Bibliothek wollen. Ich lasse mich einfach von ihr mit nach oben ziehen, weil ich mittlerweile gelernt habe, dass die guten Dinge passieren, wenn ich mal etwas lockerlasse.
Sie lässt mich los, kaum dass wir durch die Glastüren in den Vorraum getreten sind. Es fühlt sich irgendwie falsch an ihre Hand nicht zu halten, nachdem ich sie so lange über die Rollschuhbahn gezogen habe. Ich folge ihr durch den Hauptsaal, am Kaffeestand vorbei, wo sie sich vorgedrängelt hat, und dann die Stufen hinauf, huste und pruste hinter ihr her, zwei Stockwerke weiter bis ganz nach oben, wo ich bis jetzt noch nie gewesen bin. Sie streift langsam durch die staubigen Regale, wo die Autobiografien in die historischen Romane übergehen. Kein Mensch ist hier außer uns und gerade will ich sie fragen, was wir hier suchen, als sie endlich mitten in einem Gang stehen bleibt und sich zu mir umdreht.
»Hörst du das?«, fragt sie und ihre Brust hebt und senkt sich sichtbar in dem Licht der Neonröhren an der Decke.
Aber das Einzige, was ich höre, sind wir und unser schwerer Atem.
»Ich hör gar nichts.« Ich schüttle den Kopf.
»Genau. Nur Totenstille«, sagt sie, schließt die Augen, setzt sich auf den Boden und lehnt sich gegen das unterste Regalfach.
Ich gleite neben sie auf den Boden, schlinge die Hände um die Knie und zupfe an der Naht meiner Jeans. Wie wir hier so in der Stille sitzen, steigt in mir der Drang auf ihr etwas zu sagen, über das ich jetzt schon eine Weile lang nachgedacht habe.
Ich weiß nicht, ob ich es wirklich will. Ich will sie nicht abschrecken, aber jetzt, wo ich mit ihr hier in der Stille sitze, ist es das Einzige, was mir auf dem Herzen liegt. Sosehr ich mich auch darauf freue, all das mit Cora zu machen – dieser Probelauf … hat für mich eine ganz andere Bedeutung.
Und ich will, dass sie das weiß.
»Alex?«, frage ich und starre auf die Buchreihen vor uns.
»Ja?«, antwortet sie sacht.
»Ich will dir was sagen, aber du darfst nicht lachen. Okay?«
»Okay«, flüstert sie. Ich atme tief durch, mein Mund ist staubtrocken.
»Du treibst mich echt in den Wahnsinn, aber … du bist die beste Freundin, die ich je hatte«, verrate ich ihr und meine Stimme zittert ein wenig.
Sie erwidert nichts, aber ihr Blick, den ich aus dem Augenwinkel sehe, sagt mir alles. Sie schiebt ihren rechten Fuß über den Boden, bis er an meinem linken lehnt. Eine ganze Weile lang sagen wir beide nichts, dann räuspert sie sich.
»Ich, ähm, hab … noch nie wen hergebracht …«
»In die Bibliothek?«, frage ich und sehe sie fragend an.
»Nein, Molly.« Sie lacht kurz und schnaubend. »Lass mich einfach …« Sie macht eine Geste, als hätte sie mehr zu sagen, wisse aber einfach nicht, wie sie die Worte rauskriegen soll.
»Oh, verzeih«, flüstere ich und warte, dass sie fortfährt.
»Als ich noch jünger war und meine Eltern sich immer gestritten haben, bin ich zur Bücherei geradelt und hab mich auf den Boden gesetzt, hinter den ganzen Regalen, und einfach nur gelesen. Niemand hat geschrien, niemand hat irgendwas kurz und klein geschlagen. Es war einfach nur still.« Sie schließt die Augen und ich setze mich ein wenig anders hin, hoffe, dass ich sie nicht unterbreche, voller Angst, dass sie zu reden aufhört. Sie fährt fort. »Als ich in die Oberstufe gekommen bin, war das mit der Trinkerei meiner Mutter schon völlig … Ich kann’s nicht mal …« Sie schüttelt den Kopf, führt es nicht weiter aus. »Sie hat nie auf uns gehört, ist nie irgendwohin und hat sich Hilfe geholt. Und gerade als ich gedacht habe, schlimmer kann’s jetzt nicht werden, als meine Mutter ganze Wochenenden im Vollsuff auf dem Sofa verbracht hat und nicht mal Geld fürs Essen da war, da ist mein Vater einfach …«
Ich sehe, wie ihre Augen ganz glasig werden vor Tränen, ihr Mund versucht irgendwas anderes zu bilden als ein Stottern.
»Er hat mich verlassen. Er hat mich einfach sitzen lassen, damit ich die Scherben zusammenkehre.« Sie atmet so scharf ein, dass es sie selbst erschreckt. Endlich erzählt sie mir, was mit ihr los ist. »Und das habe ich getan, aber es ist nur immer schlimmer geworden, und, oh Gott, es kommt mir vor, als hätte ich mein ganzes Leben lang nur versucht irgendwie durchzukommen. Mit allem. Mit meiner Mom. Dem Geld. Meinen Beziehungen.« Sie hält inne, dreht sich zu mir und sieht mir zum ersten Mal, seit sie zu reden begonnen hat, in die Augen, atmet mühsam. »Ich möchte nicht mein ganzes Leben so verbringen. Mit der Bibliothek als einzigem Ort, wo ich mich sicher fühle, weil ich alleine bin.«
Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so dringend gewollt, dass ein anderer Mensch sich besser fühlt.
»Alex, das musst du nicht«, sage ich mit so viel Gewissheit, wie ich zustande bringe.
»Du hörst dich so überzeugt an. Als könnte ich einfach stattdessen Literatur studieren und dann verbringen wir die nächsten vier Jahre damit, zu lesen und Frozen Yogurt zu essen und die ganze Nacht umherzulaufen und einander blöde Fragen zu stellen, und irgendwie geht davon nicht alles kaputt.«
»Wird es auch nicht«, sage ich und es schmerzt mich so sehr in der Brust für sie. »Wenn ich eine Sache von dir gelernt habe, dann, dass du dir das holen musst, was du willst, sonst ändert sich nie was. Alex, dein Leben muss nicht so sein wie das deiner Eltern. Und du musst nicht irgendwas studieren, was du nicht einmal magst, nur weil du Angst hast, dass es so sein wird. Manche Dinge gehen kaputt, weil sie nicht zusammengehören, aber manche Dinge gehören auch so sehr zusammen, dass sie nie kaputtgehen können.«
»So was scheint mir nur möglich, wenn ich was mit dir mache«, sagt sie und starrt auf den Teppich. »Ich hab noch nie jemanden getroffen wie dich.«
»Jemanden, der so verkrampft ist? Ängstlich? Sozial unfähig?«, frage ich, um ihr auf die Sprünge zu helfen.
»Gut. Du bist einfach … gut, Molly«, entgegnet sie und blickt zu mir hinunter. »Cora wird so ein Glück haben mit dir.«
Und plötzlich verspüre ich den Drang, ihr dieselbe Frage zu stellen wie damals, als wir den Plan beschlossen haben. Ich kenne ihr ursprüngliches Motiv, aber jetzt fühlt sich alles so anders an. Anders auf eine Art, die ich nicht recht in Worte fassen kann, weil ich es selbst nicht durchschaue. »Warum tust du das hier?«
Alex schnaubt, aber dann wird sie still, als wolle sie erst den richtigen Grund herausfinden, bevor sie ihn mir nennt. »Ich will mir selbst beweisen, dass ich auch gut sein kann. Ich möchte jemand Vertrauenswürdiges sein, verlässlich. Ich möchte jemand sein, der offen sein kann.«
Wieder sieht sie mich an und diesmal sind wir auf Augenhöhe, weil sie sich tiefer gegen das Regal hinter uns kauert. »Mit mir warst du immer ziemlich offen«, sage ich zu ihr und zum ersten Mal fallen mir die zarten, gelben Linien auf, die sich durch ihre grünen Augen weben.
»Mit dir fühlt es sich anders an«, sagt sie sanft, lässt ihren Kopf nur einen Hauch Richtung meinem sinken, so leicht, dass es kaum auffällt.
Aber mir fällt es auf.
Die Luft zwischen uns steigt mir zu Kopf.
Sie knistert und prickelt.
»Wenn das ein richtiges Date wäre«, flüstert Alex, »dann wär das jetzt der Punkt, wo wir uns küssen.«
Mir stockt der Atem, der Schmerz in meinen Knöcheln ist lang vergessen, denn jetzt habe ich dieses Ziehen in der Brust.
Ich weiß nicht, ob es wirklich wahr ist oder sich nur so anfühlt, aber es kommt mir vor, als würde der Abstand zwischen uns immer kleiner, kleiner, bis …
Eine Nachricht trifft auf meinem Handy ein und das Geräusch reißt uns beide aus dem Bann. Alex wendet hastig den Blick von mir ab und rutscht etwas zur Seite, während ich mein Handy herauspfriemle.
»Es ist Cora«, sage ich und aus unerfindlichen Gründen habe ich dabei fast ein schlechtes Gewissen. Doch dann wirft das, was ich lese, mich fast um. »Oh Gott. Sie will am Freitagabend mit mir essen gehen. Erst lernen, dann was essen.« Ich halte Alex mein Handy hin und sie entreißt es mir regelrecht. »Sie fragt mich, ob ich mit ihr weggehe, oder? Das ist es doch, was hier passiert?«, frage ich.
»Uff.« Sie hält sich das Handy dichter an die Nase, Emojis ohne Ende. »Jupp, definitiv ein Date«, sagt sie. »Denke, du kannst Stufe drei offiziell überspringen.«
Heiliger Bimbam, ich habe endlich ein Date mit Cora Myers.
Aber … ich bin nicht so außer mir vor Freude, wie ich das geglaubt hätte. Ich rede mir ein, es liege daran, dass Lernen und Essen nicht den gleichen Spaßfaktor haben wie der Rollschuhabend, der uns entgeht. Das hat nichts zu tun mit …
»Moment, Freitag?« Alex reicht mir das Handy zurück. »Das ist der 30 . September. Da ist Natalies Konzert. Optimal, besser geht’s nicht. Sie kann alles mit eigenen Augen sehen – dich mit Cora, dank meiner Hilfe. Frag sie, ob sie kommt! Und dann bin ich auch da, falls du mich brauchst. Wie ein … Doppeldate.«
Ich blicke eine Sekunde lang zu ihr hoch, versuche herauszufinden, ob das auch mein Wunsch ist. Mir ist nicht klar, was da eben genau zwischen uns passiert ist, aber ich empfinde Dinge für Alex Blackwood, mit denen ich nie im Leben gerechnet hätte. Ich will einfach nicht, dass es seltsam wird. Aber … ich kann auch nicht abstreiten, dass ich sie bei meinem ersten Date wirklich in der Nähe brauche, damit ich es mit Cora allein nicht völlig in den Sand setze, jetzt, wo wir nicht Rollschuh fahren. Außerdem stimmt ihre Überlegung. Das ist die perfekte Gelegenheit, Natalie zu erzählen, wie sehr sie mir geholfen hat, und das bin ich Alex schuldig, nach allem, was sie für mich getan hat.
»Komm schon. Schreib ihr zurück. Das ist doch genau das, worauf du gewartet hast, oder?« Sie gibt mir das Ruder zurück, aber so richtig in die Augen sehen kann sie mir nicht.
»Äh, ja. Ja, total.« Also antworte ich, tippe eine neckische Antwort für Cora.
Essen gehen klingt toll.
Aber ich kann vielleicht noch was Besseres bieten. Willst du mit mir auf ein Konzert? Garantiere schwitzende Leute und überteuerte Getränke
Ich zeige sie Alex und nach einer Weile tippt sie für mich auf Senden.
Cora antwortet sofort: JA !!
Es ist, wie Alex gesagt hat. Genau darauf habe ich immer gewartet, genau das habe ich nie für möglich gehalten. Es ist Cora. Das werde ich jetzt nicht in den Sand setzen wegen eines Abends, eines selbstvergessenen Moments in der Bibliothek mit einem Mädchen, das ich vor einem Monat nicht mal ausstehen konnte. Einem Mädchen, das offensichtlich sehr interessiert an einer anderen ist.
Also, alles klar.
Freitag ist Stufe vier. Ich habe ein echtes Date. Mein allererstes Date. Mit Cora Myers.
Nur wir beide.
Und Alex.
Und Natalie.
Perfekt.