Alex
Ich kann gar nicht schnell genug die Treppe hochrennen.
Ich wirble um das Geländer und mir schwirrt der Kopf, als ich durch die Tür presche und beinahe Heather umniete.
»Alles okay?«, fragt sie mit einem dampfenden Becher Asia-Nudeln in der Hand. »Du wirkst ein bisschen …« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Mit den Nerven am Ende.«
Mit den Nerven am Ende?
Alex Blackwood ist nie mit den Nerven am Ende.
Schon gar nicht wegen Molly Parker.
»Nein, alles entspannt hier«, sage ich, lache besonders seltsam und eile den Flur entlang zu meinem Zimmer. »Völlig entspannt«, füge ich hinzu und schließe die Tür hinter mir. Ich lehne mich dagegen und rutsche zu Boden.
Was zum Henker war das?
Ich drücke die Augen zu, presse meine Handballen dagegen, aber da ist immer noch Mollys Gesicht aufs Innere meiner Lider gepinselt, wie sie sich immer weiter vorbeugt, ihre Lippen nah genug sind zum …
Ich ziehe die Hände weg und schüttle den Kopf, bis sich das Bild langsam auflöst.
»Komm schon, Alex, jetzt mach es nicht größer, als es ist«, murmle ich und strecke die Beine vor mir aus.
Schließlich hab ich jetzt schon einen ganzen Monat lang niemanden mehr geküsst. Das ist praktisch ein Rekord! Kein Wunder, dass dieses Pseudodate mich so kalt erwischt hat.
Aber mein Hirn springt immer wieder zurück. Zur Rollschuhbahn, zu ihrem blumigen Duft, wie sich ihre Hände in meinen angefühlt haben. Zur Bibliothek, ihre braunen Augen im sanften Licht, ihr Blick, bei dem ich Schmetterlinge im Bauch bekommen habe. Das hat sich nicht unecht angefühlt.
»Scheiße.«
Ich rutsche noch tiefer, bis ich platt auf dem Teppich liege. Ich sehe die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos über die Fugen der Deckenverkleidung tanzen, mein Herz wummert durch den Stoff meines T-Shirts.
Ich mag Molly.
Der Gedanke kommt wie aus dem Nichts, schockiert mich zuerst, aber dann …
Ich wiederhole ihn, noch einmal und noch einmal, und merke, dass in diesen Worten eine gefährliche Wahrheit liegt.
Ich mag Molly.
Rollschuhlaufen-als-erstes-Date-Molly.
Kann-noch-nicht-mal-ein-Mädchen-fragen-Molly.
Angezogen-wie-eine-Sechzigjährige-Molly.
Stöhnend drehe ich mich auf die Seite, rolle mich zu einem Ball zusammen, weil der Gedanke an ihre Kleider den Gedanken an Mrs Parker geweckt hat, an ihr lächelndes Gesicht und ihren grau melierten Bob. Wie sie Molly so liebevoll ansieht. Wie sie mir bei unserem Treffen verschwörerisch zugezwinkert hat.
… Wie sie mich hassen würde, wenn ich unweigerlich Molly das Herz bräche, weil Natalie ja anscheinend immer richtigliegt.
Natalie.
Das Mädchen, mit dem ich eine Vergangenheit habe. Die gesagt hat, sie liebt mich, trotz all der Gründe, die dagegensprechen. Die, für die ich mir den letzten Monat den Arsch aufgerissen habe, um ihr zu beweisen, dass ich ein guter Mensch sein kann. Dass ich unverstellt und aufrichtig sein kann und offen gegenüber anderen.
Nur … ich habe mich der falschen Person anvertraut.
Es war nur … zum ersten Mal hat es sich weder erdrückend noch grauenhaft angefühlt. Es war … so leicht. Heute Abend, in der Bibliothek. Vor zwei Wochen, in ihrem Wohnheimzimmer.
Mein Magen rutscht immer tiefer und ich strecke die Hand aus, um an einem lockeren Teppichfaden zu zupfen.
Wahrscheinlich bin ich doch genau die, als die Natalie mich bezeichnet.
Eine, der nicht getraut werden kann auf die Ferne.
Obwohl, das hier … das ist schlimmer. Das ist mir noch nie passiert. Flirten und Verabreden und Rummachen, klar. Aber nicht … was auch immer das ist.
Aber klar, ist ja ohnehin egal.
Molly mag Cora. Die perfekte Sonnenschein-und-Regenbogen-alles-was-Molly-sich-nur-wünschen-kann-Cora. Sie sind so perfekt füreinander, auf eine Art, wie es bei uns nie sein könnte. Cora ist ihr beigesprungen an dem Abend auf der Party, als ich etwas richtig Mieses gesagt habe. Sie ist aus ihrer Heimatstadt. Sie ist nicht … tja …
Wie ich.
Kaputt. Und dazu verdammt, ihr wehzutun, egal wie sehr ich mich auch um das Gegenteil bemühe.
Ich liege zusammengekrümmt am Boden, bis ich all meine falschen Gefühle säuberlich in eine ordentliche kleine Schachtel verpackt habe. Eine Schachtel mit der Aufschrift: ÖFFNEN VERBOTEN . Eine Schachtel, an der ich bastle, bis der Himmel pechschwarz geworden ist.
Ich werde das hinkriegen.
Ich lasse mich jetzt nicht aus der Bahn werfen, nur weil ich meinen Job ein bisschen zu gut erledigt habe.
Molly gehört zu Cora, ich gehöre zu Natalie. Natalie, die mich trotz meiner schreiend offensichtlichen Fehler liebt.
Diesen Freitag werden wir beide unsere Mädchen bekommen. Und das hier wird sein, als wär es nie passiert.
***
Am Nachmittag darauf schnipple ich einen Zwiebelberg, so groß, dass er die gesamte Stadt Pittsburgh zum Flennen bringen könnte.
Ich wische mir mit meinem Ellbogen über die Augen, blinzle den Schmerz weg, während ich mich mit einem Messer, das stumpfer ist als unser Biodozent, durch den Haufen quäle.
»Schönes Wetterchen haben wir heut erwischt«, sagt Jim nach Fernsehmeteorologenart vor unserem Vorratslager stehend. Eine Zigarette baumelt ihm aus dem Mundwinkel. Er reckt den Hals prüfend zum Himmel. »Brauchen wir auch. Ist schon scheißlange her, dass es mal gut lief.«
Letzte Woche waren wir zweimal restlos leer gekauft, aber ich weiß mittlerweile, dass Jim gerne übertreibt.
Heute allerdings bin ich nicht in Stimmung dafür. Ich schneide die Zwiebeln fertig und springe vom Truck, ziehe mir die blauen Gummihandschuhe aus und werfe sie in den Müll.
Gegen den Truck gelehnt ziehe ich mein Handy aus der Tasche und entdecke eine Nachricht von Natalie. Sie hat mich aus dem Straflager entlassen, nachdem ich einem ihrer Bandkollegen aufgetragen habe, ihr vor dem Auftritt in Chicago in meinem Namen einen Caramel Frappuccino von Starbucks zu besorgen.
Ganz ehrlich, so langsam nervt’s und es wird immer mühsamer, da wieder rauszukommen. Besonders wenn ich das Gefühl habe, dass es … eigentlich ständig passiert.
Schon in Ohio! Man sieht sich Freitag
Ich zögere, meine Daumen schweben starr über der Tastatur, weil ein Hauch von Unsicherheit sich in meinem Magen breitmacht. Aber ich schiebe ihn beiseite und schicke ein Kann’s kaum erwarten! zurück, gewürzt mit mehr Emojis als ein Facebookpost in einem Mütterforum.
Ich stecke das Handy ein und gehe zurück, um Jim beim Pommesschnippeln zu helfen. Er beäugt mich, als ich den Schneider übernehme und mich in Rekordzeit durch zwei Kartoffelsäcke sense, schweißnass trotz des kühleren Wetters.
»Alles klar?«, fragt er mit einem belustigten Lächeln.
»Schon gut.« Ich verdrehe die Augen und stopfe eine weitere Kartoffel in den Schneider, um den Hebel mit einem lauten Wumms runterzuziehen. »Nur … Nervereien mit Mädchen.«
Ich rechne noch nicht mal mit einer Antwort, aber Jim drückt den Deckel auf einen der überquellenden Pommeseimer und grunzt beim Hochwuchten. »Kenn ich, kenn ich. Konnt sie mir seinerzeit kaum vom Leibe halten.«
»Echt jetzt?«, frage ich und er lächelt, schiebt den Kübel auf den Truck und zieht dann sein Handy raus.
»Jetzt tu nicht so überrascht«, murmelt er und starrt angestrengt drauf. Nach ein-, zweimal Tippen hält er mir ein verschwommenes Foto von Highschool-Jim unter die Nase, geschniegelt und in Collegejacke, mit je einer Cheerleaderin am muskulösen Arm.
Er sieht aus wie ein ganz anderer Mann.
»Nie im Leben«, sage ich und lasse den Kopf zwischen Foto und Jetzt-Jim hin- und herwirbeln.
Er steckt das Handy wieder ein. »Wahnsinn, was zehn Jahre Drogen und Alkohol mit einem machen.« Damit schnappt er sich einen weiteren Sack Kartoffeln aus dem Vorratsregal und lässt ihn mir vor die Füße plumpsen. »Jetzt bin ich trocken, dank meiner Entziehungskur in Erie und meiner wöchentlichen AA -Treffen, aber verloren hab ich echt alles. Meine Freunde. Meine Familie. Meine Verlobte.«
Mit einem langen Seufzer setzt er sich auf eine Getränkekiste, schiebt sich eine Zigarette in den Mund und steckt sie an. »Wir waren schon seit der Oberstufe zusammen, aber nachdem ich wochenlang nur dicht war, hat sie mich sitzen gelassen. Kann’s ihr nicht verübeln.«
Er starrt in die Ferne, bläst langsam eine Rauchwolke aus. »Alkohol war meine Flucht, verstehst du?«
Ich nicke, voller Wut beim Gedanken an meine Mom. Wie sie sich in Alkohol flüchtet und alles in ihrem Leben mit reinreißt, und zwar in der Sekunde, in der sie die Flasche an den Mund setzt. Ihre Verantwortungen, ihre Beziehungen, ihre Fähigkeiten, wenigstens ein funktionierender Mensch zu sein, von einem Elternteil ganz zu schweigen.
Aber … ich denke auch an mich selbst. Ich trinke vielleicht nicht, aber … ich flüchte mich ebenfalls vor gewissen Dingen, nur auf eine andere Art. Genau wie meine Mutter.
»Das verstehe ich«, sage ich resigniert, starre auf die Kartoffeln, das Netz, das sie mühsam zusammenhält.
Er grunzt im Aufstehen, weist mit dem dicken Finger auf mich. »Was auch immer das Problem ist, Kleine, lauf nicht davon. Du sollst nicht alt und einsam enden wie ich.«
»Jim! Was zum Henker redest du da? Du bist … vierzig oder so!«
»Pah. Egal.« Er wedelt einmal mit der Hand, steckt die Zigarette zurück in den Mund und verlässt die Vorratsecke.
Ich sehe ihm hinterher, aber etwas an dem, was er gesagt hat, will mich nicht loslassen. Weglaufen.
Ich denke an Natalie, wie sie in dieser Nacht in Philly »Ich liebe dich« gesagt hat. Wie sie mir die Augen geöffnet hat für etwas, das mir selbst nie klar war. Wie viel Sicherheit darin liegt, in uns.
Und hier bin ich und sabotiere es. Genau wie immer.
Warum sollte ich davor weglaufen wollen und einem Mädchen hinterherschmachten, das eine andere mag?
Ich kann nicht mehr diejenige sein, die wegläuft, wie Mom. Ich muss bleiben. Und wenn ich es nicht mit Natalie hinkriege, dann kriege ich es mit keiner hin. Ich muss es versuchen.
Ich bücke mich nach den Kartoffeln und ramme sie durch den Kartoffelschneider, entschlossener denn je.