Alex
Ich versuche mein Getränk nicht auf eine Million Leute zu verschütten, bis ich Molly schließlich neben der Toilette an der schwarz gestrichenen Wand lehnen sehe.
»Junge, was machst du da?«, sage ich und deute mit dem Daumen nach hinten zur Ecke an der Bar, wo wir Cora und Natalie gelassen haben. »Du kannst doch nicht einfach deine Verabredung allein lassen. Hab ich dir denn gar nicht …«
»Ich mag sie nicht«, schneidet Molly mir mitten im Satz das Wort ab. Ihr Gesicht ist tiefernst, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen.
»Cora? Wie, du magst sie nicht?«, frage ich, völlig ratlos, was das jetzt bitte soll. Sie haben doch gerade das ganze Cereal-Killers-Konzert hindurch geflirtet.
»Nein. Natalie.«
Ich sehe sie ungläubig an. »Was? Du kennst sie doch nicht mal!«
Molly reckt sich zu mir, keine Spur von Scheu. »Ich weiß genug, um zu wissen, dass du mehr verdient hast als das. Viel mehr!«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Mir gefällt nicht, wie sie dich behandelt«, sagt Molly und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich schüttle den Kopf, lache auf, obwohl sich das hier kein bisschen lustig anfühlt. Bilder der letzten Wochen, in denen sie mich auf Eis gestellt und einfach aufgelegt hat, flackern vor mir auf, aber ich schiebe sie beiseite. Ich muss stark bleiben. Ich kann jetzt nicht wegrennen.
»Tja, wenn der letzte Monat mich eines gelehrt hat, dann, dass du null Ahnung von Beziehungen hast, Molly.« Ich trete einen Schritt näher, schaue drohend zu ihr hinab. »Ich meine, ohne Einsteigertutorial kriegst du es ja noch nicht mal hin eine Verabredung zu treffen.«
Molly zuckt zusammen, doch sie weicht nicht zurück. »Ich weiß, wie eine gesunde Beziehung aussieht, Alex, selbst wenn ich noch keine hatte. Und zwar nicht so.«
»Tut mir leid, aber nicht jeder wurde in die perfekte kleine Familie geboren mit weißem Gartenzaun und zwei Komma fünf Kindern und Beth als Mutter.« Ich mustere sie, den entschlossenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, die fest geballten Fäuste. »Was schert es dich überhaupt? Du hast doch deine Traumfrau.«
Die Fäuste werden noch fester, ihr Kiefer spannt sich frustriert.
»Weil ich dir helfen will, Alex, auch wenn du mich schon den ganzen Abend keines Blickes würdigst. Wir sind doch befreun–«
Ich lasse sie nicht aussprechen. Ich will dieses Wort nicht aus ihrem Mund hören … aus zu vielen Gründen. »Wir sind ja jetzt auch durch mit der gegenseitigen Hilfe, was? Du hast Cora. Natalie ist wieder da. Der Plan ist erledigt, wenn er je wirklich existiert hat. Weißt du, ich hab mir die ganzen Stufen einfach nur ausgedacht, weil du sie so sehr gebraucht hast. Wer interessiert sich schon einen Scheißdreck für Stufe fünf?« Ich weise zwischen ihr und mir hin und her, zwischen uns. »Wir können es jetzt lassen.«
Und dann purzeln die Worte aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten kann. Die, die ich nie zurücknehmen kann. »Wir müssen nicht mehr so tun, als wären wir einander nicht scheißegal!«
Sie treffen ins Schwarze, das sehe ich sofort.
Und es ist … sogar noch schrecklicher, als ich mir hätte ausmalen können – mit anzusehen, wie der kleine Winkel von Mollys Herz, in dem ich mich im Laufe des vergangen Monats eingerichtet habe, völlig zerschmettert wird.
Ihr Blick wird starr und sie weicht zurück, knallt versehentlich in die Wand hinter sich. Tränen steigen ihr in die Augen.
Ich schaue rasch auf meine alten Converse, drücke die Augen zu, als sie an mir vorbei zwischen den Leuten verschwindet.
»Sehr geschmeidig, Alex«, sage ich leise und trete gegen die Wand.
Ich drehe den Kopf und sehe, wie sie Coras Hand nimmt und mit ihr durch die Tür und in die Nacht verschwindet. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Ich leere mein Getränk in einem Zug, finde Natalies Blick am anderen Ende des Raumes, mein Märchenende, das zum Greifen nah ist und das ich nicht in die Luft jagen werde. Ich knalle das leere Glas auf den Tresen und schiebe mich durch die Menge zu Natalie, strecke die Hand nach ihr aus, bereit, bereit.
***
»Ich krieg’s nicht auf«, kichert Natalie, stolpert in mich hinein, der Hotelschlüssel fällt ihr aus der Hand auf den Teppich.
Ich hebe ihn auf und schiebe ihn ins Schloss, die Tür klickt auf.
»Geschafft«, rufe ich in den leeren Flur, bringe sie noch mehr zum Lachen.
Ich bin deutlich über mein Zwei-Drinks-Limit hinaus und wir wissen es beide.
Die Tür ist noch nicht zu, da liegt ihr Mund schon auf meinem, drücken sich unsere Körper zusammen, wühlen sich ihre Finger durch mein Haar. Alles mit einer Gier, die mir das Gefühl gibt, also …
Gewollt zu sein.
Als wäre es, wie es sein soll.
Als wäre gar nichts passiert. Keine Streits. Keine Distanz. Keine Molly.
Ihr Gesicht breitet sich in meinem Kopf aus und ich schiebe es weg, konzentriere mich stattdessen auf das Gefühl von Natalies T-Shirt unter meinen Fingerspitzen. Ich ziehe es ihr aus und unter tiefen Blicken schiebt sie mich nach hinten, schlingt mir die Arme um den Nacken und wir beide stolpern in das riesige Bett, streifen dabei unsere Schuhe ab.
Sie riecht wie die Mentholzigarette, die sie auf dem Weg hierher geraucht hat. Und das Victoria’s-Secret-Spray, das sie in ihrem Gitarrenkoffer versteckt. Und … gegen meinen Willen muss ich an den leichten Blütenduft von Molly denken. Wie schwer und aufdringlich der hier dagegen ist. Natalies Hände bewegen sich meinen Körper hinunter, schon öffnen ihre Finger den Knopf meiner Jeans, ziehen langsam den Reißverschluss runter …
»Stopp«, sage ich, bevor ich überhaupt drüber nachgedacht habe, reiße ich meinen Mund von ihrem los.
Wir sind beide wie vom Donner gerührt.
Sie zieht den Kopf zurück und wie wir einander so anstarren, wird ihr Blick immer schmaler.
Ich rücke von ihr weg, setze mich auf und fahre mir durchs Haar. »Ich weiß nicht. Ich hab einfach das Gefühl, wir sollten vielleicht … erst mal reden.«
Natalie lacht und macht eine erstaunte Miene. »Alex Blackwood will reden?«
»Ja, schon, dieser letzte Monat war ja schon irgendwie …«
Sie küsst mir den Hals, hört mir noch nicht mal zu. Ich will ihr vom Plan erzählen. Von meiner Mutter. Vom Foodtruck, der Zusammenarbeit mit Jim.
Ich will, dass es diesmal anders ist.
»Natalie, komm schon. Ich mein es ernst.«
Sie hört auf, rollt sich stöhnend auf die Seite und steht vom Bett auf, verschränkt die Arme vor der Brust. »Was jetzt , Alex?«
»Was soll das heißen, was jetzt ?«, frage ich. »Das wolltest du doch. Du wolltest, dass ich aufrichtig mit dir bin. Ehrlich. Und offen. Und hier versuch ich es gerade und du hörst mir noch nicht mal zu.«
»Ich meine halt nicht gerade jetzt.« Sie beugt sich vor, zieht mich am T-Shirt. »Komm, ich hab dich einen Monat lang nicht gesehen.«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Aber was ist mit dem, was ich will? Was, wenn ich gerade jetzt reden will?«
Natalie verdreht die Augen. »Was ist los? Willst du mir erzählen, dass du jetzt dieses Mädel Molly willst statt mich? Oder willst du wegen deiner versoffenen Mutter rumjammern? Ach, komm schon, Alex. Du wirst es nie hinkriegen, irgendwem was Wahres über dich zu sagen.«
Ich zucke zusammen. Ihre Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht.
Als würden meine schlimmsten Befürchtungen wahr.
Aber … Ich konnte mit jemandem aufrichtig sein. In der Bibliothek. Auf einer gemusterten Steppdecke in einem kleinen Wohnheimzimmer gar nicht weit von hier.
Und … plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie wollte mir eigentlich nie zuhören. War eigentlich nie wirklich für mich da. Sie wollte einfach nur sicherstellen, dass sie die Oberhand hat.
Das ist keine Liebe.
Die Streitereien. Das fehlende Vertrauen. Das Gefühl, dass ich wie auf Eiern um sie herumschleichen oder irgendwas wiedergutmachen muss. Immer wieder manipuliert zu werden, ohne je zu wissen, was sie eigentlich von mir will.
Wenn überhaupt, dann erinnert es mich an … tja, meine Eltern. Was ich bisher für normal gehalten habe.
Ich dachte, wenn ich nur den Kopf einziehe und versuche irgendwie über die Runden zu kommen, ist alles gut. Dann würden wir es hinkriegen.
Aber Liebe ist nichts, womit man nur irgendwie über die Runden kommen sollte.
Wenn ich an Liebe denke, an das, was ich mir wirklich, wirklich wünsche, dann weiß ich bis ins Mark hinein, dass es mit dem hier nichts zu tun hat.
»Ich …« Ich atme tief durch, drücke die Augen zu und sammle mich. »Natalie, ob du es gerade jetzt willst oder nicht, du hast immer verlangt, dass ich ehrlich zu dir bin. Dir sage, was ich empfinde«, sage ich und weiß, was ich zu tun habe. »Und … ich habe auch endlich das Gefühl, dass ich es kann.«
Ich sehe ihr in die Augen und schüttle den Kopf. »Ich will das hier nicht.«
Natalie stöhnt lang und frustriert auf und zieht sich beim Reden die Haare in einen Dutt. »Lass mich raten. Ich hatte recht. Hier geht’s um Molly.«
Ich denke an Mollys Hand in meiner, als wir durch die Bibliothek gerannt sind. Durch Pittsburgh spaziert sind, nachdem wir uns das Frozen Yogurt geholt haben. Wie sie mir ihren Pitt-Schal um den Hals geschlungen hat. Ihr Lächeln, als sie mich heil um die Rollschuhbahn gelotst und mich immer aufgefangen hat, wenn ich zu fallen drohte. Dieser Moment, als wir zwischen den Regalen auf dem Boden gesessen haben, Bein an Bein, und die Luft nur so geknistert hat.
»Ich bin verrückt nach ihr«, gestehe ich ein. Ihr. Mir. Uns beiden.
Wenn Blicke töten könnten, läge ich hier jetzt als Leichnam vor ihr. »Aber darum geht’s hier nicht. Hier geht’s darum, wie du mit mir umgesprungen bist. Mir sagst, ich soll nach links gehen, und dich dann aufregst, dass ich nicht nach rechts bin. Mir ständig zu verstehen gibst, dass ich nie gut genug sein werde. Als tätest du mir einen Gefallen damit, dass du mich magst.« Ich schüttle den Kopf. »Ein einziges Mal hab ich mich nicht mehr bei dir gemeldet, weil ich Angst und Panik hatte, und ja, das war scheiße von mir, aber du tust es doch ständig, Natalie. In deinen Augen mach ich einfach nie etwas richtig.«
Natalie schnaubt und ein gruseliges Grinsen kriecht ihr ins Gesicht. »Na und? Glaubst du etwa, mit jemand anderem wär’s besser?«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mit jemandem zusammen sein will, bei dem ich mich sicher genug fühle, was über mich zu erzählen. Ich will eine Beziehung haben, in der ich mich über mein Leben unterhalten kann und meine Probleme und … was weiß ich! Ob ich das Studienfach wechsle und Literatur studiere! Und so was hab ich nicht. Wir haben so was nicht.«
»Das ist ja wieder so typisch. Wegrennen und dichtmachen, weil du mit etwas Echtem nicht umgehen kannst.«
Ich schüttle den Kopf. Bis zu diesem Abend hätte ich ihr geglaubt. Aber jetzt nicht mehr. »Ich … renne aber gar nicht weg. Ich renne auf etwas zu. Das ist das Echte. Nichts von dem, was du mir gesagt hast, ist echt.«
»Alex«, sagt sie und legt mir die Hände auf die Schultern. »Komm schon. Das ist dummes Geschwätz und das weißt du auch. Niemand kennt dich so gut wie ich. Ich kenne deine guten und deine schlechten Seiten. Dich, genau, wie du bist. Ich weiß, wo du herkommst. Ich weiß, dass du im Grunde einfach nur völlig verkorkst bist, und trotzdem hab ich die letzten sechs Monate zu dir gehalten, trotz deines Rumgeflirtes und deiner Lügen und allem. Sogar dem Scheiß mit deiner Mutter. Willst du das jetzt einfach wegwerfen?«
Ich sehe mich im Zimmer um. Zu meinen Schuhen, die ich an der Tür abgestreift habe. Zu Natalies T-Shirt auf dem Boden. Zu Natalie, die mich ansieht … als wäre ich der letzte Dreck.
Und das ist die Antwort, von der mir noch nicht mal klar war, dass ich nach ihr suche. Warum ich an jenem Abend in Philly nicht »Ich liebe dich« zu ihr sagen konnte. Weil ich mir nie wirklich sicher sein konnte.
Sie war einfach … nicht die Richtige für mich.
Ich stehe auf, schiebe mir ihre Hände von den Schultern. »Vielleicht konnte ich einfach nicht offen mit dir sein, weil du es nicht wert warst.«
Ihre Augen werden groß, als ich einen Schritt auf sie zumache, um es ihr direkt ins Gesicht zu sagen, leise und bestimmt. »Ein Mädchen wie Molly mag ich nicht verdient haben. Aber besser als das hier kann ich es haben, das weiß ich nur zu genau.«
Und damit schlüpfe ich in meine Converse und gehe aus der Tür, achte darauf, sie genauso hinter mir zuzuschlagen wie in jener Nacht vor einem Monat.
Nur diesmal fühlt es sich tatsächlich gut an. Diesmal fühlt es sich richtig an.