Molly
Beim Telefonat mit meiner Mutter ist kein Wort drüber gefallen, wie rar ich mich gemacht habe, ganz zu schweigen von all den Anrufen, die ich überhört, und den Nachrichten, die ich übersehen habe. Ganz ehrlich, ich glaube, sie hat sich einfach gefreut mit mir zu sprechen. Aber dann, als ich sie gefragt habe, ob ich mir eins ihrer Abendkleider borgen könnte, hat sie beharrlich drauf bestanden, hier vorbeizuschauen, damit wir noch einen Abstecher ins Einkaufszentrum machen können … nur wir beide. Immerhin das konnte ich ihr ausreden, aber dann wollte sie anrücken, um mir beim Fertigmachen zu helfen und wenigstens zusammen mit Cora und mir Mittag zu essen.
Und ganz ehrlich, so schlecht fand ich die Idee nicht. Die Eltern zu treffen erscheint mir wie ein großer Schritt in einer Beziehung. Vielleicht war das Stufe fünf … Eltern kennenlernen. Nicht, dass es jetzt noch von Bedeutung wäre.
Wirklich, der Gedanke, dass meine zwei liebsten Menschen einander treffen, hat mich in freudige Aufregung versetzt. Mit ihr und Alex ist alles so glatt gelaufen, dass ich mir vorher gar keinen Kopf gemacht habe.
Wenigstens bis jetzt nicht, wo ich mit beiden um einen winzigen Tisch im Point Brugge sitze, dem Lieblingsladen meiner Mutter.
»Und, Cora, was studierst du?«, erkundigt sich meine Mutter, als die Kellnerin ihr ein Reuben-Sandwich mit Pommes frites vorsetzt.
»Ich hab Englische Literatur und Geschichte im Hauptfach und im Nebenfach noch Französisch«, sagt Cora und hält inne, um der Kellnerin für ihren Pittsburgh-Salat zu danken. Salat, Cheddar, hart gekochtes Ei und Bacon, und darüber der klassische Pittsburgh-Pommesberg.
»Pommes … auf einem Salat?«, fragt Cora und senkt den Blick auf den Teller. »Magst du so was, Molly?«
»Nun ja …«, fange ich an, doch meine Mutter fällt mir ins Wort.
»Die mögen wir am liebsten«, sagt sie und mir stellen sich die Nackenhaare auf, als sie sich eine Handvoll ihrer eigenen Pommes in den Mund schiebt und mir dabei zuzwinkert.
»Das ist echt nichts für mich«, entgegnet Cora und klaubt sie mit der Gabel auf ihre Serviette, bevor sie ihr Dressing drüberschüttet. »Egal! Gerade steh ich so richtig auf griechische Mythologie. Ich hab dieses Buch gelesen über den Ursprung von Apollo …« Ihr ganzer Körper strahlt diese Begeisterung aus, die mich damals im Unterricht auf sie aufmerksam gemacht hat. Ich lächle, sehe ihr zu, wie sie anfängt jedes kleinste Detail des Buchs nachzuerzählen, wie Apollo durch die Welt reist und einen Ort findet, wo er seinen Tempel errichtet und …
So langsam tun mir die Backen weh, also lasse ich mein Lächeln zu einer geraden Linie fallen.
Ich blicke zu meiner Mom hinüber und kann sehen, wie ihr Blick unter Coras Ausführungen ganz glasig wird.
»Wir …«, versuche ich einen Themenwechsel und erzähle meiner Mutter, dass wir zusammen in Biologie sind, aber Cora bügelt mit weiteren Details aus ihrem Buch irgendwie über mich drüber.
Bis jetzt war mir nie so klar, wie gerne sie doch redet. Bei der Party war ich dankbar dafür. Sie hat das Schweigen gebrochen, als ich zu aufgeregt war, um irgendwas rauszubringen. Also ist es mir nie so richtig aufgefallen, aber … jetzt, wo ich es möchte, komme ich einfach nicht zu Wort.
Ich spüre, wie sich angesichts der immer zäher werdenden Szene auf meinem Nacken eine Schweißschicht bildet. Meine Mutter hat ganz offensichtlich innerlich aus dem Gespräch ausgecheckt, obwohl sie immer noch gelegentlich ein höfliches »Ach« und »Oje« beisteuert.
Sie kann sie nicht ausstehen. Meine Mom kann sie nicht ausstehen.
Herrgott, was war das für eine Schnapsidee. Ich hab einfach gedacht, sie würde sie so mögen, wie ich es tue.
Vielleicht redet Cora auch aus schierer Nervosität, weil meine Mutter da sitzt. Das könnte ich völlig nachvollziehen.
Als wir schließlich mit dem Mittagessen fertig sind, habe ich mein Sandwich kaum angerührt, so verkrampft und angespannt bin ich. Also lasse ich es mir für später einpacken und folge meiner Mutter zum Auto zurück, neben Cora.
»Zum Glück hat sie mich gemocht. Ich war so aufgeregt«, flüstert sie mir zu, ohne auch nur die Spur aufgeregt zu wirken. Ich nicke lächelnd, überrascht, aber erleichtert, dass sie meine Mutter so schlecht lesen konnte.
Als wir das Auto erreichen, zieht meine Mutter vier lange Kleider aus dem Kofferraum, von denen ich mir eins aussuchen soll.
»Welches soll’s sein?«, fragt sie und breitet sie für mich aus. Es gibt ein blaues mit weißen Blumen, ein salbeigrünes mit tiefem V-Ausschnitt und ein schlichtes schwarzes, das für mich am vielversprechendsten aussieht, wenn ich unbedingt eins nehmen muss … was wohl so ist, denn in meiner neuen Jeans kann ich kaum bei diesem Kunstdings aufkreuzen. Es gibt noch ein viertes, aber das ist so jenseits meines Geschmacks, dass ich nicht mal …
»Oh Gott! Das da!«, brüllt Cora und klammert sich an einem knallroten, bodenlangen Kleid fest … dem vierten.
»Wirklich? Ich hätte gedacht, du willst das schwarze.« Meine Mom beäugt mich misstrauisch.
»Nein, mir gefällt das rote«, entgegne ich, nehme es Cora ab und gehe zum Beifahrersitz. Warum kann sie mich das nicht einfach alleine regeln lassen?
Die Fahrt zum Campus verläuft unter eisigem Schweigen, mein Blick klebt auf dem Kleid in meinem Schoß. Dem knallroten Kleid.
Cora und meine Mutter tauschen noch ein paar Höflichkeitsfloskeln aus, dann springt Cora vor ihrem Wohnheim aus dem Auto. Ich sage ihr, wie sehr ich mich auf morgen freue, und sehe ihr hinterher, wie sie durch die Tür verschwindet.
Dann sitzen wir einfach nur da, geparkt am Straßenrand. Ich sage nichts und meine Mutter sagt auch nichts. Ein Ding der Undenkbarkeit.
Schließlich schneidet ihre Stimme durch die ohrenbetäubende Stille. »Cora scheint nett. Magst du sie sehr? Ist alles genauso, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Hör auf damit«, sage ich, kaue auf meinem Finger herum und starre aus dem Fenster.
»Aufhören womit? Was hab ich denn gemacht?«
»Ich weiß, dass du sie nicht magst.«
»Molly.« Sie seufzt. »Ich freu mich aufrichtig für dich, wirklich!«
»Aber mögen tust du sie nicht«, wiederhole ich und ärgere mich über mich selbst, weil mir ihre Meinung immer noch so viel bedeutet.
»Ich muss sie einfach noch besser kennenlernen. Du kennst mich doch. Ich brauche ein bisschen, bis ich mit Leuten warm werde.«
»Ach echt?«, frage ich und sehe sie an. »Bei Alex hast du keine zwei Sekunden gebraucht, um mit ihr warm zu werden.«
»Was willst du von mir hören?«, fragt sie schulterzuckend. »Ja, Alex mochte ich. Weil du an dem Tag im Einkaufszentrum so glücklich warst. In ihrer Gesellschaft bist du anders. Auf gute Art. Du warst mehr … wie du selbst als mit anderen Leuten.«
»Du hast Cora nicht mal eine Chance gegeben und du weißt offensichtlich gar nichts über Alex. Ich glaube nicht, dass du überhaupt irgendwas über mich weißt«, sage ich verbittert.
»Was soll das bitte heißen?«
»Nichts. Vergiss es«, entgegne ich, ringe mit mir, um nicht mit allem rauszuplatzen.
»Du reagierst wochenlang nicht auf meine Anrufe oder Nachrichten und jetzt glaubst du, ich weiß nichts über dich? Ich kenne dich besser als irgendwer sonst. Ich weiß übrigens genau, dass du dieses Kleid hier nicht ausstehen kannst.«
»Hier geht’s nicht ums Kleid«, fahre ich sie an, wie ich es noch nie getan habe. »Hier geht’s um mich! Ich versuche mich weiterzuentwickeln, weg von der Schulzeit, aber du versuchst ständig mich zurückzuschleifen! Ich bin praktisch eine ganz andere als die, die du vor einem Monat hier abgesetzt hast, und das macht dir Angst! Natürlich willst du nicht, dass ich mit Cora zusammen bin, weil das bedeutet, dass ich jemanden in meinem Leben haben könnte, der mir wichtiger ist als du!« Meine Mutter zuckt zusammen, bekommt einen starren Blick, aber das hier hätte ich ihr schon vor Ewigkeiten sagen sollen. Zum ersten Mal überhaupt habe ich meine Stimme gefunden. »Wenn ich jetzt mit dir zusammen bin, kommt es mir vor, als würde ich mich wieder zu der Person zurückentwickeln, die ich nicht mehr sein will. Weißt du noch im Einkaufszentrum neulich, als du so unhöflich zu dem koreanischen Mann warst?«
»Da war ich nicht unhöflich, Molly. Ich …«
»Doch, du warst unhöflich. Weißt du, wie ich mich dann fühle? Ich fühle mich noch schlechter in meiner Haut, als ich das ohnehin tue. Ich liebe dich, Mom, aber ich will nicht, dass du meine einzige Freundin bist. Ich will mich nicht dafür verachten, Koreanerin zu sein, wie du es tust. Ich will nicht mehr hassen, wer ich bin, und ich will nicht mein ganzes Leben diese ständige Angst mit mir herumtragen, die alles in mir abschnürt. Ich hab es so satt, alle auf Abstand zu halten, weil ich glaube, ich bin nicht gut genug. Ich hab es so satt, mich in eine Form zu pressen aus lauter Furcht, dass Leute mich sehen könnten, wie ich bin!«
Ich schnaufe durch, drehe mich zum Beifahrerfenster, weil ich den Blick, den sie mir jetzt unter Garantie zuwirft, nicht ertragen kann. Als hätte sie eine Fremde im Auto. Noch nie habe ich so mit ihr gesprochen.
Ich warte darauf, dass sie sich wehrt, versucht mich davon zu überzeugen, dass ich sie brauche oder sie mich, aber sie tut nichts von beidem.
»Es tut mir leid«, sagt sie mit einer ganz leisen Stimme. Ich blicke zu ihr rüber und sehe, dass sie mich kein bisschen anstarrt wie eine Fremde. Sie sieht mich an, als wäre ich der Mensch, den sie am meisten liebt, und als hätte ich ihr gerade das Herz gebrochen, was noch viel schlimmer ist.
»Es tut mir leid, dass ich mich so an dich geklammert habe. Es tut mir leid, dass meine Probleme mit meiner asiatischen Herkunft so einen Druck auf dich ausüben. Ich wollte nie so eine Mutter sein, die dir das Gefühl gibt, du wärst nicht gut genug, oder dir Steine in den Weg rollt. Das war nie meine Absicht, Molly, das verspreche ich dir. Ich hab immer gewollt, dass du deine eigenen Entscheidungen triffst und mit Leuten ausgehst, die du magst, und dein eigenes Leben führst und nicht nur unseres … aber ich bin immer noch deine Mutter und ich werde dir sagen, wenn du falschliegst, und bei einer Sache liegst du falsch.« Sie hebt die Augenbrauen, wie um Erlaubnis zu fragen.
Ich nicke.
»Ich finde, du bist sagenhaft. Und ich glaube nicht, dass sich das erst im letzten Monat entwickelt hat. Du warst schon immer sagenhaft. Ich meine, du kannst in diesem Leben alles tun, was du willst. Ich meine, du kannst alles haben.« Sie dreht sich mir zu, sieht mir tief in die Augen, während ich versuche die Tränen wegzublinzeln. Sie fährt fort. »Und du solltest mit einer Person zusammen sein, die das auch sieht und dich so für sich haben will, wie ich das wollte. Gib dich nur nicht mit etwas zufrieden, was nicht genau das ist, was du willst. Nicht bei mir und nicht bei jemand anderem. Das ist das Einzige, was mir wichtig ist, denn du verdienst nur das Beste, Molly Parker. Du hast es vor einem Monat verdient und du verdienst es jetzt. Du solltest mit dem Menschen zusammen sein, bei dem du ganz du selbst sein kannst. Wo du dich nicht anstrengen musst zu beeindrucken.« Ihre Augen sinken hinab zum Kleid in meinem Schoß.
»Das ist nur ein Kleid«, entgegne ich.
»Solang nicht mehr dahintersteckt.«
»Mehr steckt nicht dahinter«, erkläre ich, vielleicht im Versuch, mich selbst zu überzeugen.
Sie atmet tief durch und blickt aus dem Fenster. »Und ich weiß, dass mein Verhältnis zu meiner Herkunft etwas verkorkst ist, aber ich kann nicht einfach den Schalter umlegen und es ändern, nicht bei meiner Kindheit. Versucht hab ich’s.«
»Ich weiß«, entgegne ich, weil mir klar ist, dass ich nie völlig begreifen werde, was sie durchgemacht hat.
»Aber ich werde mich weiter bemühen. Weil ich nicht will, dass du dieselben Probleme hast wie ich. Ich will nicht, dass du dich für irgendwas an dir schämst.« Sie schaut mich an und ich lächle ihr schwach zu, nehme über die Konsole hinweg ihre Hand.
»Es tut mir leid, dass ich dich so abgeblockt habe. Das hast du … kein bisschen verdient.«
»Wie wär’s, wenn ich meine Anrufe mal sein lasse, und wir treffen uns in ein paar Wochen zum Mittagessen und du erzählst mir von der Vernissage oder … von was du mir eben erzählen willst«, sagt sie. »Und bitte lad auch Cora dazu ein. Ich möchte sie besser kennenlernen, wirklich.«
»Klingt gut«, sage ich. Als ich beginne meinen Kram einzusammeln, streckt sie den Arm aus und legt mir sanft die Hand auf die Wange.
»Hey.« Ihr Daumen streichelt mir über die Haut. Sämtliche Muskeln, die seit dem Mittagessen so verknotet waren, lassen endlich ein wenig locker. »Es ist völlig gleichgültig, was ich denke oder was Noah denkt oder was irgendwer sonst denken mag. Folge einfach deinem Gefühl, Schätzchen. So hast du’s immer gemacht.« Ihre Hand fällt wieder in ihren Schoß.
Ich nicke, öffne die Tür und trete auf den Gehsteig. »Danke fürs Kleid und das Essen.« Ich halte die Kleidertasche und die Doggybag hoch. »Ich lieb dich.«
»Ich liebe dich auch. Wir sehen uns in ein paar Wochen«, sagt sie und ich lächle ihr rasch zu, bevor die Ampel grün wird und ich über die Straße zum Wohnheim jogge.
Ich fühle mich ein wenig leichter, als wäre eine Sache endlich geklärt. Aber nicht alles.
Es sollte so einfach sein.
Wenn ich sie mag, dann ist alles andere bedeutungslos.
Und ich mag sie.
Ich habe alles, was ich mir in den letzten vier Jahren erträumt habe.
Warum fühlt es sich dann so an, als fände ich mich ab?