»Ich würde ihr gern ein paar Fragen stellen«, sagte Markou zu Mariama Milandi und deutete auf ihre Tochter.

Bevor ihre Mutter antworten konnte, stand Sophie auf, legte das Handy auf den Schreibtisch und nahm fast militärisch Habachtstellung ein. Ganz im Gegensatz zur besorgten Miene ihrer Mutter leuchteten ihre unverwandt auf den Kommissar gerichteten Augen vor Begeisterung.

In ihrem Alter, in dem die Übergänge zwischen Realität und Phantasie noch fließend waren, stellte der Tod für die zehnjährige Sophie beinahe eine Art filmische Erfahrung dar. Ein Ferienabenteuer, über das sie ihren Klassenkameradinnen ausgiebig berichten konnte, wenn sie in wenigen Tagen wieder in die Schule musste.

Der Umstand, dass Kinder im Fernsehen und in Videospielen ständig den unterschiedlichsten Formen von Gewalt ausgesetzt sind, trägt möglicherweise mit zu ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod eines Menschen bei, der ihnen nicht nahesteht. Wie zutreffend diese Theorie war, die Markou in seiner Masterarbeit in Kriminologie aufgestellt hatte, musste sich erst noch zeigen. Außer Zweifel stand jedoch, dass es das Mädchen kaum erwarten konnte, seine Fragen zu beantworten.

»Bist du sicher, Schatz, dass du …«, murmelte die Mutter, bevor ihr die nachdrückliche Antwort der Tochter das Wort abschnitt.

Sie ließ sich von ihrer Mutter auf den Schoß ziehen und an sich drücken. Es war, als versuchte Mariama Milandi, ihre Tochter vor ihren eigenen Worten zu beschützen.

Milandi nickte dem Kommissar zu, worauf dieser um den Schreibtisch herum kam, sich auf ihn setzte und die Beine in der Luft baumeln ließ – eine Haltung, die ihm etwas Lockeres und Zugewandtes verleihen sollte. Mit einem freundlichen Lächeln und einer Stimme, die trotz seines starken griechischen Akzents samtener klang als sonst, begann er: »Dann erzähl doch einfach mal, wie du …«

Er hielt mitten im Satz inne. Waren die Wörter »Leiche« oder »die Tote« einem Kind wirklich zuzumuten?

Er musste jedoch nicht lange über die richtige Wortwahl nachdenken, denn bevor er seine Frage zu Ende stellen konnte, holte das Mädchen tief Luft und schon sprudelte alles aus ihm heraus. Sophie sprach ohne Punkt und Komma, ohne Pause, ohne das geringste Anzeichen von Scheu.

»Plato, die Nachbarskatze, war bei mir auf der Terrasse, aber dann hat sie plötzlich wegen irgendwas Angst bekommen und ist aus meinem Schoß gesprungen und die Treppe runtergerannt. Ich bin ihr nach unten gefolgt und habe mich zuerst im Hof umgeschaut. Dann habe ich in die Schlafzimmer geguckt, bis nur noch die Abstellkammer übrig war. Ich bin reingegangen und hab das Licht angemacht, und da hab ich alles gesehen. Mir war natürlich sofort klar, dass was Schlimmes passiert ist. Deshalb bin ich gleich nach oben gelaufen und hab meiner Mutter alles erzählt.«

Am Ende ihrer Schilderung holte sie erneut tief Luft und sah ihre Mutter an. Deren Lächeln bestätigte ihr, dass es an ihrer Darstellung nichts auszusetzen gab.

»Kanntest du Lucy gut?«, fragte der Kommissar.

»Worüber hast du denn mit ihr gesprochen?«

»Ach, über alles Mögliche. Über die Schule, über Bücher, über eine Serie, die wir beide mochten, was ich mal werden will, wenn ich groß bin, und …« Sie zögerte.

Mit noch freundlicherer Stimme fragte Markou: »Willst du mir das vielleicht lieber ins Ohr flüstern?«

Ohne die Überraschung, die sich in ihrer Miene zeigte, in Worte zu fassen, begann Mariama Milandi das Haar ihrer Tochter zu streicheln. Mit ruhiger, eine Spur ernsterer Stimme sagte sie: »Du kannst dem Herrn Kommissar alles erzählen, was du willst, Schatz. Zwischen uns gibt es keine Geheimnisse.«

Das Mädchen nickte wieder.

»Also, Lucy hat mich immer nach Mama und Papa gefragt, und nach Opa und Mamas Freunden hier auf der Insel. Sie wollte wissen, ob ich sie nett oder unsympathisch finde, und manchmal haben wir über ihre Kleider gesprochen und was sie gesagt haben, und ob ich sie über Lucy oder andere reden gehört habe. Wir haben uns wie zwei Erwachsene unterhalten. Das war unser Geheimnis«, schloss Sophie und wischte dabei, ohne einen der Erwachsenen anzusehen, ein unsichtbares Stäubchen von ihrem Knie.

Aus Mariama Milandis Miene ging deutlich hervor, dass sie zum ersten Mal von den Gesprächen zwischen Lucy Davis und ihrer Tochter hörte. Ohne ihr jedoch Gelegenheit zu geben, es zu kommentieren, fuhr Markou an Sophie gewandt fort: »Und gestern Abend auf der Party, habt ihr da über etwas Bestimmtes gesprochen?«

»Mit welchen Freunden?«

»Alessandra und Fausto.«

»Alessandra und Fausto Ardolini. Ein italienisches Paar. Sie haben das Haus hinter dem Rathaus gemietet«, ergänzte Mariama Milandi die Angaben ihrer Tochter.

Markou vergewisserte sich, dass Maroulas alles mitschrieb.

»Hat sie sich auch mit anderen Leuten unterhalten? Weißt du das noch?«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln und kommentierte diese komische Frage mit einem Seufzen, bevor sie antwortete. »Mit einer Menge Leute. Sie hat immer mit einer Menge Leute geredet.«

Dann drehte sie das Gesicht zu ihrer Mutter und flüsterte: »Ja, Lucy war nett. Wirklich schade, dass …«

Sie seufzte noch einmal und schmiegte sich an ihre Mutter, die sie noch fester an die Brust drückte.