Während Markou Mariama Milandi und ihre Tochter zum Ausgang begleitete, versuchte Maroulas, Mehmet Ersen telefonisch zu erreichen.
Bevor sich der Kommissar von Mutter und Tochter verabschiedete, schärfte er ihnen noch einmal ein, am Tatort nichts anzufassen und niemanden in seine Nähe zu lassen. Um Neugierige fernzuhalten, bestand er außerdem darauf, dass sie die Tür zum Innenhof – entgegen ihrer Gewohnheit – selbst dann abschlossen, wenn sie zu Hause waren. Inzwischen wusste bestimmt ganz Nissos von dem Mord.
Als er schließlich die Tür gegen den heulenden Wind aufdrückte, bat er sie zum zigsten Mal, ihn anzurufen, wenn ihnen noch etwas ein- oder auffiel. Dabei sah er auch das Mädchen an, die als Antwort den Daumen reckte.
Als Markou ins Wartezimmer zurückkehrte, erhoben sich alle, die ihre Aussage zu Protokoll geben sollten. Ohne dazu aufgefordert zu werden, gingen die zwei Männer auf die Tür des Büros zu. Die Stimme der Frau ließ sie jedoch abrupt stehen bleiben.
»Könnten Sie mich bitte als Erste drannehmen, Kommissar. Mein vierjähriger Sohn ist allein zu Hause.«
Ihre Bitte wurde von einem scheuen Lächeln auf ihren schmalen Lippen begleitet.
»Selbstverständlich«, sagte Markou und deutete mit einer schwungvollen Handbewegung in Richtung Büro.
Als er mit Nadine Hazera-Fasteau an dem grauhaarigen Mann vorbeiging, brachte dieser mit einem geräuschvollen Schnauben seinen Unmut zum Ausdruck. Wäre er ein Drache gewesen, hätte er Feuer gespien. Markou zeigte sich unbeeindruckt.
Wenig später notierte sich Maroulas die Personalien aus dem Pass der Frau.
Nadine Hazera-Fasteau, Staatsangehörigkeit französisch, geboren in Bordeaux, achtunddreißig Jahre, schrieb der Kadett unter dem wachsamen Blick des Kommissars. Nachdem er den Namen ihres Ehemanns, Olivier Fasteau, und ihre Adresse im 16. Pariser Arrondissement eingetragen hatte, vermerkte er am Rand: Mit ihrem Sohn und einer Kinderfrau vorübergehend wohnhaft im Haus von Vardekou im Trimartyris-Viertel von Chora. Ihr Ehemann wird in den nächsten Tagen erwartet.
Sobald diese letzten Details zu Papier gebracht waren, bedankte sich Hazera bei Markou auf Englisch, dass er sie als Erste drannahm.
»Ich ’abe nicht viel zu sagen. Eigentlich ’abe ich gar nichts zu sagen. Ich werde Sie also nicht lange auf’alten«, fügte sie mit ihrem starken französischen Akzent hinzu. Ihr ständiges Zögern und die langen »eeeeehs« vor jedem Satz, als müsste sie selbst für die simpelsten Aussagen nach den richtigen Worten suchen, waren für den Fortgang der Vernehmung nicht gerade förderlich. Deshalb schlug Markou vor, dass sie das Gespräch auf Französisch führten und Maroulas ihre Aussagen übersetzte.
Das schien sie zu beruhigen, denn das nervöse Wippen ihres Beins ließ nach.
»Merci!«
In ihrer Muttersprache klang ihre Stimme angenehmer.
»Vermutlich wissen Sie, was passiert ist«, begann Markou.
»Ja. Madame Maro hat es mir heute Morgen erzählt.«
Das übersetzte Maroulas und erklärte, dass Maro die einzige Bäckerei in Chora führte.
»Einfach schrecklich, dass hier so etwas passiert«, fuhr Hazera fort. »Unvorstellbar.«
»Kannten Sie Lucy Davis?«
»Ja. Das heißt, nein, jedenfalls nicht gut. Ich wusste, wer sie war, ich wusste, dass sie Journalistin war, ich bin ihr gelegentlich bei gemeinsamen Bekannten begegnet. Bis auf ein kurzes Hallo und Auf Wiedersehen haben wir allerdings kaum ein Wort miteinander gewechselt.«
»Dann wissen Sie also nicht, was sie für ein Mensch war oder ob ihr jemand etwas Böses wollte?«, fuhr Markou fort.
»Nein«, antwortete Hazera-Fasteau knapp.
»Haben Sie sie gestern auf Mariama Milandis Party gesehen?«
»Ja. Wir haben uns gegrüßt, aber das war alles. Außerdem bin ich nicht lange geblieben – wegen meines kleinen Sohns, wie Sie sicher verstehen werden. Ich lasse ihn nicht gern längere Zeit allein.«
»Wann sind Sie gekommen, und wann sind Sie wieder gegangen?«
»Angekommen bin ich gegen halb neun, nachdem mein Sohn eingeschlafen war. Wieder zu Hause war ich Punkt elf Uhr neununddreißig. Ich habe in dem Moment, in dem ich die Tür aufgeschlossen habe, auf die Uhr geschaut.«
»Und Ihr Sohn hat bereits geschlafen, sagen Sie.«
Das bestätigte Hazera-Fasteau, worauf Markou fortfuhr: »Weshalb hatten Sie es dann so eilig, nach Hause zu kommen?«
Sie schien die Frage nicht zu verstehen und brauchte eine Weile, um darauf zu antworten. »Er war natürlich nicht allein zu Hause. Wir haben ein Kindermädchen. Aber in letzter Zeit ist er oft aufgewacht und hat nach mir gefragt. Deshalb wollte ich zu Hause sein, falls das wieder passiert. Allerdings wäre ich auch unabhängig von meinem Sohn früh gegangen. Ich bin nicht sehr gesellig. Ich komme nicht besonders gut zurecht mit anderen Menschen, vor allem …« Sie verstummte abrupt.
»Vor allem?«, hakte Markou nach.
»Vor allem nicht mit Frauen«, fügte sie hinzu. »Da besteht immer eine gewisse Konkurrenz, die ich weder provoziere noch verstehe. Selbst Mariama, die wirklich sehr nett ist, würde ich nicht als meine Freundin im eigentlichen Sinn bezeichnen. Wie auch sonst niemanden auf der Insel. Wenn Olivier, mein Mann, nicht darauf bestünde und wenn wir das Boot für unsere täglichen Ausflüge nicht hätten, weiß ich nicht, ob ich auf Nissos Urlaub machen würde.«
Der Kadett übersetzte und erklärte auf Griechisch – damit Hazera es nicht verstand –, dass diese Abneigung vermutlich auf den Umstand zurückzuführen war, dass Nadine Hazera vor sechs Jahren Olivier Fasteau geheiratet hatte, einen extrem reichen Mann, der wesentlich älter war als sie.
»Sie wissen ja, wie Frauen manchmal sind«, bemerkte Maroulas mit einem kurzen Blick in das ausdruckslose Gesicht des Kommissars.
»Sonst kann ich Ihnen nichts sagen«, erklärte Hazera, als Maroulas geendet hatte. »Und ich bin sicher, dass Lucy noch am Leben war, als ich gegangen bin. Ich erinnere mich, dass sie mit dem griechischen Galeristen geredet hat.«
»Timos Karas«, sagte der Kadett.
»Waren Sie jemals im Erdgeschoss von Mariama Milandis Haus?«
»Nein. Haben Sie sie dort gefunden?«
Markou nickte.
»Wussten Sie, wo die Abstellkammer ist?«
»Nein«, antwortete sie.
Doch ein paar Sekunden später fügte sie hinzu: »Wissen Sie, jedes Haus auf der Insel ist anders. Egal ob man zwei oder ein Dutzend besucht, man könnte trotzdem nie sagen, was sich in jedem Winkel, in den Innenhöfen und auf den Terrassen verbirgt. Sie sehen aus wie mit Tetris-Steinen gebaut, ein einziges Durcheinander, vollkommen planlos.«
»Sie haben schon in mehreren Häusern hier gewohnt, oder?«, fragte Maroulas, bevor er seine Frage für Markou übersetzte. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie vor fünf Jahren in einem von Pierre de Saintsimons Häusern an der Platia gewohnt.«
»Ja«, antwortete sie argwöhnisch und sah den jungen Kadetten an, als wüsste sie nicht recht, was sie von ihm halten sollte.
»Im August haben Olivier und ich eins von Pierres Häusern gemietet, aber … aber das Haus war zu klein für meinen Sohn und das Kindermädchen. Deshalb wohnen wir jetzt im Vardekos-Haus. Es ist größer, wesentlich ruhiger und … der Besitzer ist sehr nett, ganz im Gegensatz zu …«
Während Maroulas ihre Aussagen übersetzte, fügte Hazera flüsternd noch etwas hinzu. Markou entging das überraschte Grinsen des jungen Polizeianwärters nicht. Doch er übersetzte ihm ihre letzte Bemerkung nicht.
Damit war die Vernehmung beendet. Hazera bedankte sich und ging in etwas ruhigerer Verfassung, als sie gekommen war.
Bevor Markou die zwei im Vorzimmer wartenden Männer ins Büro bat, fragte er Maroulas, was Hazera gesagt hatte, das ihn zum Grinsen gebracht hatte.
Der junge Polizeianwärter zuckte nur mit den Achseln und antwortete so leise, dass es im Wartezimmer nicht zu hören war. »Es ging um Pierre de Saintsimon, einen der Männer, die gleich hereinkommen. Sie hat ihn als ›unangenehm‹ bezeichnet.«
Und mit einem gemeinen kleinen Grinsen fügte er hinzu: »Um genau zu sein, hat sie ihn la méchante genannt – einen Fiesling, aber im Femininum!«