»Wurde aber auch langsam Zeit!«, schimpfte de Saint- simon beim Betreten des Büros und setzte sich auf den freien Stuhl, sodass sein Partner stehen musste.

Jacques Moreno vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass es keine andere Sitzgelegenheit gab, und nahm sein Schicksal mit einem leisen Seufzen hin.

»Soll ich einen Hocker bringen?«, fragte Maroulas den Kommissar. Auf dessen Nicken hin ging er ins Wartezimmer und kam wenige Sekunden später mit einem Metallhocker zurück, den er neben den Stuhl stellte. Moreno dankte ihm mit einem Lächeln.

»Dem Wenigen nach zu schließen, was ich gehört habe«, wandte sich Markou an Pierre de Saintsimon, »sprechen Sie fließend Griechisch.«

»Natürlich«, schnaubte de Saintsimon und verschränkte die Arme über der Brust. »Meine Mutter war Griechin. Ich bin in Belgien dreisprachig aufgewachsen: Französisch, Griechisch und Flämisch.«

Markou fragte Jacques Moreno, ob auch er Griechisch spräche, doch de Saintsimon fuhr einfach fort: »Meine Mutter war eine ganz außergewöhnliche Frau. Sie stammte von hier, und ihrer Familie gehörte halb Nissos. Von ihr habe ich meine ganzen Immobilien geerbt. Wir sind den ganzen Sommer über ausgebucht. Jacques versteht zwar alles, aber richtig Griechisch sprechen kann er nicht. Fremdsprachen

»Ja, ich verstehe alles. Aber mit dem Sprechen hapert es ein bisschen«, bestätigte Jacques in gebrochenem Griechisch. Sein freundliches Gesicht und sein offener Blick standen in auffälligem Gegensatz zum aufgeblasenen Gehabe seines Partners.

Das Häkchen neben de Saintsimons Namen verriet, dass er die Ermordete gut gekannt hatte; und er war gegangen, bevor ihre Leiche gefunden wurde.

»Kannten Sie die Verstorbene?«, fragte Markou, um sich das noch einmal bestätigen zu lassen.

»Sehr gut sogar«, fiel de Saintsimon ihm regelrecht ins Wort. »Sie war eine sehr, sehr gute Freundin von uns. Wir sind sehr traurig.«

Nichts in seinem Ton brachte seine Trauer zum Ausdruck.

»Ja, ja, sehr traurig« bestätigte Jaques Moreno.

»Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie und warum jemand Lucy so etwas antun konnte. Ausgerechnet Lucy! Sie war so ein netter Mensch!«

»Kann nicht verstehen«, fügte Jacques in holprigem Griechisch hinzu.

»Hatte sie Feinde? Jemand, der etwas gegen sie hatte?«

»Nein, absolut niemand!«, antwortete de Saintsimon und betonte dabei jede Silbe. »Sie war immer für jeden da, so ein offener Mensch, allen eine echte Freundin. Meine Mutter hat immer gesagt, die Nettesten trifft es oft besonders hart. Sie hatte recht!

Lucy und wir haben uns vom ersten Tag an super verstanden. Ich habe ihr sogar mitten in der Hochsaison ein kleines Haus vermittelt. Das ist alles andere als einfach!«

Auf Markous verblüfften Gesichtsausdruck hin erklärte de Saintsimon: »Vor etwa einer Woche, vor acht Tagen, um genau zu sein, erzählte mir Lucy, sie sei auf der Suche

»Hat sie denn nicht bei …«, unterbrach ihn Markou mit Blick auf seine Notizen, und sagte dann gleichzeitig mit de Saintsimon: »Bei Arnaud Cadena gewohnt?«

»Ja, ursprünglich – wie bisher jeden Sommer.«

»Warum hat sie sich dann nach einer anderen Bleibe umgesehen? Haben sich die beiden überworfen?«

»Nein, natürlich nicht. Weswegen sollte es zwischen den beiden zum Streit kommen? Sie war wie eine Tochter für ihn.«

Und mit einem tiefen theatralischen Seufzen fügte er hinzu: »Der arme alte Mann! Es muss ein schrecklicher Schlag für ihn sein. Sie war seine einzige Gesellschaft auf der Insel. Er lebt sehr zurückgezogen, ein richtiger Einsiedler.«

»Warum ist sie dann bei ihm ausgezogen?«

»Soviel sie mir erzählt hat, wollte sie allein sein, um sich besser aufs Schreiben konzentrieren zu können. Sie hat an einem Buch gearbeitet.«

»Ein Buch worüber?«

»Soweit ich verstanden habe, sollte es ein Reiseführer für Nissos werden. Aber genauer hat sie sich dazu nicht geäußert.«

»Und deshalb wollte sie allein ein Haus mieten?«

»Ja. Ich habe auf der Insel etwa ein Dutzend Häuser, die ich an Freunde und Bekannte vermiete. Zum Glück, muss ich sagen, denn mit meinem belgischen Professorengehalt und dem Geld, das Jacques mit seinen Fotos verdient, kann man keine großen Sprünge machen.«

»Sie vermieten die Häuser schwarz, nehme ich mal an …«, sagte der Kommissar.

De Saintsimons Schweigen war Antwort genug. Markou

»Sie ist also in eins Ihrer Häuser gezogen?«

»Ja. In das über dem Pirate’s Beach.«

»Das möchte ich mir gern ansehen.«

»Natürlich, kein Problem. Wann immer Sie möchten. Ich kann Ihnen jederzeit aufschließen; ich habe einen Zweitschlüssel.«

Markou dachte an die Handtasche der Toten, in der nur Geld und eine Packung Kaugummi gewesen waren. Kein Hausschlüssel und kein Handy.

In seinem Kopf kristallisierte sich eine Frage heraus, und er flüsterte: »Hatte sie ihr Handy dabei?«

»Abends häufig nicht«, antwortete de Saintsimon, der dachte, die Frage wäre an ihn gerichtet. »Aber das gilt für alle. Die Insel ist so klein, da braucht man kein Telefon, um sich zu verabreden. Wir treffen uns immer an denselben Orten, bei jemandem zu Hause, im Restaurant oder abends auf dem Hauptplatz.«

»Ja, Handys nicht nötig«, bestätigte Jacques Moreno.

»Sie ist also in Ihr Haus gezogen, um ungestört schreiben zu können«, sagte Markou noch einmal.

»Ja. Zumindest hat sie das mir gegenüber behauptet …«, antwortete de Saintsimon mit einem bedeutungsvollen Unterton. »Ob es noch einen anderen Grund gab? Keine Ahnung … Tatsache ist jedenfalls, dass sie allein sein wollte … um die Freiheit zu genießen, die sie im Haus des alten Mannes vermutlich nicht hatte …«

»Die Freiheit, was zu tun?«, wollte Markou wissen. De Saintsimons Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er etwas loswerden wollte.

»Woher soll ich das wissen. Jeder kann tun, was er will, ob

Jacques Moreno schloss die Augen, legte die Hand an die Stirn und begann, sie mit seinen dünnen Fingern leicht zu massieren.

»In solchen Dingen will ich mir kein Urteil anmaßen. Dafür bin ich selbst viel zu oft schief angesehen worden. Selbst jetzt, wo unsere Ehe offiziell anerkannt ist, höre ich immer noch abfällige Bemerkungen über …«

»Warum wollte sie allein sein?«, unterbrach ihn Markou.

»Um Sex zu haben natürlich, reden wir doch nicht lange drum herum!«, antwortete de Saintsimon. »Das ist doch ganz normal! Sie war jung, es ist Sommer; Sinnlichkeit liegt in der Luft! In Cadenas Haus hätte sie nicht einfach tun können, wonach ihr war. Und ich vermute, ihr Lover hatte ebenfalls keine geeigneten Räumlichkeiten.«

»Ihr Lover?«

»Ja. Lucy hatte eindeutig ein Verhältnis mit jemandem. Sie hat mir zwar nichts erzählt, aber ich kannte sie doch … Allerdings habe ich keine Ahnung, wer es war. Mein Bauchgefühl – und weil sie es geheim gehalten hat – sagt mir aber, dass es wahrscheinlich ein verheirateter Mann war.«