Fast wurden Maroulas’ Worte vom Sturm davongeweht, bevor sie an Markous Ohren drangen, als die beiden Männer die Polizeistation verließen. »Ja, ich kenne jeden auf der Liste. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Nissos ist klein, und die meisten kommen schon seit Jahren jeden Sommer auf die Insel, deshalb …«

»Und Sie sprechen auch ein Dutzend Fremdsprachen …«, fügte Markou hinzu. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Der junge Kadett erwiderte grinsend: »Na ja, ein Dutzend nicht gerade … aber drei fließend und zwei immerhin so gut, dass ich mich einigermaßen verständigen kann. Englisch natürlich, außerdem Französisch und Italienisch – seit die Insel mal unter italienischer Herrschaft war, haben viele Italiener ein Haus hier. Und Russisch und Deutsch verstehe ich halbwegs. Als Nächstes will ich Chinesisch lernen.«

»Und warum sind Sie mit einer solchen Sprachbegabung ausgerechnet Polizist geworden?«, fragte Markou halb im Scherz, als sie den Hafen hinter sich ließen und die Gasse betraten, die zu dem kleinen Parkplatz vor dem einzigen Supermarkt führte.

Achselzuckend erwiderte der junge Mann: »Ich wollte immer schon Polizist werden. Mein Vater – er ist vor einem Jahr an Krebs gestorben – war bei der Polizei, und der Stationsleiter ist mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Deshalb bin

»Auf Nissos ist in Sachen Unterhaltung nicht viel los«, fuhr er fort. »Nur im Sommer wird der Schulhof zu einem Freiluftkino umfunktioniert, und dann veranstalten sie sogar ein kleines Filmfestival … Trotzdem, jahrelang waren Bücher das einzige Fenster zur Welt für mich. Polizist zu werden, war mir quasi vorherbestimmt … Meine DNA, mein soziales und familiäres Umfeld, die Bücher … Das Sprachenlernen kam erst später dazu, um die endlosen Wintertage herumzubringen.«

Unwillkürlich dachte Markou, dass dieselben Faktoren, die Maroulas veranlasst hatten, Polizist zu werden – Familie, Umfeld und das Fehlen von Aufstiegsmöglichkeiten –, auch für kriminelles Verhalten verantwortlich gemacht wurden. Aber er behielt diesen Gedanken für sich. Ebenso wenig gestand er dem jungen Mann, dass auch bei seiner Berufswahl Kriminalromane eine gewisse Rolle gespielt hatten.

Er konnte Maroulas gut verstehen, wusste aber auch, dass der junge Kadett bald mit der Tatsache konfrontiert würde, dass seine Lieblingslektüre nichts mit der Realität zu tun hatte. Im richtigen Leben ereilte die Schurken weder immer ihre gerechte Strafe, noch siegte jedes Mal die Gerechtigkeit. Aber es nutzte nichts, ihm das zu sagen; er würde es im Lauf der Zeit selbst merken.

Markou klopfte ihm auf die Schulter. Dann stieg er auf den Roller, den er von seinem Cousin geborgt hatte, und setzte den am Rückspiegel hängenden Helm auf. Maroulas nahm das Polizeimotorrad.

»Dann mal los.«

Markous Blick fiel auf den ungeschützten Kopf des Kadetten.

Markous missbilligende Miene veranlasste Maroulas hinzuzufügen: »Ich weiß, dass es nicht richtig und verboten ist und dass ich allen mit gutem Beispiel vorangehen sollte, aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Schließlich zog er wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt wird, den Kopf ein und murmelte: »Es gibt kein Aber … Sie haben völlig recht. Ich sollte einen Helm tragen und den anderen ein Vorbild sein. Jeden Sommer haben wir bestimmt ein Dutzend Motorradunfälle. Letztes Jahr sogar einen tödlichen. Ich habe meinen Helm nicht dabei, aber ich werde nach Hause fahren und ihn holen.« Er trat den Kickstarter durch. »Und ihn ab jetzt immer tragen, versprochen.«

Damit fuhren die beiden Polizisten dem Wind trotzend vom Parkplatz. Der Kommissar wollte Cadena, der nicht auf die Wache kommen konnte, einen Besuch abstatten, während Maroulas nach Vrythos auf der anderen Seite der Insel weiterfahren würde, um mit Mehmet Ersen zu reden. Der türkische Modedesigner hatte nicht auf seine Anrufe reagiert, weshalb Maroulas auf dessen Boot, das im kleinen Hafen von Vrythos lag, nach ihm suchen wollte.

Kurz vor der Hauptstraße deutete Maroulas auf ein Paar, das an der engen Straße zum Hafen stand. Wegen des Winds, des Helms und des Motorenlärms musste Maroulas regelrecht schreien, damit Markou ihn verstand: »Die Italiener! Sie stehen auf der Liste.«

Markou erkannte das Ehepaar, das sich am Abend zuvor nicht hatte fotografieren lassen wollen. Der Mann hielt die Frau am Handgelenk fest. Ihr Gesicht war wutverzerrt. Der Kommissar konnte zwar nicht hören, was sie sagten, aber die gespannte Stimmung zwischen ihnen war fast greifbar.

Als Markou den Blick wieder auf die Straße richtete, fiel ihm ein, dass er den Mann am Abend zuvor auf Milandis Terrasse gesehen hatte. Er hatte mit den Händen in den Hosentaschen dagestanden und auf den Hafen hinabgeschaut, und dann hatte sich ihm von hinten eine blonde Frau genähert – Lucy Davis – und ein paar Sekunden mit den Fingerspitzen seinen Rücken gestreichelt.

Und automatisch kamen dem Kommissar de Saintsimons Worte in den Sinn: »… wahrscheinlich ein verheirateter Mann.«