Cadena kämpfte sich mühsam von der Couch hoch, als er den Kommissar hereinkommen sah. Markou gab ihm zu verstehen, er solle sitzen bleiben, aber der alte Mann ließ es sich nicht nehmen, ihn stehend zu begrüßen.

Sein weißes Haar war leicht zerzaust, und sein trauriges, altersfleckiges Gesicht wirkte ausgezehrt und erschöpft. Die dunklen Ringe unter seinen Augen unterstrichen deren helles Blau. Die Spitze seiner Hakennase berührte fast seine Oberlippe, sein Mund war zu einer schmerzverzerrten Grimasse erstarrt.

Markou war nicht klar, ob der Schmerz des alten Mannes körperlicher oder psychischer Natur war. Jedenfalls war er nicht zu übersehen.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Kommissar. Mir war es leider nicht möglich …« Cadena hielt Markous Hand zwischen seinen Handflächen. Seine Stimme war fester als erwartet, fast so, als würde er von einem jüngeren Mann synchronisiert. Sein rollendes R verriet, dass er Franzose war.

»Was für ein schrecklicher Verlust. Ich kann es immer noch nicht glauben. Als wäre das alles nur ein Albtraum, aus dem ich jeden Moment aufwache.«

Ein Schluchzen entwich seiner Kehle, ohne dass er es zu unterdrücken versuchte. Er ließ die Hand des Kommissars los, überließ sich der Schwerkraft und plumpste auf die Couch zurück. Dann deutete er auf den Platz neben sich.

»In der Krankenstation. Wenn der Wind nachlässt, wird sie nach Rhodos gebracht, um die abschließenden Untersuchungen durchzuführen und vor allem die …« Er zögerte.

Es war Cadena, der es für ihn aussprach. »Die Obduktion.«

Markou nickte.

»Das hört sich alles an wie aus einem billigen Kriminalroman«, seufzte der alte Mann. »Sie müssen wissen, ich war über fünfundvierzig Jahre lang Verleger. Ich habe Lyrik, Essays, philosophische Schriften, sogar Kochbücher herausgebracht, aber nie Thriller oder Kriminalromane. Die waren mir immer zu brutal. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich in meinem Alter noch einmal so etwas …« Er hielt mitten im Satz inne, zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Hemds und rieb sich damit die Augen.

»Lucy …« Markou folgte seinem Blick zu den Bücherregalen neben der Couch. Dort, inmitten von Büchern und Objekten, stand ein Foto von Cadena und Lucy Davis, wie sie sich, beide im Profil und mit einem Strohhut auf dem Kopf, mit einem strahlenden Lächeln ansahen.

»Das war vor zwei Jahren«, bemerkte er. »Ich war es, der sie nach Nissos gebracht hat. Und seit gestern habe ich deswegen schreckliche Schuldgefühle …«

Markou schüttelte den Kopf. »Das erste Mal war sie vor vier Jahren hier, richtig?«, fragte er, als Cadena Tränen in die Augen traten.

»Ja. Wir haben uns vor fünf Jahren auf einer Buchmesse in London kennengelernt, über die sie für einen Literaturblog berichtet hat. Ich war schon im Ruhestand, habe meinen Verlag aber trotzdem am Stand unterstützt. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Jetzt werden Sie sicher fragen, was haben ein Mann in den Siebzigern und eine Frau Ende

Cadenas Stimme brach unter der Last seiner Erinnerungen.

»›Das hört sich ja richtig paradiesisch an‹, meinte sie.« Nach einer kurzen Pause holte er tief Luft und fuhr fort: »Sie wollte wissen, ob Nissos ein Ort wäre, an dem man von allem Abstand bekommen und sich ganz aufs Schreiben konzentrieren kann. Das war nämlich ihr großer Traum. Mit ihrer journalistischen Arbeit verdiente sie ihren Lebensunterhalt, aber eigentlich wollte sie Schriftstellerin sein.

Auf mein entschiedenes Ja hin leuchteten ihre Augen auf, also habe ich sie für den Sommer in mein Haus eingeladen – obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten.«

Ein zaghaftes Lächeln legte sich über seine traurigen Züge. »Sie hätten sie sehen sollen! Sie hat sich gefreut wie ein kleines Kind. Und so kam sie im Sommer – das ist jetzt tatsächlich schon vier Jahre her – zum ersten Mal nach Nissos, und dann wurde es für sie sozusagen zur Tradition. Jedes Jahr zwischen Ende Juli und Ende August einen Monat auf der Insel.« Sein fragiles Lächeln verflog abrupt, und er fügte hinzu: »Eine Tradition mit tödlichen Folgen.«