»Dass es riskant wäre?« Mit hochgezogenen Augenbrauen unterstrich Markou die Wörter Buch – Klatsch – real existierende Menschen in seinem Notizblock.
»Ja«, bestätigte ihm der alte Mann zögernd.
Und nach einigem Überlegen fügte er hinzu: »Mit riskant meinte ich allerdings nicht lebensgefährlich. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass jemand wegen eines Buchs umgebracht wird, aber …«
Ratlosigkeit verdüsterte seine Miene. Die Möglichkeit, die er gerade ausgesprochen hatte, schien sich wie eine Schicht Staub über seine trüben Augen zu legen. Er wählte seine nächsten Worte mit großem Bedacht.
»Ich habe damals eine andere Art von Risiko gemeint. Sie beabsichtigte, einen Schlüsselroman zu schreiben, ein Buch, das auf Dingen basierte, die ihr die Leute anvertraut hatten, die sie als Freundin betrachteten.«
Markous Stirnrunzeln verriet Cadena, dass er nicht wusste, was ein Schlüsselroman war. Deshalb erklärte er es dem Kommissar. »Ein roman à clef, ein Schlüsselroman, ist ein literarisches Werk, das ganz direkt auf reale Ereignisse und Personen Bezug nimmt und sie nur hinter einem dünnen fiktiven Schleier verbirgt. Deshalb habe ich sie gewarnt, sie könnte … trumancapotisiert werden.«
»Wie bitte?«
»Trumancapotisiert«, wiederholte Cadena.
Als er Markous verständnisloses Gesicht sah, fügte er hinzu: »Verzeihen Sie, Kommissar, manchmal vergesse ich, dass nicht jeder Verleger oder Buchkritiker ist …« Darauf begann er dem Kommissar genauer zu erklären, was er meinte.
»Mitte der siebziger Jahre veröffentlichte Truman Capote, das Enfant terrible der New Yorker Literaturszene, in der Zeitschrift Esquire einen Auszug aus seinem bis dahin noch nicht erschienenen neuen Roman Erhörte Gebete. Der Auszug trug den Titel »La Côte Basque, 1965« und enthüllte, nur leicht verfremdet, Geheimnisse enger Freunde und Bekannter. Neben eher harmlosem Klatsch kamen Laster, Streitigkeiten, alle möglichen Formen von Verrat und Betrug und sogar Straftaten ans Licht. Seine Freunde fühlten sich hintergangen – völlig zu Recht übrigens, wenn Sie mich fragen. Sie brachen jeden Kontakt mit ihm ab, stellten ihn an den Pranger und verbannten ihn aus dem gesellschaftlichen Leben New Yorks – kurzum, sie »ermordeten« ihn gesellschaftlich. Von ihrer Reaktion überrascht und verletzt, verfiel Capote in seiner Isolation den Süchten, die wenige Jahre später zu seinem Tod führten.«
Markou nickte.
»Ich habe Lucy gewarnt, dass das auch ihr passieren könnte. Sie meinte, das wäre ihr egal. Sie machte sogar Witze darüber, dass sie selbst dann noch in völliger Einsamkeit hier Ferien machen würde, wenn niemand auf Nissos mehr mit ihr reden wollte.«
Fast glaubte der Kommissar die Rädchen in Cadenas Kopf klicken zu hören. Er vermutete, dass sie beide denselben Gedanken hatten.
Deshalb überraschte ihn die Frage des alten Mannes nicht im Geringsten.
»Glauben Sie, ihre Ermordung könnte mit diesem roman à clef zusammenhängen?«
Markou antwortete zwar nicht, aber er war sicher, endlich ein Motiv gefunden zu haben.