Markou hatte eine Einkaufstüte mit dem Laptop unter dem Arm, als er kurz nach halb sieben vor der Wache ankam. Von Lucy Davis’ Handy und ihrem Notizbuch fehlte weiterhin jede Spur, doch ihren Laptop zu finden, war ein unverhoffter Glücksfall. Maroulas war noch nicht zurück in Chora, und Markou wollte mit dem Öffnen des Laptops auf ihn warten.

An der Treppe neben dem Eingang des Postamts stand eine Handvoll wartender Leute. Neben Henrietta Banks erkannte der Kommissar das italienische Paar, Alessandra und Fausto Ardolini, sowie zwei Griechen, die sich als Timos Karas und Gerasimos Tsokas vorstellten. Ohne von dem Fensterbrett aufzustehen, auf dem er saß, murmelte ein schmaler, dunkelhäutiger junger Mann in einem schrillen fuchsienroten Outfit missmutig: »Ersen«.

Der Kommissar teilte den Anwesenden mit, dass es einige neue Erkenntnisse gab, und obwohl alle neugierig auf die Einkaufstüte mit dem Laptop starrten, bat er sie, am nächsten Morgen wiederzukommen. Bis auf die Italiener, die in ihrer Muttersprache leise protestierten, nickten alle stumm.

»Nur Sie nicht«, wandte sich Markou an Henrietta Banks. »Sie kommen mit mir.« Ob sie nun verrückt war oder nicht, es bestand der Hauch einer Chance, dass sie wusste, wer der Mörder war, also wollte er auf keinen Fall bis zum nächsten Morgen warten.

Kurz darauf betraten sie das Büro des Stationsleiters.

Sie setzte sich mit geradem Rücken und gespreizten Beinen auf den Stuhl, zog ihre goldenen Birkenstock-Sandalen aus und legte ihren Hut vorsichtig neben sich auf den Boden. Ihre knallroten geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und der intensive blaue Schatten auf ihren Lidern schien diese schwer nach unten zu drücken.

Sie sah aus wie eine Figur aus einem Roman von Agatha Christie: die exzentrische reiche Erbin, die in einer Polizeistation auf Nissos völlig fehl am Platz wirkte.

»Sie behaupten also, den Täter zu kennen …«

Banks nickte. »Dazu müssen Sie wissen, Herr Kommissar, dass ich diejenige bin, die schon am längsten auf die Insel kommt. Manche nennen mich deswegen die Königin von Nissos. Aber ich halte nicht viel von Titeln«, fügte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln hinzu.

Markou war sicher, dass das nicht stimmte.

»Ich komme schon seit 1967, seit dem Beginn der Militärdiktatur nach Nissos. Ich bin nämlich etwas älter, als ich aussehe. Ich weiß, ich wirke wie fünfzig, aber in Wirklichkeit bin ich fast sechzig!« Sie zwinkerte.

Fast sechzig, plus vierzehn Jahre, dachte Markou und notierte sich die Angaben in ihrem Pass.

»Ich habe die Insel als Erste entdeckt!«, wiederholte sie.

»Ist nicht David Milandi, Mariamas Vater …«, Markou warf einen kurzen Blick in sein Notizbuch, »… 1963 als Erster hierhergekommen?«

Mit einer wegwerfenden Bewegung ihrer

»In Jahren gemessen mag das stimmen. Aber ich sehe es eher als Frage der Qualität statt der Quantität. Und unter qualitativen Gesichtspunkten war ich die Erste. Dank der griechischen Herkunft meines Partners bin ich ohnehin fast eine Einheimische. Er stammte von hier. Er wurde hier geboren, ist aber früh nach Amerika ausgewandert und hat dort ein Vermögen gemacht. Wir haben uns in New York kennengelernt, wo ich damals Kunstgeschichte studierte. Ich komme aus einer wohlhabenden Familie aus dem Süden und wurde nach New York geschickt, um dort in der Gesellschaft zu debütieren. Wir haben uns kennengelernt, er hat sich Hals über Kopf in mich verliebt, und wir wurden unzertrennlich.

Wir haben drei Sommer gemeinsam auf Nissos verbracht. Damals war die Insel wie ausgestorben; die Häuser hatten nicht einmal fließend Wasser. 1970 ist er dann völlig unerwartet gestorben.« Sie seufzte leise. »Er war so ein netter Mann – und noch jung. Ein Herzinfarkt.« Sie zog das letzte Wort theatralisch in die Länge. »Und mich hat er ganz allein zurückgelassen. ›Henrietta, mein Schatz‹, hat er immer gesagt. ›Du bist mein ganzes Leben. Ich habe keine Kinder und keine nahen Verwandten, deshalb hinterlasse ich alles dir.‹ Das war wirklich nett von ihm, obwohl ich sein Geld nicht gebraucht hätte. Wie bereits gesagt, komme ich aus einer reichen Familie.«

Als wollte sie eine imaginäre Träne wegwischen, strich sie mit der Fingerspitze über ihren Augenwinkel und fuhr seufzend fort.

»Jedenfalls hat er mir unter anderem auch das Haus seiner Familie vermacht, weshalb ich seitdem zu seinem Gedenken jedes Jahr auf die Insel komme. Nur mir hat es Nissos zu verdanken, dass es beim internationalen Jetset so beliebt

»Und Sie wissen auch, wer Lucy Davis umgebracht hat«, versuchte der Kommissar, zum eigentlichen Thema zu kommen.

»Ja, ja, die arme Lucy! Sie war einfach wuuuunderbar.« Sie zog das letzte Wort mit einem nasalen Crescendo in die Länge.

»Ein wahrer Engel: verständnisvoll, schön, interessant! Sie hat mich an mich in ihrem Alter erinnert. Wir haben sie alle geliebt. Deshalb weiß ich, wer es war. Es kann nämlich unmöglich einer von uns gewesen sein.«

Bevor Markou seine Frage zum dritten Mal stellen konnte, fuhr sie fort.

»Nein, Herr Kommissar, wir haben sie alle gekannt und geschätzt, und keiner von uns wäre zu so etwas in der Lage gewesen. Deshalb bin ich sicher, dass es nur Gregory Psarakis gewesen sein kann.«

Markou notierte sich den Namen, den er zum ersten Mal hörte. Er schaute auf die Liste vor ihm. Psarakis stand nicht darauf.

»Wer ist das? Haben Sie gesehen, wie er es getan hat?«

»Ein richtig übler Halunke.« Banks spuckte die Wörter förmlich aus. Ihr Blick wurde hart.

»Er ist von hier. Aber niemand mag ihn! Gesehen habe ich es nicht, aber ich weiß, dass er es war. Nur er wäre zu so

»Haben Sie ihn gestern Abend in der Nähe von Frau Milandis Haus gesehen?«, fragte der Kommissar. »Kannte er Lucy?«

»Nein, ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Doch selbst wenn ich ihn noch einmal wiedersehen sollte, werde ich kein Wort mit ihm wechseln. Unglaublich, was er mir angetan hat! Dieser brutale Kerl. Einer verletzlichen einsamen, schutzlosen Frau wie mir!«

Ihr Ton und ihr ganzes Auftreten waren nicht das einer verletzlichen, schutzlosen Frau. Trotzdem schien sie felsenfest von der Richtigkeit ihre Anschuldigungen überzeugt.

»Ich glaube nicht, dass er Lucy kannte. Ich habe sie allerdings vor ihm gewarnt und ihr geraten, sich von ihm fernzuhalten«, fügte Banks hinzu.

»Dann hat er das Opfer also nicht gekannt, und Sie haben ihn gestern Abend auch nirgendwo gesehen. Trotzdem sind Sie sicher, dass er es war?«

»Ganz sicher!«, rief sie mit dem Brustton der Überzeugung.

»Weil er ein richtig übler Halunke ist«, las Markou aus seinem Notizbuch ab. »Ein Betrüger, ein Dieb und ein Erpresser.«

Henrietta Banks nickte bei jedem Wort beifällig und rief laut: »Ja!«.

»Hat Ihnen dieser Psarakis jemals persönlich etwas getan?«, fuhr der Kommissar fort und sah ihr dabei in die Augen.

Diese Frage, die eigentlich zu erwarten war, schien sie zu verunsichern.

»Mir persönlich?«, wiederholte sie und senkte zum ersten Mal den Blick. »Was er allen antut, wissen Sie ja … Er hat mich bestohlen und bedroht. Aber weil ich so viel besser bin als er, habe ich ihm verziehen«, erklärte sie dem Kommissar,

Markou merkte, dass dieses Gespräch keine Beweise gegen Psarakis an den Tag bringen würde, also versuchte er, es auf ein anderes Thema zu lenken. Er würde später Maroulas nach diesem Mann fragen, der laut Banks Nissos’ schlimmster Verbrecher war.

»Mal angenommen, Psarakis war es nicht …«

»Er war’s aber – sag ich Ihnen doch! Hören Sie mir eigentlich zu, Herr Kommissar?«

»Sagen wir einfach mal, es besteht eine Chance von eins zu einer Million, dass er es nicht war – fällt Ihnen dann noch irgendetwas anderes ein? Haben Sie gestern Abend irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Haben Sie mit Lucy gesprochen? Hat sie irgendetwas gesagt? Hat sie sich wegen etwas Sorgen gemacht? Hatte sie Angst?«

Jede Frage wurde mit einem schroffen, entschiedenen Nein beantwortet.

»Haben Sie gestern Abend auf der Party mit ihr gesprochen?«, hakte Markou nach.

»Nicht viel. Wir haben Hallo gesagt und uns ein Küsschen gegeben, aber sonst nichts. Aber wir waren den ganzen Nachmittag zusammen am Strand – sie konnte gar nicht genug bekommen von meinen Geschichten. Und ich bin ziemlich früh von der Party nach Hause gegangen. Ich habe dringend Ruhe gebraucht. Hätte ich gewusst, dass es das letzte Mal war, dass ich sie sehe, hätte ich mich stundenlang mit ihr unterhalten«, fügte sie theatralisch hinzu.

»Hat sie Ihnen erzählt, dass sie ein Buch schreiben wollte? Über Nissos?«

»Ein Buch?« Banks’ Blick wanderte zu dem Laptop, der auf dem Schreibtisch lag. »Na ja, Schriftsteller schreiben doch Bücher, oder nicht?«

Obwohl Lucy Davis nie ein Buch veröffentlicht hatte und

Sie zog ihre dünnen Augenbrauen hoch. »Über Nissos, sagen Sie?«

Markou nickte.

»Was kann man denn über Nissos groß schreiben? Hier passiert doch nie was Interessantes«, schloss sie mit aufgesetzter Unschuldsmiene.