Abgesehen von ihrer ebenso festen wie unbegründeten Überzeugung, dass Psarakis der Mörder war, hatte Henrietta Banks nichts beizusteuern. Sie betonte vermehrt und mit Nachdruck, wie sehr alle sie mochten und wie viel ihr Nissos zu verdanken hatte, und stellte dabei ihr »hervorragendes« Griechisch unter Beweis – das gerade mal ausreichte, um einen Café frappé zu bestellen und Bitte und Danke zu sagen –, dann erhob sie sich und setzte ihren Hut auf.
Mit der dringenden Bitte, Psarakis umgehend festzunehmen – »damit wir alle wieder Frieden finden können« –, marschierte sie mit ihren Sandalen in der Hand und von Markou begleitet aus dem Büro.
Gerade als sich der Kommissar von ihr verabschiedete, kam Maroulas herein. Er deutete auf eine Tüte voller Kippen in seiner Hand und sagte: »Ich habe jede Zigarette eingesammelt, die ich finden konnte. Aber kein Hammer, kein Notizbuch, kein Handy.«
Ohne sich zu den Kippen zu äußern, von denen er sich nicht viel erwartete, setzte Markou ihn von Banks Überzeugung in Kenntnis, der Mörder sei ein gewisser Gregory Psarakis.
Die Augen des Kadetten leuchteten überrascht auf.
»Er steht weder auf der Liste, noch hat ihn Banks gestern in der Nähe des Tatorts gesehen«, sagte Markou noch, doch Maroulas ging schon mit einem gemurmelten »Hätte ich mir eigentlich denken können« schnurstracks zu seinem Schreibtisch.
»Was hätten Sie sich denken können?«, fragte Markou.
Maroulas griff nach dem dicken Verzeichnis von Vorfällen und Straftaten und blätterte zu den Aufzeichnungen von vor drei Jahren. Er las sie eine nach der anderen und stieß zwei Seiten später einen leisen Pfiff aus. Er legte einen Stift zwischen die Seiten und blätterte weiter. In zwei weiteren Fällen benutzte er seine Finger als Lesezeichen, bevor er zu Markou aufblickte.
»Eigentlich hätte ich mir denken können, dass sie Psarakis beschuldigen würde.«
Er schlug wieder die mit dem Stift markierte Seite auf und zeigte dem Kommissar den Eintrag vom 27. Juli drei Jahre zuvor.
Henrietta Banks, wohnhaft in Chora, gibt zu Protokoll, dass zwei Ikonen aus dem 18. Jahrhundert aus ihrem Haus gestohlen wurden. Der Tat beschuldigt sie Grigorios Psarakis, Sohn des Pavlos, wohnhaft in Chora, 55 Jahre alt.
Auf einer Seite weiter hinten las Markou:
Henrietta Banks, wohnhaft in Chora, beschuldigt Grigorios Psarakis, Sohn des Pavlos, 56 Jahre alt, sie am frühen Morgen vor ihrem Haus grundlos beleidigt und mit vulgären Ausdrücken beschimpft zu haben.
Das war vor zwei Jahren gewesen, am 14. August. Im dritten Eintrag, vom 6. August des vergangenen Jahres, warf Banks Psarakis vor, sie mit körperlicher Gewalt bedroht zu haben.
»Ist dieser Psarakis denn wirklich gefährlich?«, fragte Markou.
Der verdutzte Blick des Kadetten wich sofort einem Grinsen.
»Nein, nein. Psarakis könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist Zimmermann, und Banks hat ihn vor drei Jahren beauftragt, ein paar Deckenbalken in ihrem Haus auszuwechseln. Daraufhin gab es Gerüchte über ein Techtelmechtel zwischen den beiden, das sie angeblich etwas zu ernst nahm.
Ich war damals noch auf der Polizeischule, aber soviel ich von meinem Onkel – ich meine, vom Stationsleiter – weiß, fing sie an, ihm kleine Geschenke zu machen und ihn unter dem Vorwand, dass es etwas zu reparieren gäbe, in ihr Haus zu bestellen. Als sie immer zudringlicher wurde, hat Psarakis dem Ganzen ein ziemlich abruptes Ende gemacht. Ihr Geschrei und das Scheppern des Geschirrs, mit dem sie nach ihm warf, war bis zum Hauptplatz zu hören. Am nächsten Tag kam sie auf die Wache, um ihn wegen des Diebstahls der Ikonen anzuzeigen.
Als wir zur Vernehmung bei ihm anrückten, fiel er aus allen Wolken. Er sagte, Banks hätte ihm die zwei Ikonen geschenkt. Er zeigte uns sogar die Karte, die sie ihm dazugesteckt hatte: ›In Liebe, die Königin von Nissos – und hoffentlich auch deines Herzens.‹ Irgendetwas in der Art jedenfalls. Um die Wellen zu glätten, gab Psarakis die Geschenke zurück, worauf bis zum nächsten Jahr Ruhe war.
Doch dann beschuldigte ihn Banks, am Vorabend von Mariä Entschlafung zu ihrem Haus gekommen zu sein und sie grundlos beleidigt zu haben. Laut Aussagen mehrerer Zeugen war es jedoch Banks, die ihn aufs Wüsteste beschimpfte, als sich die beiden in einer Gasse begegneten. Darauf nannte Psarakis sie »verrückt«, woraus in ihrer Einbildung ein Dutzend vulgärer Ausdrücke wurden, von denen ich sehr bezweifeln würde, dass Psarakis sie auf Englisch überhaupt kannte.
Und letztes Jahr kam sie dann weinend – oder genauer, mit verschmiertem Make-up – hier an und beschuldigte ihn, sie mit körperlicher Gewalt bedroht zu haben. In diesem Fall gab es zwar keine Zeugen, aber ich bin geneigt, eher Psarakis’ Darstellung des Vorfalls zu glauben. Er gab zu Protokoll, dass sie ihm zu einer Baustelle folgte und …«, der Kadett grinste anzüglich, »ihr Kleid hochzog, unter dem sie keine Unterwäsche trug … Er sagte nur, sie solle weggehen und ihn in Ruhe lassen. Am nächsten Tag zeigte sie ihn an.«
Markou hörte schweigend zu. War Psarakis das Opfer einer in ihn vernarrten Frau, oder deckten Zeugen und Ortspolizei einen gewalttätigen Einheimischen? Dass Henrietta Banks zu völlig überzogenen Anschuldigungen neigte, hatte er bereits mitbekommen. Außerdem hatte er am Morgen mit eigenen Augen gesehen, dass sie in der Öffentlichkeit ohne Unterwäsche herumlief.
»Bestellen Sie Psarakis zur Vernehmung ein. Wir müssen ihn auf jeden Fall anhören.«
Zum ersten Mal spiegelten sich Zweifel an den Anweisungen des Kommissars in der Miene des jungen Polizeianwärters.
»Ist irgendwas?« Markou konnte seine Verärgerung nicht ganz verbergen.
»Nein … Das heißt, ja. Ich kann ihn zwar einbestellen, aber er wird heute nicht kommen können. Wegen des Sturms. Er ist auf einer Baustelle in Rhodos – ein Hotel, das renoviert wird –, und er war schon seit Wochen nicht mehr auf der Insel.«