»Ja, ich habe sie gut gekannt«, sagte Karas und rückte seine Brille zurecht. »Wir hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie interessierte sich für Kunst, Archäologie, Philosophie, generell für alles Schöne. Wie ich hatte auch sie einen ausgesprochenen Sinn für Ästhetik.«

Karas, Mitte vierzig, hatte kurzes schwarzes Haar und trug eine eng geschnittene beige Hose, ein perfekt gebügeltes, kurzärmeliges weißes Hemd und Wildlederslipper. Er strahlte Ruhe und Selbstbewusstsein aus.

»Wir haben uns ziemlich oft getroffen. Sie kam regelmäßig auf einen Kaffee und einen kleinen Plausch in meine Galerie, um sich die Ausstellungsstücke und neu eingegangene Kunstwerke anzusehen. Am Tag vor der Party war sie das letzte Mal da.«

Mit einer Handbewegung forderte ihn Markou auf fortzufahren.

»Ich habe die einzige Kunstgalerie auf der Insel. Sie heißt Anemos und befindet sich im Elternhaus meiner Mutter. Im Erdgeschoss sind die Ausstellungsräume und ein Antiquitätengeschäft und im ersten Stock die Werkstatt, in der ich Kunstgegenstände restauriere. Vor zehn Tagen habe ich eine Ausstellung mit alten Fotos von der Insel eröffnet, die sehr großen Anklang gefunden hat. Wir haben fast alles verkauft, die Ausstellungsräume sind so gut wie leer.«

Auf Markous fragenden Blick hin fügte Karas hinzu:

»Wirkte sie irgendwie aufgewühlt? Beunruhigt? Hat sie Ihnen irgendetwas erzählt, was Ihnen seltsam vorkam?«

»Nein, überhaupt nicht. Sie war wie immer, gut gelaunt und die Ruhe in Person. Wir haben über die Galerie gesprochen und wie gut ihr die Fotos gefallen haben. Es waren ja auch außergewöhnliche Exponate: seltene, einzigartige Fotos aus der Zeit zwischen den vierziger und siebziger Jahren.

Ich hatte zwar noch ein halbes Dutzend von ihnen in der Ausstellung hängen, aber sie interessierte sich für ein paar andere Bilder. Sie wollte wissen, ob sie Abzüge von einigen bereits verkauften Fotos haben könnte, notfalls auch in einem kleineren Format. Aber ich habe ihr erklärt, dass das alles Einzelstücke sind. Wenn jemand eins dieser Fotos kauft, erhält er ein Zertifikat, das seine Echtheit bescheinigt und dass es sich dabei um ein Unikat handelt. Nur so lassen sich meine hohen Preise rechtfertigen. Aber da meine Kunden sowieso hauptsächlich …«

»Hat sie Ihnen etwas von einem Buch erzählt?«, unterbrach der Kommissar den Galeristen.

»Von einem Buch? Ich verkaufe zwar hin und wieder auch Fotoalben und Bildbände, aber von einem …«

»Nein, ich meine, ob sie Ihnen erzählt hat, dass sie ein Buch schreiben wollte.«

»Ich wusste, dass sie an etwas arbeitete, aber Genaueres hat sie mir nicht erzählt.«

»Niemand. Im Gegenteil, alle mochten sie.«

Ein weiteres Nicken seitens des Kommissars, der zum hundertsten Mal das Gleiche über Lucy Davis hörte: dass alle sie gemocht und geschätzt hatten. Und doch hatte sie das nicht geschützt.

»Sind Sie verheiratet?«

»Geschieden«, antwortete Karas teilnahmslos. »Schon Jahre. Sie war aus Athen, sie mochte das Leben auf Nissos nicht. Im Sommer war alles bestens, aber im Winter, bei siebzig Einwohnern – weniger als streunende Katzen, wie es so schön heißt –, hielt sie es kaum aus hier. Wir haben aber noch ein gutes Verhältnis zueinander. Ich habe auch in Athen eine Galerie, die von Katie geleitet wird – meiner Ex-Frau.

Ich schicke ihr die Ikonen aus dem Kloster, die ich hier nicht restaurieren kann. Das sind hochwertige Stücke aus der Zeit zwischen dem 10. und 18. Jahrhundert. So etwas können nur Fachleute, und die haben ihre Ateliers in Athen. Eigentlich wollte Lucy morgen vorbeikommen, um sich eine restaurierte Ikone der kretischen Schule anzusehen, die ich erst vor zwei Tagen zurückbekommen habe, aber …«

Bevor Karas den Satz zu Ende sprechen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Maroulas kam mit dem Laptop in seiner Hand herein.

Seine leuchtenden Augen verrieten bereits, womit er im nächsten Moment herausplatzte.

»Wir haben es!«