Dank Cadena hatten sie das Manuskript, wenn man einen getippten Text so nennen will, endlich gefunden.
Es war unter SCHARFE GERICHTE im Unterverzeichnis REZEPTE des Ordners NISSOS versteckt. Buchstäblich. Wegen der schieren Menge an Ordnern, von denen jeder wiederum Dutzende Unterordner mit mehreren Dateien enthielt, hatten Markou und Maroulas lediglich jede Datei geöffnet und kurz durch die ersten Seiten gescrollt.
Deshalb hatten sie den Text, der in sechsundzwanzig Seiten mit griechischen Rezepten und deren Herkunft eingebettet war, übersehen und waren erst mit Cadenas Hilfe auf ihn gestoßen. Die Augen des alten Verlegers waren noch genauso scharf wie sein Verstand.
»Ich habe ihr einmal erzählt, dass heutzutage Autoren ihre Manuskripte oft als unwichtige Texte auf ihrem Computer tarnen. Manche tun es als Schutz, andere aus einer Art Aberglauben heraus, um kein Unheil auf ihre Arbeit zu lenken. Außerdem habe ich ihr gezeigt, wie man Sicherheitskopien macht – falls der Laptop mal abstürzt. Vor sehr, sehr langer Zeit haben wir dafür noch Durchschläge benutzt, dann Fotokopien, und heutzutage macht es der Computer Schriftstellern und Verlegern noch einfacher …«
Markou schüttelte den Kopf und dankte ihm noch einmal. Cadena deutete das von einem verlegenen Lächeln begleitete Schweigen des Kommissars richtig und brach auf.
»Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, sagte er, bevor er, auf Maroulas’ Arm gestützt, das Büro verließ. Aber nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal um.
»Es mag sich seltsam anhören, aber … könnte ich vielleicht irgendwann lesen, was Lucy geschrieben hat – natürlich nur, wenn ich Sie damit nicht in rechtliche Schwierigkeiten bringe? Ich wüsste jedenfalls gern, was ihre letzten Gedanken waren, um …«
Mit einem unterdrückten Seufzer brach er ab.
Markou nickte nur. Er hätte den alten Mann das Manuskript gern lesen lassen, aber letztlich hing es von seinem Inhalt ab.
Er wartete, bis Maroulas Cadena die Treppe hinuntergeholfen und an dem Stand neben dem Postamt in eins der zwei Taxis von Nissos gesetzt hatte. Als der Kadett zurück war, machten sie sich gemeinsam daran, das erste Kapitel zu lesen.
Das Romanfragment bestand aus drei fertigen Kapiteln, gefolgt von Notizen, Ideen und Gedanken über den Aufbau des restlichen Texts.
Schnell wurde klar, dass Lucy Davis’ Text tatsächlich ein Schlüsselroman werden sollte.
Gleich die ersten Zeilen des Texts, die heraufbeschworene Stimmung und das Ambiente des ersten Kapitels nahmen auf Truman Capotes »La Côte Basque« Bezug.
»Carissimo!«, rief sie. »Du kommst mir wie gerufen. Endlich jemand, mit dem ich mittagessen kann. Die Herzogin hat mich versetzt«, las Markou auf einer Website mit Capotes Gesamtwerk. »Wie geht es dir, meine Liebe? (…) Lass uns was trinken. Georges hat sich verspätet (…)«
Und schon auf den ersten Seiten von Lucy Davis’ Buch erkannte Markou ein paar Leute wieder, die er hier auf Nissos vernommen hatte.
Paul Saumé – i kakí – war zweifellos Pierre de Saintsimon. Georges war sein Partner Jacques Moreno. Fleury war vermutlich Nadine Hazera-Fasteau, aus deren vierjährigem Sohn eine Tochter geworden war. »Ihr Italiener«, wie Paul ihn genannt hatte, könnte Fausto Ardolini sein.
Doch worauf bezog sich die Bemerkung über schwere Verbrechen?
»Aber Handtücher oder Deko-Objekte zu stehlen, ist nichts im Vergleich zu den schweren Verbrechen, die andere begangen haben …«, las Markou noch einmal.
Von dort wanderte sein Blick zum letzten Satz des Kapitels: dem Hinweis auf die Vaterschaft von Fleurys/Nadines Kind.
Konnte etwas Wahres daran sein? Und vor allem, war das ein Grund, einen Mord zu begehen? Und wer wäre dann der Täter? Die Mutter? Der angebliche biologische Vater? Dessen Ehemann? Oder der Ehemann der Mutter?
Mit diesen Fragen im Hinterkopf begann Markou, das zweite Kapitel zu lesen. Er war überzeugt, je mehr er von diesem Schlüsselroman las, umso mehr Rinnsale würden zu mächtigen Flüssen anschwellen und schließlich ins Meer münden. In das erbarmungslose, unergründliche Meer, das Nissos umgab.