Kapitel 2

Ich weiß nicht, ob es einen Song gibt, der die bittersüße Melancholie eines zu Ende gehenden Sommertages besser zum Ausdruck bringt als »Being Boring« von den Pet Shop Boys. Mit dieser Nummer auf Repeat, die Seele von der Melodie gestreichelt, mache ich mich für einen weiteren Abend ausgehfertig. Trotz der immer gleichen Abläufe, derselben Lokale, der begrenzten Auswahl und dem winzigen exklusiven Zirkel von Nissos wird es auf der Insel nie langweilig.

Dieselben Leute zeigen sich jeden Tag von einer neuen Seite. Sie lassen sich erforschen, genau wie die Insel: eine unentdeckte Ecke; eine kleine Kapelle, die im blendend hellen Sonnenlicht für das Auge unsichtbar ist; die Farbe des Horizonts, die je nach Temperatur und Wind schwankt. Selbst für diejenigen, die schon seit Ewigkeiten hierherkommen, hält Nissos immer noch Überraschungen parat. Angenehme und unangenehme.

Erkannt habe ich das schnell, als ich das erste Mal einen Fuß auf die Insel setzte. Trotzdem habe ich seitdem bestenfalls an der Oberfläche gekratzt.

Ich besprühe mein Haar mit Meerwasser und lasse es lufttrocknen, während ich Make-up auftrage. Dieser Summer Style, eine raffinierte Mischung aus gepflegt und ungekämmt,

Wegen Paul bin ich spät dran. Ich habe nur noch knapp dreißig Minuten, um eins der zwanzig verschiedenen Leinenkleider auszusuchen, die meine Bräune unterstreichen sollen und einander so ähnlich sind, dass nur ein scharfes Frauenauge sie unterscheiden kann – in der Regel begleitet von einer ähnlich scharfen Zunge. Dann muss ich mich für den richtigen Schmuck, teuer, aber dezent, und ein Paar Sandalen oder Espadrilles entscheiden, damit sich alles zu einer geschmackvollen Einheit zusammenfügt, bevor das Outfit auf Nissos’ erbarmungslosem Laufsteg präsentiert wird.

Diese strengen Styling-Regeln gelten nicht nur für Frauen. Männer haben ihre eigenen: am Abend Hemd und lange Hose, dazu Sandalen oder Espadrilles. Bermudashorts kann sich nur jemand erlauben, der Trends setzt und deshalb die Regeln brechen darf.

Wer hat sie überhaupt aufgestellt? Wer war der Moses, der diese Gebote in steinerne Tafeln aus dem Fels des Gaidoura Beach gemeißelt hat? Wer hat diese Worte auf Oliven- und Lorbeerblätter gestickt? Aber egal, ein Verstoß wird mit der Verbannung aus dem Jetset bestraft. Was auf Nissos dem (gesellschaftlichen) Tod gleichkommt.

Der strenge Dresscode und die ungeschriebenen Gesetze, was die Häufigkeit von Einladungen, den Zeitpunkt und die Dauer jedes Aperitifs oder Abendessens, die Wahl des Strands oder Restaurants, die Ausrichtung der Liegestühle oder die Sitzordnung angeht, erinnern fast an die Etikette am Wiener Kaiserhof und ersticken jede sommerliche Leichtigkeit und Spontaneität im Keim. Aber sie scheinen unerlässlich für die Unterscheidung der zwei Kasten, die es auf der Insel gibt: der illustre Jetset-Kreis und das gewöhnliche Volk. Letzteres – die nicht Dazugehörenden – lässt sich noch einmal in drei Kategorien unterteilen.

Zweitens: die Tagestouristen, die, angelockt von Reiseführern und Websites, etwas vom Flair der Insel schnuppern wollen. Sie werden von dem inner circle wie Luft behandelt und bekommen von Restaurants und Cafés und an den Stränden nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die Angehörigen der obersten Kaste, damit die sich nicht auf die Füße getreten fühlen. Die meisten dieser Kurzbesucher verlassen die Insel mit dem Gefühl, auf ihre Kosten gekommen zu sein, auch wenn sie kein Teil von Nissos geworden sind und es nicht geschafft haben, eine echte Beziehung zu dem Ort und seinen Bewohnern aufzubauen.

Die dritte Kategorie – zu der ich gehöre – sind diejenigen, die von einem der Hausbesitzer hier eingeladen werden und regelmäßig auf die Insel kommen und versuchen, auf ihr heimisch zu werden. Dafür müssen sie von der höchsten Kaste akzeptiert und irgendwann von ihr aufgenommen werden.

Mir ist das schon in meinem ersten Sommer gelungen, was außergewöhnlich ist, und mit Sicherheit habe ich es nicht meinem Aussehen zu verdanken. Ich bin durchaus attraktiv, aber beileibe keine Schönheit. Sähe ich zu gut aus, hätte ich vielleicht für die zahlreichen nicht mehr ganz jungen Frauen von mäßigem Äußeren und noch mäßigerem Intellekt eine Bedrohung dargestellt und wäre deshalb ausgeschlossen worden.

Nein, es waren vielmehr meine angeborene Neugierde –

Ein Hauch von Terrakotta auf meine Wangen, nur leicht dunkler als mein Teint, ein bunter Seiden-Paschmina, um das Beige des handgenähten Kleids aufzulockern, das ich in der viel zu teuren Boutique unten am Hafen gekauft habe, und ich schließe die Tür hinter mir.

Ob ich wohl schon zu spät dran bin? Automatisch schaue ich auf mein Handgelenk, aber meine Uhr ist seit meiner Ankunft auf Nissos in meinem Koffer. Ihren Platz hat eine schwarze Schnur mit einem runden, mit Goldsplittern besetzten Stück Vulkangestein eingenommen. Ich nehme das Handy aus meiner gehäkelten Handtasche. Ich habe es am Strand stumm geschaltet. Nichts ist störender als die ständigen Piepser, Nachrichten und App-Alerts – außer vielleicht dem Gekreische verzogener griechischer und italienischer Kinder.

Es ist halb neun. In sechs Minuten – zehn Minuten Verspätung werden geduldet – werde ich auf einen Aperitif in Ericas Haus eintreffen. Auf der Insel ist alles zeitlich nach hinten verschoben. Den Aperitivo nimmt man um halb neun zu sich, das Abendessen um zehn und dann Drinks in einer der Bars an der Platia. Das Display zeigt drei verpasste Anrufe und ein Dutzend Nachrichten.

Zwei Anrufe sind von Maurizio, den Paul vorhin als »meinen Italiener« bezeichnet hat.

Ich muss wieder an den Ton denken, in dem er das gesagt hat. Mir war von Anfang an klar, dass irgendwann getratscht würde. Aber der unverschämte Ton der kakí ließ keinen

Als ich in die schmale Gasse zum Hafen biege, frage ich mich, ob die Leute, die Pauls Häuser und Apartments mieten, die ihm Jahr für Jahr die Konten mit Zehntausenden von Euros monatlich füllen, ob diese Leute wissen, dass seine Lieblingsbeschäftigung darin besteht, hinter ihrem Rücken ihre schmutzige Wäsche zu waschen. Würden sie sich weiter bei ihm einmieten, wenn sie das wüssten? Doch auf Nissos, wo man auf keinen Fall in einem Hotel absteigen darf, wenn man dazugehören will, nicht einmal im einzigen Fünf-Sterne-Resort der Insel, bleibt einem keine andere Wahl. Man musste sich damit abfinden wie mit vielem anderen: dem falschen Lächeln in den Gesichtern, den ewig gleichen Phrasen und Pseudo-Nettigkeiten.

»Mein Italiener« also. Je mehr ich darüber nachdenke, umso wütender macht es mich, dass ich mir von ihm Angst habe einjagen lassen. Wovor muss ich denn Angst haben? Dass es seine Frau herausfindet? Pah!

Wie gern würde ich Pauls Gesicht sehen, wenn er erführe, dass das Ganze auf ihrem Mist gewachsen ist. Dass es Simonetta war, die mich auf einen Drink eingeladen hat, um auf ihrem Balkon den Sonnenuntergang zu genießen. Dass sie es war, die mit einem unschuldigen Stupser mein Bein berührte, als die Sonne über Chora unterging. Dass es Simonetta war, die mir den Tipp gab, dass Meersalz dünnem Haar wie meinem mehr Volumen verleiht, und mein Ohrläppchen streichelte, als sie mit ihren langen Fingern eine Haarsträhne aus meinem Gesicht strich.

In diesem Moment wurde mir klar, was sie wollten. Ich merkte es an dem eindringlichen Blick, den sie Maurizio zuwarf, der etwas abseits von uns beiden saß, und an den Komplimenten, die sie aus ihm herauskitzelte.

»Ist sie nicht wunderbar, amore mio? Wie gut ihr die Farbe

Auf alle ihre Fragen antwortete er mit einem Ja, begleitet von einem schüchternen Lächeln, wie ein Kind, das sich an einer Unterhaltung von Erwachsenen beteiligen muss.

Ich reagierte ohne Zögern auf ihren Kuss. Als ihre Lippen meine auseinanderschoben und ich ihre Zunge spürte, richtete ich meinen Blick aus halb geöffneten Augen auf ihn; er war hin- und hergerissen. Ich war diejenige, die ihn mit einem Winken einlud, sich zu uns zu gesellen.

Das mit uns geht schon drei Sommer. Was zwischen uns geschieht, bleibt auf der Insel, in diesem Paradies, wo alles erlaubt ist, die verbotene Frucht so alltäglich, dass nichts mehr verboten ist außer dem Verbieten selbst. Im Winter haben wir keinen Kontakt zueinander, keine Vorfreude, keine nostalgischen Erinnerungen. Die winterliche Abwesenheit wird erst dann spürbar, wenn sich unsere drei Körper wieder in vollkommenem Einklang befinden. Hier.

Und doch hat sich in letzter Zeit etwas verändert. Je mehr die Sache aus dem Gleichgewicht gerät, desto mehr stirbt etwas. Kann ein solches Dreieck weiter bestehen, wenn es nicht länger gleichseitig ist?

Als ich in den Durchgang hinter der Bäckerei biege, werden meine Gedanken an das italienische Paar von einem gebräunten Gesicht vertrieben. Alex küsst mich auf die Wange, und als mir sein Parfum in die Nase steigt, muss ich daran denken, was ich vor ein paar Tagen gehört habe: »Unter dem Deckmantel seiner Galerie betreibt er Schmuggel mit wertvollen Ikonen.« Aber wer hat mir das noch gleich erzählt?

Bevor ich mich erinnern kann, sagt Alex: »Bist du bereit, dir eine weitere Stunde lang anzuhören, wie einzigartig und

Sein durchtriebenes Grinsen lässt sein von der Sonne gegerbtes, glattrasiertes Gesicht aussehen wie das eines frühzeitig gealterten kleinen Jungen.

Ich schüttle den Kopf und lächle, als er mir die Holztür zu Ericas Innenhof aufhält und mich als Erste eintreten lässt.