Kapitel 3

Mit ihren ausgebreiteten Armen und den weiten Ärmeln ihres gelben Kaftans sieht unsere Gastgeberin aus wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flattert, als sie von einem Gast zum nächsten geht. Sie küsst jeden auf die Wangen, plaudert eine Weile, preist die Drinks und Häppchen an, die von der jungen Frau hinter ihr angeboten werden, und hinterlässt auf allen unseren Gesichtern Spuren ihres Make-ups.

An diesem Abend sind wir nicht viele. Insgesamt zwölf Gäste, die alle ihr freundlichstes Lächeln aufgesetzt haben, obwohl ich vermute, dass die Hälfte von uns – mich eingeschlossen – lieber woanders wäre als im Hof von Ericas Haus.

Das liegt daran, dass sie uns behandelt, als wären wir ihr Hofstaat – Höflinge der Hoheit, die jeder inbrünstig hasst. Wäre es nicht so lächerlich, wäre ihr narzisstisches Verhalten nur traurig. Ihr einziges Gesprächsthema ist sie selbst: ihr Leben, ihre Erlebnisse, ihre Intelligenz, ihre Ansichten, die nicht infrage gestellt werden dürfen. Und ich nehme nur aus dem einen Grund an ihren Einladungen teil, weil sie mir leidtut. Sie ist eine einsame alte Frau, die mit jedem Jahr unerträglicher und selbstzerstörerischer wird.

Wie ein verwöhntes 75-jähriges Kind erwartet sie ganz selbstverständlich, auf einer Insel, die sie nach dem Motto

Wenn jemand jung und hübsch ist, sieht man ihm solche Kapriolen vielleicht nach. Aber nicht in ihrem Alter. Deshalb tut sie mir leid. Denn anscheinend sehe ich als Einzige die Verzweiflung und Einsamkeit hinter ihrem knallroten verschmierten Lächeln. Vielleicht bin ich auch die Einzige, die ihre kleinen Unfälle, ihre Stürze, ihre gebrochenen Rippen und die Migräneanfälle, die sie tagelang ans Haus fesseln, als das sieht, was sie in Wirklichkeit sind: bewusste oder unbewusste Hilferufe, Bitten um die Aufmerksamkeit derer, die sie, ihres Verhaltens überdrüssig, meiden.

Ich kann es ihnen nicht verdenken. Seit letztem Jahr ist es nicht nur ihr penetrantes Eigenlob, das allen auf die Nerven geht. Es sind auch die ständigen Wutanfälle, die Anschuldigungen und die grundlose Bösartigkeit, die jeden trifft, der gerade in ihrer Nähe ist. Vor einer Woche ist sie am Strand ausgerastet, weil es keinen freien Liegestuhl mehr gab – und das, obwohl sie der dafür zuständige Junge daran erinnerte, dass sie kurz zuvor eine Nachricht geschickt hatte, dass sie an diesem Tag nicht kommen würde. Aber egal, wie sehr er sie zu besänftigen versuchte und ihr versicherte, dass sie trotz der vielen Leute in wenigen Minuten eine Liege für sie finden würden, schrie sie weiter herum, beschimpfte den armen Kerl und machte den Freunden, die an diesem Nachmittag zufällig am Strand waren, heftige Vorwürfe, dass sie ihr keinen Liegestuhl unter einem Sonnenschirm reserviert hatten.

Die Hände wie in Der Schrei von Edvard Munch an ihr wutverzerrtes Gesicht geschlagen, steigerte sie sich in einen tränenreichen Wutkrampf hinein, wie undankbar alle seien.

»Ich habe euch alle hierhergebracht, nur meinetwegen seid ihr Freunde geworden, aber ihr habt meine Liebe und

Und mit einem schrillen Schrei, der selbst unter der glühend heißen Sonne allen das Blut in den Adern gefrieren ließ, stapfte sie davon und ließ alle betreten zurück. Das heißt, nicht alle; nur diejenigen, die im vergangenen Monat nicht ständig solche Szenen erlebt hatten.

Ihr Verhalten erweckt den Eindruck, dass die Königin von Nissos allmählich nicht mehr ganz zurechnungsfähig ist. Aber wenigstens verschießt sie ihre giftigen Pfeile ganz direkt, sodass sie die Leute nicht wie die von Paul Saumé in den Rücken treffen. Wenn sie einem etwas zu sagen hat – egal, ob es absurd, unrichtig oder einfach nur gemein ist –, sagt sie es einem ins Gesicht. Unabhängig davon, ob man allein ist oder von zwanzig Leuten umringt. Was andere als taktlos empfinden und als Grund, sie erst recht zu meiden, nennt sie Aufrichtigkeit und Direktheit.

Erica geht ins Haus. Ihre Stimme wird lauter, als sie mit der Haushälterin spricht, einer Frau aus dem Ort. Nicht einmal sie – obwohl sie »die besten Biftekia und Dolmades von Nissos macht« – kann dem Zorn der Königin entrinnen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Erica, egal wie viel sie zahlt, keine Haushälterin findet, die bereit ist, unter einem Dach mit ihr zu wohnen.

Wie alles auf der Insel hat natürlich auch ihr Haus eine eigene Geschichte. Es hat einmal einer Kaufmannsfamilie und schließlich deren einzigem Sohn gehört. Dieser ist nach Amerika ausgewandert und hat dort als Bauunternehmer ein Vermögen gemacht. Von ihm hat es dann Erica geerbt.

So weit die Fakten. Der Rest ist eine Mischung aus tatsächlichen Geschehnissen, Legenden und Gerüchten, die sich um das Haus ranken und zu einer Mythenbildung beigetragen haben und von denen niemand sagen kann, wie weit sie der Wahrheit entsprechen. Diese Legenden sind auf der ganzen

Der offiziellen Version zufolge, die Erica bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt, wurde sie von ihrer wohlhabenden Familie zum Studium nach New York geschickt. Dort lernte sie auf einer Party im Metropolitan Museum Kostas kennen, der sich unsterblich in sie verliebte.

In ihrer Jugend war sie tatsächlich eine Schönheit. Das beweisen die gerahmten Fotos von ihr, mit denen jedes freie Fleckchen Wand in ihrem Wohnzimmer behängt ist. Kostas und Erica ließen sich zwei Jahre lang auf Nissos nieder. Und als er – über fünfundzwanzig Jahre älter als sie – mit Anfang fünfzig starb, hinterließ er ihr seinen ganzen Besitz: Geld, zwei Apartments in Manhattan und das Haus sowie mehrere Grundstücke auf Nissos.

Zum Gedenken an Kostas kommt Erica jeden Sommer nach Nissos. Sie bringt Freunde und Bekannte mit und machte die arme Fischerinsel zu Beginn der siebziger Jahre so zu einem exklusiven Urlaubsparadies für die Reichen und Berühmten.

Laut einer alternativen Version, die inzwischen weiter verbreitet ist als die offizielle, stammt sie nicht aus einer reichen, sondern einer armen Südstaatenfamilie. In New York Modedesign zu studieren, war in Wirklichkeit schlicht notwendig, damit sie in der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten überleben konnte. Dieser Version zufolge nutzte sie ihre Schönheit aus, um einem deutlich älteren, sehr reichen Mann den Kopf zu verdrehen. Und dann, nachdem sie sich zwei, drei Jahre ein schönes Leben gemacht hatten und er sie als seine Alleinerbin eingesetzt hatte, starb er plötzlich – was ihr wahrscheinlich gelegen kam …

Manche Leute reden von Gift. Da er Herzprobleme hatte, zog niemand in Erwägung, er könnte eines nicht natürlichen

Andere spekulieren über einen schöneren Tod, einen petite mort, wie es die Franzosen nennen, einen kleinen Tod. Ein Herzinfarkt beim Sex, ein fataler Orgasmus, und Erica, vom Schock wie gelähmt, ruft nicht rechtzeitig den Krankenwagen. Oder sie denkt erst einmal in Ruhe nach und beschließt, keinen Arzt zu verständigen, weil ein toter Kostas für sie wertvoller ist als ein lebendiger.

Als sie jetzt aus ihrer Küche kommt, stürmt sie mit einem strahlenden, lippenstiftverschmierten Lächeln in ihrem dick geschminkten Gesicht auf mich zu. Hat Erica tatsächlich ihren Mann umgebracht? Egal ob mit Gift oder beim Sex oder indem sie ihn einfach wie einen Hund hat verrecken lassen, nur um alles von ihm zu erben? Um sich diesen Lebensstil leisten und sich die Königin dieser kleinen Insel am anderen Ende der Welt nennen zu können?

»Alles gut, meine Liebe?«, begrüßt sie mich.

Und ohne auf meine Antwort zu warten, reicht sie mir einen orangeroten Drink in einem flachen Glas.

»Sweet Poison«, erklärt sie dazu. »Süßes Gift, mein eigenes Rezept. An heißen Abenden wie heute gibt es nichts Erfrischenderes.«