Betty Levalois war die Ruhe in Person, als sie sich dem Kommissar lächelnd gegenübersetzte. Den ganzen juristischen Hickhack über das enorme Vermögen ihres toten Ehemanns hatte sie in Paris zurückgelassen, wo sich eine Gruppe von Anwälten um alles kümmerte.

Unwillkürlich schoss Markou bei ihrem Anblick durch den Kopf, dass Mehmet Ersen sie als Pferd bezeichnet hatte. Allerdings konnte der türkische Designer damit schwerlich das Äußere des ehemaligen Models gemeint haben. Eher dürfte er auf einen Wesenszug, eine gewisse Ausstrahlung der Brasilianerin angespielt haben, die Markou nur als in sich ruhendes Selbstbewusstsein beschreiben konnte und die einen unwillkürlich an ein Pferd, den edelsten Vertreter des Tierreichs, denken ließ.

Als er jetzt das in der Mordnacht aufgenommene Foto von ihr betrachtete, fiel ihm erneut auf, dass sie sehr fotogen war. Zu sehen war auch ihre Kleidung: der knallrote Overall, der von der Taille aufwärts von einem zypressengrünen Paschmina verdeckt war. Wie bei Alessandra Ardolini fragte sich Markou, ob Levalois darunter etwas verborgen hatte.

Er musste an Davis’ Manuskript denken. Er betrachtete Levalois’ große Hände, ihre Schultern und ihr markantes Gesicht und dachte: Sie könnten tatsächlich einem Mann gehören.

»Das ist nicht ganz richtig«, korrigierte sie ihn. »Ich habe gesagt, dass ich sie genauso wenig kannte wie alle anderen hier. Ich bin erst seit zehn Tagen auf der Insel …« Ihr t hörte sich gezischter an als am Tag zuvor.

»Genau das meinte ich«, erklärte Markou lächelnd. »Sie haben völlig recht. Sie hat sich für Ihre Heimat interessiert, richtig?«

»Ja.«

»Für die Situation der Minderheiten, sexuelle Befreiung und solche Dinge, haben Sie mir erzählt.« Er zog seine Notizen vom Vortag zurate. »Sonst noch etwas, woran Sie sich erinnern können?«

Levalois legte die Hand unters Kinn und unterstrich damit seine Kantigkeit. »Ich habe noch einmal über mein Gespräch mit Lucy nachgedacht, als Sie mich gestern darauf angesprochen haben, und dabei ist mir ziemlich genau wieder eingefallen, worüber wir uns unterhalten haben. Sie hat sich nach der politischen Lage, nach den Olympischen Spielen von 2016 und nach der Armut im Land erkundigt. Dann hat sie mir erzählt, dass Brasilien für die Schönheit seiner Menschen, Männer wie Frauen, berühmt ist.« Sie lächelte, als fasste sie Letztes als persönliches Kompliment auf.

»Sie hat mir von einem Brasilianer erzählt, der in London mit einem Freund von ihr verheiratet ist, und wollte wissen, ob in Brasilien gleichgeschlechtliche Ehen anerkannt sind.«

»Sind sie das?«, fragte der Kommissar, der sofort Davis’ dahinterstehende Absicht erkannte. Ihm war auch klar, welche möglichen Konsequenzen eine Bestätigung der Gerüchte über Levalois’ Gender für ihren Erbschaftsstreit haben konnte.

»Das weiß ich nicht. Aber ich glaube schon. Dazu müssen Sie wissen, dass ich schon eine Ewigkeit nicht mehr in

Der Kommissar nickte und fuhr fort.

»Hatten Sie und Frau Davis gemeinsame Freunde? Also Personen, die Davis sehr persönliche Dinge über Sie hätten erzählen können – über Ihre Vergangenheit zum Beispiel?«

»Ich glaube, nicht«, antwortete Levalois kurz angebunden. »Allerdings gibt es auf Wikipedia einen Eintrag über mich. Dort findet man alles über mein Leben und meine berufliche Laufbahn.«

Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Wie im Scheinwerferlicht und vor einer Kamera.

»Hatten Sie Geheimnisse vor Ihrem Mann?«

Die Frage schien ihr unangenehm zu sein. Sie verlagerte ihr Gewicht, schlug die Beine übereinander und antwortete: »Nein.«

»Und Sie führen mit den Kindern Ihres Mannes einen Rechtsstreit um sein Vermögen.«

»Das ist der Grund, weshalb ich unbedingt aus Paris wegwollte – um mich zu erholen und Abstand von allem zu gewinnen. Aber das sagte ich Ihnen bereits.«

Markou schwieg, woraufhin sie erklärte: »Die Kinder meines Mannes können sich nicht damit abfinden, dass sie bereits bekommen haben, was ihnen zusteht – übrigens sogar wesentlich mehr. Sie wollen nicht akzeptieren, wie ihr Vater sein Vermögen aufgeteilt hat, und verhalten sich wie verzogene kleine Kinder. Wäre er noch am Leben, würde er sich für ihr Verhalten und ihre Gier schämen.«

Und mit einem theatralischen Seufzen erklärte sie: »Darüber rede ich nicht gern. Um die rechtlichen Belange kümmern sich meine Anwälte. Ich bin hier, um das alles auszublenden. Außerdem verstehe ich nicht recht, was das mit dem Mord zu tun haben soll.«

Levalois’ Miene blieb vollkommen ausdrucklos.

»In ihrem Romanfragment werden auch Sie mehrmals erwähnt«, fuhr Markou fort.

»Ich?«, fragte die Brasilianerin mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Ist das so was wie ein Who’s-who-Buch?«

Der Kommissar ging nicht darauf ein. »Jedenfalls hat sie darin etwas erwähnt – nennen wir es mal ein Gerücht –, das, wenn es stimmt, Auswirkungen auf Ihren Erbschaftsstreit haben könnte.«

Plötzlich verdüsterte sich Levalois’ Miene. In ihren Augen zog ein Gewitter auf, dennoch war ihre Stimme ruhig, als sie sagte: »Ich bin sicher, Sie werden mir gleich erzählen, worum es sich handelt.«

Markou sträubte sich sichtbar. Der Gedanke, den er auszusprechen im Begriff war, kam ihm plötzlich vollkommen lächerlich vor. Aber jetzt war es zu spät für einen Rückzieher.

»Lucy Davis hat behauptet … dass … Sie … als Mann geboren wurden.«

Kaum war es heraus, entluden sich die dunklen Wolken in den Augen der Brasilianerin. Ihr schallendes Gelächter erfüllte das kleine Büro und hallte bis ins Vorzimmer, wo alle überrascht zur Tür schauten.

Das hemmungslose, fast hysterische Lachen, unter dem Levalois fast zu ersticken drohte, ließ auch Maroulas in Gelächter ausbrechen und zauberte sogar auf Markous Züge ein amüsiertes Grinsen.

Nach fünf Minuten bekam sie sich mit schweißglänzender Stirn und tränenüberströmtem Gesicht endlich wieder in den Griff.

Sie sammelte kopfschüttelnd ihre Gedanken und sagte:

Dann warf sie den Kopf zurück und fuhr fort: »Dass ich mal ein Mann war, habe ich allerdings noch nie gehört. Bei der nächsten Soiree wird die Geschichte bestimmt ein Brüller!«

Und ohne Markou eine Chance zu geben, weitere Fragen zu stellen, fügte sie hinzu: »Natürlich können Sie vom französischen oder brasilianischen Konsulat gern meine Personalien anfordern. Und wenn Ihnen das nicht genügt«, sie schnaubte, »kann ich Ihnen gern ein paar Babyfotos von mir zeigen, damit Sie sich selbst überzeugen können, dass ich keinen …«

Markou stand auf und murmelte: »Wenn wir noch weitere Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.« Damit war die Vernehmung beendet, und er gab Maroulas mit einem Nicken zu verstehen, sie hinauszubegleiten.