Die Akte in Markous Hand enthielt nicht viel mehr In- formationen als das, was ihm Katzikis vor einer halben Stunde erzählt hatte.
Er fand den Ordner, den einzigen von 1992, unter den Akten späterer Fälle im letzten Schub eines metallenen Büroschranks. Der beige Deckel war mit der Zeit so vergilbt, dass der Vermerk ARCHIV darauf kaum mehr zu erkennen war.
Katzikis hatte ihm erklärt, dass die Akte wegen der Verjährung der Tat zwar in das im Keller untergebrachte Archiv gehörte, er sie aber noch in seinem Büro haben wollte.
»Eine Art Totem sozusagen«, erklärte er dem Kommissar. »Ein Cold Case, der ungelöste Mordfall. Wie in einem Roman.«
Markou bat Mariama Milandi und Timos Karas, die zum verabredeten Termin erschienen waren, später wiederzukommen, und machte sich daran, die Akte mit dem Titel Unbekannte-Tote-Mord in der Metochi Kalogiron Seite für Seite durchzugehen. Was er dort las, eignete sich tatsächlich als Vorlage für einen Krimi: ein Mord, den wegen der extrem dünnen Beweislage nur ein Ermittler mit übermenschlichen Fähigkeiten lösen konnte.
Am 17. Juni 1992 entdeckte Thomas Doulgerakis in einem auf seinem Land gelegenen Brunnen einen menschlichen Schädel. Um genau zu sein, fand den Schädel ein Geologe, der zusammen mit einem Architekten den Zustand des Brunnens daraufhin untersuchte, ob er sich für das Haus eignete, das der Grundstücksinhaber dort an der Stelle eines alten Schuppens bauen wollte.
Mithilfe eines Tauchers konnte die Polizei – der jetzige Polizeichef war damals noch ein junger Polizist – den Schädel und den Großteil der Knochen eines menschlichen Skeletts bergen, die zur weiteren Untersuchung an ein Labor in Athen geschickt wurden.
Da es in den vorangegangenen zehn Jahren – so weit zurück hatten sie recherchiert – keine Vermisstenmeldungen und auch sonst keinerlei Hinweise auf die Identität der Toten gab, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die Laborbefunde zu warten. Und da damals DNA-Analysen noch nicht Eingang in die Arbeit griechischer Forensiker gefunden hatten, waren die einen Monat später eintreffenden Untersuchungsergebnisse keine große Hilfe bei den Ermittlungen.
Weiblich, Alter 22–25 Jahre, 161 cm war alles, was sie über das Opfer sagten. An ihrem Gebiss waren keine Eingriffe vorgenommen worden, und auch andere Hinweise wie »Metallplatten, Knochendeformationen oder sonstige Besonderheiten« wurden nicht gefunden.
Interessanter waren das Wie und die Frage, warum die junge Frau auf dem Grund des Brunnens gelandet war. Im Obduktionsbefund war von Anzeichen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas und massiven Schädigungen des Gehirns sowie schweren multiplen Frakturen von Stirn- und Scheitelbein auf beiden Seiten der Koronarnaht die Rede. Anders ausgedrückt, jemand hatte der Frau buchstäblich den Schädel zertrümmert, bevor er sie in den Brunnen geworfen hatte. Deshalb wurde der Fall als Mord eingestuft.
Die Frage nach dem Wann verkomplizierte die Sache weiter. Den Laboruntersuchungen zufolge hatte das Opfer mindestens zwanzig Jahre in seinem feuchten Grab gelegen. Die auf dem Zustand der Knochen, dem Salzgehalt des Wassers und der letzten Nutzung des Brunnens basierenden Analysen ließen nur eine sehr grobe Schätzung des Zeitraums zu, der bis zur Entdeckung des Skeletts vergangen war. Nämlich zwischen zwanzig und dreißig Jahren, also zwischen 1962 und 1972, wie in Klammern hinzugefügt war.
Obwohl die Tat längst verjährt war, kam es Mitte Juli 1992 auf Nissos zu einer regelrechten Hexenjagd nach dem Mörder der getöteten Frau. Da in den sechziger und siebziger Jahren auf der Insel niemand vermisst gemeldet worden war, ging man davon aus, dass es sich beim Opfer um eine allein reisende Touristin handelte, die sich nur kurz auf der Insel aufgehalten hatte.
Der Fundort der Leiche lenkte daher den Verdacht auf die Besitzer des Grundstücks, jedoch konnte nichts belegt werden.
Der damalige Besitzer, Thomas Doulgerakis jr., hatte das Grundstück gerade von seinem Großvater geerbt, der ebenfalls Thomas hieß und zu Beginn des Jahres gestorben war. Wegen seines Alters – er war 1992 sechsundzwanzig Jahre alt – kam er als Täter nicht infrage, daher fiel der Verdacht auf seinen Vater Nikos, einen 58 Jahre alten Fischer, und seinen Großvater. In der Mitte des kargen, unbebauten Grundstücks stand ein ehemals zum Kloster gehörender und seit Jahrzehnten nicht mehr genutzter Schuppen, für den der Brunnen als Wasserquelle gedient hatte.
Bei einer ersten Vernehmung hatte Nikos Doulgerakis erklärt, nichts über den Mord und das Opfer zu wissen, und immer wieder bekräftigt, dass er und sein Vater nichts mit der Sache zu tun hätten.
Belastendes Beweismaterial gegen die beiden Männer wurde nicht gefunden. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche, von Einheimischen oder Besuchern der Insel etwas über den Fall in Erfahrung zu bringen, wurden die Ermittlungen eingestellt. 2012, zwanzig Jahre später, zum zwanzigsten Jahrestag der Entdeckung der Toten, kam der Moment, in dem die Mordakte in den feuchten Archivkeller hätte wandern sollen.
»Wie hat diese Lucy Davis ausgesehen?«, fragte Katzikis, nachdem er Markou die ganze Geschichte erzählt hatte.
Als der Kommissar sie ihm beschrieb, hörte er mit langen zustimmenden Mhms zu und sagte schließlich: »Ich glaube zwar nicht, dass es etwas mit Ihrem Fall zu tun hat, aber sie ist mal auf die Wache gekommen, um sich über die Polizei im Allgemeinen zu erkundigen. Sie wissen schon, wie weit wir von der Finanzkrise betroffen sind, wie wir mit dem Personalmangel umgehen, lauter solche Dinge. Sie wollte nämlich einen Artikel schreiben …«
»Hat sie sich auch nach diesem alten Mord erkundigt?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Katzikis nach einer kurzen Pause.
»Um sich nach dem Mord zu erkundigen, ist sie vorher schon mal vorbeigekommen – Ende Juli, würde ich sagen. Damals hat ihr Valantis Verschiedenes über die Sache erzählt. Und ein paar Tage später kam sie dann noch mal an und hat mich ausgequetscht. Sie war sehr freundlich und sehr interessiert – allerdings auch ein bisschen penetrant –, jedenfalls hat sie sich sehr nett für meine Hilfe bedankt, dann aber angefangen, mich nach früheren Zeiten zu fragen. Sie wollte wissen, wie Nissos in den sechziger und siebziger Jahren war, die allgemeine Atmosphäre damals auf der Insel, ob die Moralvorstellungen noch sehr streng waren und wie sich das alles auf die Polizeiarbeit ausgewirkt hat. Sie hat mich auch nach der Zeit der Militärdiktatur gefragt, ob damals schon Touristen nach Nissos kamen, ob es Probleme mit Hippies und Aussteigern gab und ob wir grundsätzlich Ärger mit jungen Touristen hatten.
Ich habe ihr natürlich gesagt, dass ich in der fraglichen Zeit noch ein Kind war, dass wir aber mit Hippies meines Wissens keine Probleme hatten, weil es auf Nissos praktisch keine gab. Das war mehr auf anderen Inseln. Jedenfalls versicherte ich ihr, dass es bei uns keine Probleme mit Touristen gab – egal, ob mit alten oder jungen. Und in dem Zusammenhang fiel mir dann wahrscheinlich dieser alte Fall wieder ein, und ich erzählte ihr davon. Nicht so detailliert wie Ihnen gerade, aber doch genug, um sich ein grobes Bild zu machen.«
»Wie hat sie reagiert?«, fragte Markou.
»Eher neutral. Sie hat schon ein gewisses Interesse an der Sache gezeigt, aber nicht übermäßig. Unmittelbar danach ist sie gegangen, aber zwei Minuten später noch einmal zurückgekommen, weil sie ihre Tasche vergessen hatte. Sie wirkte irgendwie abwesend.«
»Können Sie sich noch erinnern, wann das genau war?«
»Vor etwa zehn Tagen?«, überlegte Katzikis laut. »Stimmt, vor elf Tagen, um genau zu sein, am Tag vor dem Fest des Heiligen …« Und er nannte den Namen des Schutzpatrons der Insel, von dem Markou noch nie etwas gehört hatte.
Also acht Tage vor dem Mord, dachte der Kommissar.
Hatte Davis etwas über den alten Mord gewusst? Hatte sie vorgehabt, ihn in ihr Buch einzubauen? Das wäre das perfekte Motiv gewesen. Allerdings gab es in ihrem Manuskript oder in den Notizen keinen Hinweis darauf. Konnte das irgendwo anders versteckt sein? In einem anderen Ordner oder in einer anderen Form? Als Artikel oder Kurzgeschichte getarnt?
Während Markou noch überlegte, ob er den jungen Kadetten Davis’ Laptop ein zweites Mal durchsuchen lassen sollte, ging die Tür auf, und Maroulas kam mit hochrotem Kopf herein.
»Ich kann Ersen nirgendwo finden!«, rief er. »Er ist nicht auf seinem Boot. Sein Motorroller ist verschwunden, und von den Leuten, die ich nach ihm gefragt habe, hat ihn seit gestern niemand mehr gesehen. Glauben Sie, er ist abgehauen?« Die Frustration in seinem verschwitzten Gesicht war unübersehbar.
Angesichts dieser Neuigkeiten verdüsterte sich die Miene des Kommissars. Allerdings nicht, weil er fürchtete, der Türke könnte abgehauen sein.