»Das wird ja langsam ein Dauerzustand, Kommissar …«, sagte die Ärztin halb im Ernst, halb im Scherz.
Als spielten sie die ganze Episode noch einmal nach, führten Mike und die Ärztin mithilfe des Krankenwagenfahrers einen weiteren Leichentransport durch. Diesmal fehlte allerdings der Valentino-Kleidersack, der Krankenwagen war diesmal wesentlich weiter weg geparkt, und es herrschte völlige Dunkelheit. Sie hatten den Türken kurz vor Sonnenuntergang am Gaidoura Beach entdeckt. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, und als sie jetzt den Toten von den Felsen hochzogen, waren die einzigen Lichtquellen die Sterne und ihre Taschenlampen. Wo sich bei Windstille der kleine Strand befand, war alles von wild aufgewühltem, von Seegras und Sand durchsetztem braungrünem Wasser überspült.
Als Erstes hatten Markou und Maroulas am Ende des schmalen unbefestigten Wegs, der zum Schuppen führte, Ersens Motorroller gefunden. Darauf begannen sie, immer wieder seinen Namen rufend, das von verdorrtem Gestrüpp und Steinen übersäte Gelände abzusuchen. Ohne Erfolg. Von Ersen fehlte jede Spur.
Markou machte sich bereits auf das Schlimmste gefasst. Neben einer Mauer aus lose aufeinandergeschichteten Steinen sah er den Brunnen, in dem vor fünfundzwanzig Jahren das Skelett der unbekannten Frau gefunden worden war. Die über der Öffnung befestigten Planken ließen sich nicht von der Stelle bewegen.
Kurz nach acht, als sich der Himmel von grellem Orange in dunkles Violett verfärbte und das letzte Tageslicht verschwand, schickten sie sich zum Gehen an. Doch dann schaute Maroulas die sechs Meter hohe Felswand zum Strand in einem Moment hinab, in dem sich das Wasser gerade aus der Bucht zurückzog, um in ihrer wilden, sich unablässig wiederholenden Choreographie mit neuer Wucht gegen sie anzubranden.
Und diesmal stach ihm zwischen den dunklen Felsen dort unten etwas Weißes in die Augen. Ein T-Shirt. Gleich darauf wurde es von einer Welle wieder mit Gischt und Sand überspült. Als sie sich zurückzog, kam ein Kopf zum Vorschein. Mit seinen weit aufgerissenen Augen und dem in seinen Haaren verhedderten, sich wie Schlangen windenden Seegras sah Mehmet Ersen aus wie ein Abbild der Medusa.
Kurze Zeit später wurden der Kommissar und Maroulas an Seilen in die Bucht hinabgelassen. Das Wasser reichte ihnen bis zum Bauch und brandete so wild gegen sie an, als wollte es sie auf der Suche nach weiteren Opfern von den Beinen reißen. Die klaffende Wunde auf Ersens Stirn, von der das unablässig an ihr leckende Meerwasser die letzten Reste Blut abgespült hatte, war auf den ersten Blick zu sehen. Als die Welle zurückwich, tauchten zwei Krabben auf, die sich jedoch sofort ängstlich verkrochen, als sie die Neuankömmlinge bemerkten. Aus ihrem Abendessen wurde nichts.
Hoch über Markous und Maroulas’ von Schweiß und Meerwasser triefenden Köpfen standen oben auf den Felsen Dr. Kastelaki, Mike und der Krankenwagenfahrer bereit, um die Leiche an zwei Gurten hochzuziehen. Da es wegen der scharfkantigen Felswände und des heftigen Sturms keine andere Möglichkeit gab, in die Bucht zu gelangen, ließ sie sich nur so abtransportieren.
Mit einem kurzen Blick nach oben gab Markou das Signal zum Hochziehen. Sobald die Leiche aus dem Wasser gehievt wurde, schlenkerten ihre Glieder unkontrolliert hin und her.
Maroulas, der die Bergung des Toten aufmerksam verfolgte, äußerte die Vermutung, dass der Türke im starken Wind wahrscheinlich den Halt verloren hatte und auf die spitzen Felsen gestürzt war.
»Ich habe ihn gewarnt, bei diesem Wetter nicht hierherzukommen«, sagte er, allerdings hatte er das am Tag zuvor bloß auf Griechisch geflüstert. »Er kommt jetzt schon jahrelang nach Nissos. Da hätte er eigentlich wissen müssen, dass ›Gaidoura wild ausschlägt, wenn es so bläst‹«, fügte er in Anspielung auf ein hiesiges Sprichwort hinzu, das sich auf die Eselin bezog, nach der die Bucht benannt war.
Markou glaubte jedoch nicht im Entferntesten an einen Unfall. Was hatte Ersen hier gewollt? Warum war er bei diesem Wetter an so einen abgeschiedenen Ort gekommen? Und warum hatte er sein Ziel beim Verlassen der Polizeiwache geradezu hinausgebrüllt?
Markous Gedanken wanderten vom tobenden Mittelmeer zur Stille des Nils, zu einem Flussdampfer, zu Agatha Christie, zu Hercule Poirot und zu einem französischen Dienstmädchen, das wusste, wer seine Herrin ermordet hatte. Um den Mörder zu erpressen, hatte sie ihm auf eine Art, die nur er verstehen konnte, klargemacht, dass sie ihn bei der Tat gesehen hatte.
Hatte der Türke gewusst, wer der Mörder von Lucy Davis war? War der Hinweis, dass er auf dem Weg zum Gaidoura Beach war, an eine Person im Vorzimmer der Wache gerichtet gewesen?
In dem Moment, als der Tote schon fast oben war, riss eine weitere Welle den Kommissar beinahe um. Er konnte sich gerade noch fangen, und beim Anblick des tosenden Wassers um sich herum kamen ihm die Zeilen eines Volkslieds in den Sinn, das er seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte: »Meer und Salzwasser, ich kann euch nicht vergessen. Ich kann euch nie vergessen, Meer und Salzwasser. Meer, o Meer, das ihn verschlungen hat, o Meer, o Meer, mein kleines Meer …«