Sie verließen den verlassenen Strand und begannen, in der heißen Mittagssonne die Felsen hinaufzusteigen. Er ging voraus, ohne ihr Beachtung zu schenken oder ihr seine Hilfe anzubieten, als sie Mühe hatte, unter dem Gewicht ihres Rucksacks das Gleichgewicht zu halten. Abgesehen von seinen heftigen Vorwürfen hatten sie den ganzen Tag kein Wort gewechselt.
Sie erreichten das Plateau und gingen zwischen dornigem Gestrüpp und Steinen hindurch über das ausgedörrte Gelände. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt, nicht nur wegen der Hitze, des anstrengenden Wegs und des Hungers, sondern auch seinetwegen. Als könnte er ihre Gedanken lesen, schaute er abrupt zu ihr zurück. Seine Augen, in denen einmal etwas gebrannt hatte, was sie für Leidenschaft und Liebe gehalten hatte, erinnerten sie jetzt an die eines Raubtiers. Sein kleiner Mund, der ihren Körper einmal so unersättlich erkundet hatte, blieb jetzt fest verschlossen. Doch sie wusste, dass er sich jederzeit öffnen und wie ein ausbrechender Vulkan alles in seinem Umkreis zerstören konnte. Sie fürchtete sich vor seinen Eifersuchtsausbrüchen, die immer häufiger und gewaltsamer wurden.
Aus diesem Grund hatten sie die letzten zehn Tage auf der Insel bei ihren Wanderungen zu einsamen Buchten und abgeschiedenen Stellen jeden menschlichen Kontakt gemieden und waren nur hin und wieder ein paar, meistens alten Einheimischen begegnet. Am Morgen zuvor waren sie jedoch nach Chora gegangen, um an einer religiösen Prozession teilzunehmen. Eine alte Frau hatte ihnen erzählt, dass auch das junge griechische Königspaar teilnehmen würde, was sich jedoch als falsch erwies. Trotzdem war es eine feierliche Prozession anlässlich des Festes Mariä Himmelfahrt, das in Griechenland Mariä Entschlafung heißt. Sie verstand den Unterschied erst, als er ihn ihr erklärte. Sie war nicht einmal sicher, ob wirklich stimmte, was er sagte, da er immer so tat, als wüsste er über alles bestens Bescheid. Sie tat so, als könnte sie seinen Ausführungen folgen, und um ihn nicht zu reizen, lächelte und nickte sie, damit er sie bloß nicht wieder als dumm bezeichnete. Leider gab es am Ende doch Ärger.
Mit Kerzen in der Hand standen sie inmitten von Dutzenden Menschen auf der Platia, dem Hauptplatz von Chora, als eine Gruppe von Gläubigen mit religiösen Gegenständen und Leuchtern um die Ecke bog. Hinter ihnen trugen Popen in bunten, goldbestickten Gewändern eine auf einem goldenen Tuch liegende Ikone der Jungfrau Maria. Die Gläubigen bekreuzigten sich, verstreuten Rosenblüten und besprengten die Ikone mit Rosenwasser.
Nach der Isolation der letzten Tage, in denen sie so gut wie keinen Kontakt zu anderen Menschen gehabt hatten, konnte sie gar nicht genug bekommen von dem Treiben um sie herum. Alle waren in ihren besten Kleidern und Anzügen und schlossen sich der feierlichen Prozession an. Die Insel hatte zwar nicht mehr als hundert ständige Bewohner, aber im Sommer kamen viele Angehörige, um ihre Verwandten zu besuchen. Sie waren an ihren Kleidern und ihren Kameras leicht zu erkennen. Fremde gab es auf Nissos kaum. Die Touristen bevorzugten belebtere und leichter erreichbare Inseln wie Rhodos oder Mykonos, wo es auch luxuriöse Hotels gab. Als sie jemanden Französisch sprechen hörte, schaute sie deshalb sofort in diese Richtung.
Es war ein junges Paar, das händchenhaltend die an ihm vorbeiziehende Prozession beobachtete. Der gebräunte Mann legte der Frau die Hände auf die Schultern und schob sie sanft hinter den Popen her in Richtung Kloster.
Beim Anblick des glücklichen Pärchens musste sie lächeln. Wie lang war es her, dass er sie an der Hand genommen hatte? Wie lang war es her, dass er sie wie zu Beginn ihrer Beziehung voll Liebe oder Begierde umarmt hatte? Wenn er sie jetzt in den Armen hielt, brachte er damit nur zum Ausdruck, dass sie ihm gehörte. Trotzdem hatte sie, als sie sich vor zwei Jahren kennengelernt hatten, geglaubt, einen Ersatz für die Familie und die Eltern gefunden zu haben, die sie nie hatte – bis er sie immer mehr von ihren Freunden und Bekannten absonderte und wie eine Gefangene ihrer, wie er es nannte, »absoluten Liebe« hielt.
Dummerweise sah er, wie sie das Paar anlächelte, und dachte sofort, ihr Lächeln gälte dem Mann. Er packte sie grob am Arm und zog sie von der Menge fort.
»Geht das schon wieder los?«, fuhr er sie an, sobald sie allein waren. »Immer wieder das gleiche Theater!« Als sie sah, wie er angespannt die Fäuste ballte, musste sie an die Nacht denken, als sie mit ihm Schluss machen wollte, weil sie seine Eifersucht, seine Szenen und die Isolation nicht mehr aushielt. Völlig außer sich hatte er in ihrer gemeinsamen Wohnung in Saint Germain des Près alles kurz und klein geschlagen. Und genau wie damals zog er die Oberlippe bedrohlich hoch zu seiner spitzen Hakennase, die aussah wie der Schnabel eines Geiers und die er immer lachend als Kennzeichen eines starken Charakters bezeichnete.
Ohne ihn anzusehen, senkte sie den Kopf und schwieg, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, obwohl sie am liebsten geschrien hätte: »Was heißt hier ›Immer wieder das gleiche Theater‹?« Sie hatte ihm nie einen Anlass für seine an Paranoia grenzende Eifersucht geliefert.
Aber er fasste ihr verängstigtes Schweigen als Schuldgeständnis auf und zog sie unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen durch Olivenhaine und Gestrüpp hinter sich her, bis sie die verlassene Bucht erreichten. Sie verbrachten die Nacht in völligem Schweigen, bis am Morgen ein vorwurfsvolles Wort zu ihrem überstürzten Aufbruch führte. Es war Hunger, der sie antrieb. Sie mussten am Hafen ihre Lebensmittelvorräte auffüllen. Es war ihre Schuld, hielt er ihr vor, dass sie nicht genügend Konserven eingekauft hatte. Aber sie hatte nicht mehr tragen können.
Er wandte seinen finsteren Blick von ihr ab und deutete wortlos er auf die Früchte eines riesigen Kaktus, der zehn Meter vor ihnen an einer Steinmauer stand. »Fránkiko sýko, die Frankenfeigen, wie die Griechen sie nennen«, hatte er ihr erklärt, als sie die saftigen Früchte zum ersten Mal kosteten. Ihre abweisende stachlige Haut barg ein köstliches Geheimnis.
Sie stellten ihre Rucksäcke an einem Brunnen ab. Er nahm das Schweizer Messer aus seiner Tasche, schnitt eine Kaktusfeige samt Blatt ab und entfernte die Stacheln mit einem Stein, den er vom Boden aufhob. Er legte den Stein neben das Taschenmesser auf den Brunnenrand und pflückte mithilfe des Blatts noch ein Dutzend weitere Früchte. Er legte sie alle in einen kleinen Topf, der mit einem Riemen an seinem Rucksack befestigt war. Dann gab er ihn ihr und beugte sich über den Brunnenrand, um zu schauen, ob er Wasser enthielt.
»Nachdem man die Stacheln auf den Früchten mit kaltem Wasser aufgeweicht hat, macht man mit einem Messer drei Schnitte, zwei tiefe an den Enden und dazwischen einen flachen, etwa so tief wie die Haut. Dann klappt man die beiden Hälften auseinander und isst das Innere«, hatte er ihr vor einer Woche erklärt.
»Wir haben keinen Eimer, um Wasser zu schöpfen«, bemerkte sie jetzt zaghaft.
»Das sehe ich auch«, antwortete er schroff. »Ich bin ja nicht blind, nicht so wie du, die nur Augen für andere Männer hat.« Er drehte sich zu ihr und fügte zischend hinzu: »Du miese Hure!«
Bei ihr kam jetzt alles zusammen: die Erschöpfung, die Enttäuschung, die Kränkung durch seine ungerechtfertigten Anschuldigungen, ihre Frustration und Wut. Ihr platzte der Kragen, und sie warf seinen Topf auf den Boden, sodass die Kaktusfeigen unter seinem ungläubigen Blick in alle Richtungen davonflogen. Sie holte tief Luft und schrie aus vollem Hals: »Mir reicht’s!« Dann kehrte sie ihm den Rücken zu, um davonzustapfen.
Deshalb sah sie nicht, wie er den Stein packte, mit dem er gerade die Stacheln entfernt hatte …