Wie am Tag zuvor machte Markou sich unter der sengenden Sonne auf den Weg die Gasse hinauf, die zu Mariama Milandis Haus führte. In seiner rechten Gesäßtasche war der von der Staatsanwaltschaft Rhodos ausgestellte Haftbefehl, der an das antiquierte Faxgerät der Polizeistation von Nissos geschickt worden war. In seiner linken Tasche war eine Kopie des 1965 aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotos. Am Abend zuvor hatten sie Mariama Milandi daran gehindert, die Fähre zu nehmen, aber inzwischen stand es ihr frei abzureisen. Vorher hatte Maroulas sie jedoch noch um ein paar ergänzende Angaben gebeten. Sie mussten sich mit ihrem Vater in Verbindung setzen. Der Umstand, dass er zum ersten Mal seit Jahren nicht nach Nissos gekommen war, hatte sich nicht nur auf den Verlauf der Ereignisse, sondern auch auf Markous Schlussfolgerungen ausgewirkt.
Mariama Milandi war nicht die Einzige, die es nicht erwarten konnte, von der Insel fortzukommen. Auch die Ardolinis hatten angerufen und gefragt, ob sie nach Italien zurückkehren könnten. Und die brasilianische Schönheit hatte einen Hubschrauber gebucht, um später am Tag nach Patmos zu fliegen, wo Freunde sie auf ihrem Boot erwarteten. Der September nahte, und Nissos würde bald zu seiner gewohnten Einsamkeit zurückkehren. Bis nächsten Sommer.
Die Glocke des Klosters schlug zweimal, als kündigte sie Markous Ankunft an. Er öffnete die Tür und rief ihren Namen.
Im richtigen Leben – genau wie in Kriminalromanen – ist die Suche nach der Wahrheit wie das Betreten eines Raums, in dem man nach einem verborgenen Gegenstand sucht. Man öffnet Schubladen und Schränke, verrückt Möbel, hebt Teppiche an, steckt seinen Finger in jede Öffnung einer Oberfläche. Und wenn man die Antwort gefunden hat, diesen Gegenstand, nach dem man unermüdlich gesucht hat, muss man dafür sorgen, dass alles wieder an seinen gewohnten Platz kommt. Dass jede Schachtel und Schublade geschlossen ist, jede Ecke aufgeräumt, der Inhalt jedes Regals genau so wie zuvor. Keine Frage sollte unbeantwortet bleiben. Sogar ein einziger Spalt, eine übersehene Stelle, eine nicht perfekt schließende Schranktür kann das ganze logische Konstrukt zum Einsturz bringen.
Markou hatte alle Antworten, und als er Katzikis seine Schlussfolgerungen mitteilte, schüttelte ihm dieser die Hand und wandte sich an seinen Neffen: »Hör gut zu und lern was daraus!«
Nur ein kleiner Punkt musste noch bestätigt werden, um auch die letzte überraschende Wendung ausschließen zu können. Alle großen und kleinen Warums und Wies waren geklärt. Markous ganzes Gedankengebäude, das infolge eines Topfs mit Basilikum und einer unnötigen Lüge in umgekehrter Reihenfolge, also vom Dach zu den Grundfesten errichtet worden war, hatte jetzt ein solides Fundament.
Zehn Minuten später flüsterte Archondia am Küchentisch mit einem griechischen Kaffee in der Hand: »Wirklich nett von Ihnen, dass Sie mich nach diesen unartigen Kindern fragen! Sie erinnern sich aber auch wirklich an alles, junger Mann. Aber deshalb sind Sie ja auch Polizist. Ich habe es tatsächlich gefunden, im Wäschekorb. Der ganze Ärger war grundlos. Wahrscheinlich hab ich es vergessen. Ich dachte, ich hätte es gewaschen. Und das andere wird sicher auch noch auftauchen. Ist außerdem nicht weiter wichtig. Aber der Herr wird sich ärgern, wenn er herausfindet, dass ich über solch belangloses Zeug mit Ihnen rede, über die Wäsche und verschwundene Hemden! Erzählen Sie ihm das bloß nicht!«
Und dann beantwortete sie dem Kommissar eine Frage zu Cadena, die er ihr zuvor gestellt hatte. »Dem armen Mann geht es von Tag zu Tag schlechter. Er geht nicht mehr aus dem Haus und pafft eine Zigarette nach der anderen. Alles stinkt nach Rauch! Was? Ob er rausgeht, wenn ich nachmittags nicht hier bin? Keine Ahnung, aber wo sollte er schon hin, junger Mann? Haben Sie ihn denn nicht gesehen? Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er geht nicht mehr schwimmen, er geht nicht mehr wandern, er bringt nicht mehr wie früher Opuntien in seinem kleinen Kübel nach Hause. Wenn man zu viele von den Dingern isst, bekommt man Verstopfung und kann nicht mehr … Sie wissen schon …«
»Opuntien?«, fragte der Kommissar, als er dieses Wort schon wieder von ihr hörte. Beim ersten Mal hatte er nicht darauf geachtet, doch inzwischen wusste er, dass jede Kleinigkeit zählte und dass er keine Schublade halb offen lassen durfte. Archondias Antwort enthielt jedoch nichts Neues.
»Ja, Opuntien. So nennt er sie. Er sagt, das ist der wissenschaftliche Name der Kaktusfeigen.«