Die Stille in der Polizeistation wurde nur vom Nebelhorn der einlaufenden Fähre gestört.
Der Kommissar stand auf und ging, ohne einen Blick auf Cadena zu werfen, ans Fenster. Katzikis folgte ihm. Die Polizeieskorte, die sie am Morgen angefordert hatten, als sie die Aufklärung des Falls an die Staatsanwaltschaft Rhodos meldeten, würde in Kürze von Bord gehen, um Cadena zur offiziellen Vernehmung nach Rhodos zu bringen. Als ihn der Kommissar vor wenigen Stunden auf seine Rechte aufmerksam gemacht hatte, hatte sich der alte Mann geweigert, sich vom einzigen Anwalt der Insel vertreten zu lassen. Die Anwesenheit eines solchen war jedoch erforderlich bei Anklageerhebung wegen zweifachen Mords. Der dritte war bereits verjährt.
Cadena hatte die ihm angelasteten Taten nicht geleugnet. Gefasst, aber mit gebrochener Stimme hatte er ihnen alles erzählt. Ohne den Blick von Markou abzuwenden, hatte er sich zu allen fraglichen Punkten geäußert und die Schlussfolgerungen des Kommissars bestätigt. Das Geheimnis, das er über fünfzig Jahre mit sich herumgetragen hatte und das Lucy Davis das Leben kosten sollte, war aus den Tiefen seines Gedächtnisses gehoben worden, ähnlich wie die unbekannte Tote aus dem Brunnen. Sie hatten nicht nur die Morde an Lucy Davis und Mehmet Ersen aufgeklärt, sondern auch den ad acta gelegten Fall von 1992.
»Ich habe sie geliebt, aber sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht.« Diese Worte hatten vor drei Stunden Cadenas Geständnis eingeleitet. Dem Kommissar war nicht klar, ob sie sich auf die junge Frau auf dem Foto oder auf Lucy Davis bezogen.
»Dom. Dominique Gossier«, fügte Cadena hinzu und gab damit dem lächelnden Gesicht auf dem Schwarz-Weiß-Foto einen Namen. Über ein halbes Jahrhundert später war die Tote aus dem Brunnen endlich identifiziert.
»Wir haben hier Urlaub gemacht. Es war ihr erstes Mal in Griechenland, unser erstes Mal auf der Insel. Es war im August 1965. Sie war sehr schön – wie schwer zu übersehen ist –, aber sie hat ihre Schönheit ausgenutzt. Sie wusste genau, dass ich ihr rettungslos verfallen war, und ließ mich entsprechend leiden. Ständig hat sie in meinem Beisein mit anderen Männern geflirtet. Es hat ihr richtig Spaß gemacht, mich zu quälen, und sie hat das Schlechteste in mir zum Vorschein gebracht.
Genau das ist auch an jenem Tag passiert. Auf dem Foto sehe ich wütend aus, aber ich bin sicher, dass ich ihr wie immer verziehen habe. Und dann … Ich weiß wirklich nicht mehr genau, was dann passiert ist … Das menschliche Gehirn versteht es irgendwie, schmerzliche Erinnerungen auszublenden. Anders als das Licht, wie Sie vorhin gesagt haben, Herr Kommissar. Wir waren am Gaidoura Beach. Den haben wir an unserem zweiten oder dritten Tag auf der Insel entdeckt und mochten ihn sehr. Es war Mittag. Ich erinnere mich an die Hitze, die Sonne. Wir haben Halt gemacht, um uns ein wenig auszuruhen. Sie hat irgendwas Beleidigendes gesagt, worauf ich die Beherrschung verloren habe. Danach verschwimmt in meiner Erinnerung alles. Ich habe mit einem Stein auf sie eingeschlagen. Wie oft, weiß ich nicht mehr …«
Oft genug, um ihr den Schädel zu zertrümmern, dachte Markou, der den Obduktionsbefund gelesen hatte.
»Als ich mich wieder im Griff hatte, als ich wieder ich selbst wurde, sah ich sie reglos auf dem Boden liegen. Ich beugte mich über sie und tastete nach ihrem Puls, obwohl ich bereits wusste, dass ich keinen mehr finden würde. Da wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich bekam Angst. Was, wenn mir niemand glaubte, dass sie mich beleidigt und zum Äußersten provoziert hat? Deshalb zog ich sie aus und warf sie in den Brunnen.«
Cadena hielt inne und nahm einen Schluck Wasser. Dann fuhr er fort: »Mit ihrem Rucksack bin ich runter zum Strand gegangen, um das Blut, den Schmutz und den Schweiß von mir abzuwaschen. Ich habe die Nacht dort verbracht. Ich wusste, dass am nächsten Morgen die Fähre kam. Ich kaufte mir ein Ticket und ging einfach an Bord. Niemand kannte mich; niemand kannte uns auf der Insel. Und in Paris würde sie niemand vermissen. Sie hatte keine Familie und hatte jeden, den sie dort kannte, aus unserem Leben ausgeschlossen. Wir lebten ausschließlich füreinander. Als ich Jahre später zufällig einer alten Freundin von Dom begegnete, die mich nach ihr fragte, erzählte ich ihr, dass wir schon lange getrennt waren, dass sie einen Amerikaner kennengelernt hatte und nicht mehr in Frankreich lebte. Niemand hat je nach ihr gesucht.«
Mit einem tiefen Seufzer fuhr Cadena fort: »Danach habe ich zweiundzwanzig Jahre keinen Fuß mehr auf Nissos gesetzt. Aber ich musste immer daran denken. Ich musste immer an sie denken. Zuerst rechnete ich ständig damit, dass jemand die Leiche entdecken würde; dass herauskäme, wer sie war und mit wem sie auf Nissos gewesen war; dass sie nach mir suchen, mich finden und verhaften würden. Und doch, Jahre vergingen, und das Glück war auf meiner Seite. Und das Geheimnis wurde ein Teil meines Lebens. Ich schloss es in einer Kiste ein, stellte es in eine Ecke und verbannte es aus meinem Alltag.
Irgendwann fiel mir in der Metro ein Plakat ins Auge, das für Ferien in Griechenland warb, und ich beschloss, nach Nissos zurückzukehren. Fragen Sie mich nicht, warum. Die Insel hat mich von dem Moment, als ich das ersten Mal Fuß auf sie setzte, vollkommen in ihren Bann gezogen. Nicht umsonst heißt es, entweder lässt einen ihre Energie, ihre Atmosphäre nicht mehr los, oder sie verstößt einen für immer. Mich hat Nissos an sich gebunden. Nicht nur durch seine spezielle Energie, sondern auch durch meine Tat. Durch das Geheimnis, das wir teilen.
Im Lauf der Jahre habe ich mit meinem Verlag so viel Geld verdient, dass ich hier Land kaufen konnte. Ich fand ein Grundstück mit einem verfallenen Haus darauf, und ein Jahr später war es fertig renoviert. Nissos hatte sich verändert. Es war nicht mehr die arme, schwer erreichbare Fischerinsel von 1965. Aber selbst damals, vor dreißig Jahren, hatte es noch nichts mit der Insel zu tun, die es heute ist. Es war immer noch sehr ruhig und beschaulich. Ein echter Rückzugsort, fernab von den Exzessen, die sich in den letzten zehn Jahren auf den griechischen Inseln häufen.
Und auch ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr der schlanke junge Mann mit dem langen braunen Haar, der auf dem Foto zu sehen ist. Ich ging auf die Fünfzig zu, und mein Haar war inzwischen kurz und grau. Ich hatte zugenommen, von meiner früheren sportlichen Figur war nichts mehr zu erkennen. Die wenigen Einheimischen, mit denen ich bei meinem ersten Aufenthalt auf der Insel zu tun gehabt hatte, waren mit Sicherheit längst tot. Und selbst wenn ich einem von ihnen begegnet wäre, hätte er mich bestimmt nicht mehr erkannt. Trotzdem lebte ich auf der Insel immer sehr zurückgezogen. Ich kam nur hierher, um zu lesen und mich zu erholen. Ich schloss keine Bekanntschaften, nahm keine Einladungen an. Als Entschuldigung schob ich immer meine Arbeit vor.
Doch die Insel ist klein. In meinem ersten Sommer auf Nissos lief ich in der Gasse vor meinem Haus David Milandi über den Weg. Ich konnte natürlich nicht wissen, dass sie auch zu seinem Haus führt. Er hat mir einen guten Morgen gewünscht, mich aber nicht erkannt. Vermutlich hat er mein Gesicht unter meinem Strohhut und hinter der Sonnenbrille gar nicht richtig gesehen. Aber ich konnte mich sofort an ihn erinnern. Er hatte sich nicht verändert. Obwohl über fünfundzwanzig Jahre vergangen waren, hatte er immer noch dieses schmale dunkle Gesicht. Ich erinnerte mich an ihn, weil Dom damals mit ihm geflirtet hat. Von da an habe ich mich total eingemauert. Ich mied die Strände, den Hauptplatz, die Restaurants. Alle hielten mich für einen Eigenbrötler. Obwohl Dominiques Leiche noch nicht gefunden worden war und sich sicher niemand an mich erinnert hätte, wollte ich kein Risiko eingehen. Ich mied Milandi wie der Teufel das Weihwasser, wie Archondia vermutlich sagen würde.«
»Und als er dann dieses Jahr nicht auf die Insel kam …«, unterbrach der Kommissar seinen Redefluss.
Cadena nickte. »Weil er dieses Jahr nicht hier war, habe ich zum ersten Mal neue Bekanntschaften geschlossen. Es gab niemanden mehr, der mich erkennen konnte. Die Leute, mit denen Lucy zu tun hatte, waren ausschließlich Fremde oder Personen, die zu jung waren, um mich damals gesehen haben zu können. Also hatte ich jetzt, mit fast achtzig und in Abwesenheit von David Milandi, keine Bedenken mehr.«
»Wenn nur diese alten Fotos nicht gewesen wären …«, flocht der Kommissar ein.
Ohne darauf einzugehen, fuhr Cadena fort: »Als ich im Juli 1992 bei meiner Ankunft auf der Insel erfuhr, dass ein Skelett entdeckt worden war, war das natürlich ein Schock. Sie hatten sie gefunden. Die ganze Insel stand Kopf, und alle fragten sich, wer die tote Frau aus dem Brunnen war und wie sie dorthin gelangt war. Mein erster Gedanke war natürlich, die nächste Fähre zu nehmen und wieder abzureisen. Doch aus irgendeinem Grund bin ich geblieben.
Nach fast dreißig Jahren wäre es schließlich schwer, einen Zusammenhang zwischen mir und der Toten herzustellen. Also habe ich einfach aufmerksam die Ermittlungen verfolgt. Ich hatte Archondia schon im Jahr davor angestellt, um im Winter das Haus zu lüften und sich im Sommer um alles zu kümmern, wenn ich hier war. Sie kochte und ging einkaufen, sodass ich das Haus nur verließ, um schwimmen oder wandern zu gehen. Von ihr erfuhr ich alles, was so passierte. Sie erzählte mir, dass die Besitzer des Landes, auf dem der Brunnen stand, in Verdacht gerieten, von den Laboruntersuchungen in Athen, denen zufolge sich der Mord irgendwann in den sechziger oder siebziger Jahren ereignet hatte, vom ganzen Klatsch und den vielen Gerüchten, die kursierten, und dass es der Polizei nicht gelungen war, die Tote zu identifizieren.
Tage vergingen. Dann Monate, Jahre, und der Fall blieb ungelöst. Er wurde zu einer Art moderner Sage, die aber bald von neuem Klatsch und aktuelleren Geschichten abgelöst wurde. Und wenig später geriet sie ganz in Vergessenheit. Ich war immer noch hier, unbehelligt und unantastbar. Niemand hatte mich damals gesehen, und ich konnte nicht mit einem Mord in Verbindung gebracht werden, der begangen worden war, bevor ich offiziell das erste Mal auf die Insel kam. Niemand wusste, dass ich einmal zehn Tage auf Nissos verbracht hatte und dass ich …«
Er ließ den Satz unvollendet stehen und griff nach dem Wasserglas.
»Niemand ahnte etwas«, sagte Markou, als das Glas Cadenas trockene, faltige Lippen berührte. »Bis zu dieser Fotoausstellung.«