»Die Ausstellungseröffnung war auf 18:30 Uhr angesetzt. Das hieß, vor halb acht würde niemand kommen. Lucy wollte, dass wir früh hingehen, weil sie später noch eine Verabredung hatte. Wahrscheinlich mit dem italienischen Paar, mit dem sie sich oft traf.«

Nachdem Cadena das Manuskript gelesen hatte, wusste er über alles Bescheid. Aus diesem Grund hatte er auch den Laptop nach der Tat nicht zerstört, obwohl er dank des Schlüssels unter dem Blumentopf Zugang zum Haus hatte. Aus demselben Grund hatte er auch nicht den ganzen Text gelöscht, sondern sogar dabei geholfen, ihn zu finden. So wurde der Verdacht nicht nur auf all jene gelenkt, die in dem Romanfragment erwähnt wurden, sondern der Polizei auch noch gleich ein Motiv mitgeliefert.

»Wir sind tatsächlich um halb sieben in die Galerie gegangen. Und wie erwartet, waren wir die einzigen Besucher. Da ich diesen Sommer von David Milandi nichts zu befürchten hatte, bin ich ab und zu ausgegangen. Ich hätte mir die Ausstellung auch allein angesehen, wenn Lucy nicht darauf bestanden hätte hinzugehen. Irgendetwas ließ mir an diesem Tag jedenfalls keine Ruhe, nennen Sie es meinetwegen eine Ahnung. Im Nachhinein betrachtet, wäre es sicher besser gewesen, allein hinzugehen.

Beim Betreten der Galerie schrie mich das Foto in der Mitte der rechten Wand regelrecht an. Selbst auf die

Ich behauptete, dass mir nur kurz schwindlig geworden sei. Sie fragte, ob ich mich setzen wollte, blickte aber weiter das Foto an. Als sie darauf zuging, zog ich sie zurück und bat sie um ein Glas Wasser. Sie entfernte sich, und ich trat näher an das Foto, was meine Panik nur noch verstärkte.

Über fünfzig Jahre lang hatte Nissos mein Geheimnis gehütet und jetzt verraten, was uns so lange verbunden hatte. Nissos hatte beschlossen, meine längst vergessene Anwesenheit im Jahr 1965 zu enthüllen. Und selbst wenn das nicht zwingend mit dem Mord in Verbindung gebracht würde – ich wusste, dass der Fall längst zu den Akten gelegt worden war –, würde es Fragen nach sich ziehen. Und Fragen wecken Verdacht. Das durfte ich nicht riskieren.

Als Lucy mit dem Wasser zurückkam, hatte ich mich längst von dem Foto entfernt. Ich versuchte fast krampfhaft, sie für die Aufnahmen an der gegenüberliegenden Wand zu interessieren, und äußerte mich in den höchsten Tönen über das Licht, den Blickwinkel, die Sujets. Ich drängte sie, ein paar zu kaufen.

Während sie sich weiter die Bilder ansah, ging ich zum Besitzer der Galerie und sagte ihm, dass ich vier Fotos kaufen wollte: das mit mir und die daneben. Ich bestand darauf, sie sofort mitzunehmen, und bezahlte bar. Ich gab ihm sogar noch Geld für ein zusätzliches Foto. Er war begeistert und steckte es ein. Als er die Bilder abhängte, kam Lucy dazu.

Sie stellte sich neben den Galeriebesitzer, als er gerade das Foto von der Prozession abnahm, auf dem ich zu sehen war. Sie folgte ihm mit dem Blick, während er in die Knie ging und es auf den Boden legte. Jedenfalls hatte sie genügend Zeit, um das Bild genau anzusehen. Und dann wanderte ihr Blick zum Begleittext, der noch an der Wand hing. Sie stand mit dem Rücken zu mir, deshalb konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Ich hoffte, sie würde mich nicht erkennen, denn mir war klar, dass meine Reaktion ihre Neugier und ihr Interesse an dem Foto erst geweckt hatte. Wenn ich kühlen Kopf bewahrt oder einen heftigen Schwindel vorgeschützt hätte, wenn wir sofort nach Hause gegangen wären und ich später angerufen hätte, um das Foto zu kaufen – wenn, wenn, wenn …

Als der Galerist die Fotos in seinem Büro einpackte, sah mich Lucy mit einem fragenden, leicht verschlagenen Lächeln an. Sie hatte mich auf dem Foto erkannt. Ich ließ ihr keine Zeit für lange Fragen, sondern sagte, ich fühlte mich nicht gut und wolle nach Hause. Aber sie bestand darauf, mich zu begleiten. Sie bot mir an, die Fotos zu tragen, aber ich wollte sie unter keinen Umständen aus den Händen geben.

Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein, nahm das Foto aus seinem Rahmen und starrte es lange an. Ich sah die verstrichenen Jahre, roch den Weihrauch der Prozession, berührte Doms Gesicht, streichelte ihr Haar und hörte die feierlichen religiösen Gesänge, die abrupt von ihren Beschimpfungen und einem unterdrückten Schrei abgelöst wurden, als sie von dem Stein am Kopf getroffen wurde. Meine Tränen fielen auf das Foto, dann zerriss ich

Aber das alles konnte nichts daran ändern, dass die Vergangenheit mich eingeholt hatte. Ich wusste, dass Lucy nicht nur eine scharfe Beobachterin war, sondern auch sehr hartnäckig. Mir war klar, dass sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen ließe. Und am nächsten Morgen versuchte sie mir im Spaß zu entlocken, was am Tag zuvor mit mir losgewesen sei.

Sie wollte wissen, ob ich eine ›wilde Jugend‹ gehabt hätte, ob ich ein Hippie gewesen und von Insel zu Insel gezogen und dabei mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre. Sie fand das Ganze eher witzig, während ich total aufgewühlt war. Das hätte die letzte Gelegenheit sein können, den Dingen eine andere Wendung zu geben. Hätte ich das Ganze wie sie auf die leichte Schulter genommen und meine Witze darüber gemacht, hätte ich ihr meine Jugendsünden gestanden und erzählt, dass ich verhaftet und von der Insel verjagt worden war, weil ich ein paar Früchte geklaut oder einen Joint geraucht hatte … Hätte ich die Episode mit einem Lachen abgetan und sie gebeten, niemandem etwas davon zu erzählen, hätte sie vielleicht gar nicht angefangen nachzubohren.

Aber stattdessen fuhr ich sie wütend an: ›Jetzt lass endlich deine blöden Fragen! Was soll dieser Quatsch? Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht darüber reden will!‹ Damit erklärte ich das Thema für beendet. Sie sah mich schockiert an. Später spiegelten sich noch andere Gemütszustände in ihrem Gesicht: Neugier, als Archondia die drei verbliebenen Fotos ins Wohnzimmer brachte und sie bemerkte, dass das vierte fehlte. Dann Fassungslosigkeit, als sie die Tür hinter sich schloss, um zum Hafen zu gehen. Und schließlich Frustration und Besorgnis, als sie zurückkam. Ich weiß immer noch nicht, wie sie das mit Dominique herausgefunden hat. Ein so lange zurückliegender Fall, für den sich niemand mehr

»Sie war in der Polizeistation«, unterbrach ihn Markou. »Sie hat sich bei Katzikis erkundigt, ob es früher Probleme mit jungen Touristen gab. Unter anderem wollte sie wissen, ob jemand mal wegen irgendeines Fehlverhaltens von der Insel verwiesen wurde. Aber so eine Form der Bestrafung gab es damals gar nicht. Doch Katzikis erzählte ihr von dem Mord: dass die Polizei keine Ahnung hatte, wer das Opfer und wer der Täter war, und dass deswegen niemand festgenommen worden war.«

Cadena nickte. »Ah, jetzt verstehe ich. Als sie an dem Abend zurückkam, eröffnete sie mir, dass sie ausziehen wollte. Sie hatte bereits eine neue Unterkunft gefunden. Als Archondia darauf meinte, sie könnte unmöglich etwas Besseres finden als mein Haus, erwiderte sie mit einem aufgesetzten Lächeln, dass sie einen Platz bräuchte, wo sie ungestört schreiben könnte. Ich habe ihr keine weiteren Fragen gestellt und mich nicht weiter zu der Sache geäußert. Ich habe sie nicht zurückgehalten. Als ich ihr am nächsten Morgen anbot, ihr mit dem Gepäck zu helfen, wich sie vor mir zurück und sagte, ich solle ihr bloß nicht nahe kommen.

Und das nach allem, was ich für sie getan habe. Nachdem ich sie Sommer für Sommer bei mir aufgenommen habe. Sie hat mich zurückgestoßen. Für einen Fehler in meiner Vergangenheit. Für etwas, das jemand anders vor fünfzig Jahren getan hat, jemand, der ich nicht mehr war.«

Von wegen, dachte Markou. Cadenas Haar mochte weiß geworden sein, sein Gesicht runder und sein Körper nicht mehr so fit, aber diese stechenden blauen Augen waren noch immer dieselben. Die Brutalität, die im Foto durchschimmerte und in seinen Worten mitschwang, war noch immer deutlich zu spüren. Und sie hatte zur Ermordung zweier weiterer Menschen geführt.