Die Fähre, die mit der Präzision einer Balletttänzerin manövrierte, würde in Kürze anlegen. Hinter der Absperrung am Pier warteten bereits die Passagiere mit ihren Rucksäcken und Koffern, um an Bord zu gehen.

Markou hatte beschlossen, ein paar Tage länger zu bleiben, um doch noch Erholung zu finden. Er hoffte, sein Urlaub würde nicht durch eine weitere Leiche ruiniert. Denn in Athen warteten bei seiner Rückkehr sicher schon einige auf ihn.

Seine Gedanken wanderten zur Abstellkammer von Mariama Milandis Haus, zu Lucy Davis’ Leiche, die dort im Wasser gelegen hatte.

»Ich wollte ihr nichts tun …« Cadena sprach den Satz nicht zu Ende. »Nachdem sie bei mir ausgezogen war, rief ich sie jeden Tag an, aber sie ging nicht ans Telefon. Sie ging mir aus dem Weg. Sie kam nicht einmal, wenn Archondia sie zum Mittagessen einlud. Sie sagte dann immer, sie hätte bereits etwas anderes vor oder sie hätte einen wichtigen Termin – einen wichtigen Termin … auf Nissos! – oder dass die Muse sie geküsst hätte, weshalb sie sich ganz aufs Schreiben konzentrieren wollte. Ich musste sie unbedingt sehen. Ich wollte ihr alles erklären. Hätte sie mir dazu nur Gelegenheit gegeben, hätte sie das Ganze bestimmt verstanden. Alles wäre wieder geworden wie früher.«

Also war der alte Mann, der ohne fremde Hilfe nicht mehr gehen und stehen konnte, die reinste Farce.

»Zweimal habe ich sie abgepasst, als sie nach Hause kam. Aber sie war nicht allein, sondern in Begleitung der Italiener. Ich versteckte mich hinter einem Ölbaum und ging unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Doch am letzten Tag beschloss ich, früher zum Pirate’s Beach zu gehen – um die Zeit, wenn sie normalerweise zum Strand aufbrach. Ich wartete eine Weile, bis ich merkte, dass sie gar nicht mehr zu Hause war. Deshalb bin ich reingegangen.«

»Der Hausschlüssel lag schließlich unter dem Topf mit dem Basilikum«, sagte Markou.

Cadena nickte. »Ja, das hat sie sich von Archondia abgeschaut. Ich ging nach drinnen und schaltete ihren Laptop ein. Wo ihr Manuskript abgespeichert war, wusste ich. Sie hatte es mir gezeigt, als sie im Juli mit dem Entwurf des ersten Kapitels fertig war. Und selbst wenn sie es woanders versteckt hätte, hätte ich es gefunden. Ich hatte ihr schließlich gezeigt, wie man es macht, eine Methode von Schriftstellern, bei der …«

»… man seinen Text versteckt, indem man ihn nicht versteckt, wie in Poes Erzählung ›Der entwendete Brief‹«, bemerkte Markou. Während ihn Katzikis erstaunt ansah, nickte der junge Kadett hinter ihm genauso wissend wie Cadena.

»Ich habe das Manuskript gefunden und …«

In sein müdes Gesicht schlich sich eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. »… wurde darin zweimal erwähnt: der Mörder aus den sechziger Jahren, der an den Tatort zurückkehrt, und das ›Negativ‹. Sie hat nach einem Beweis gesucht. Sie wollte das Negativ finden. Das Negativ, das ich

Da stand ich also in ihrem Manuskript, diesem Geschreibsel, genau wie alle anderen, nichts als Marionetten in ihren Händen. Ich, der sie auf die Insel gebracht und wie eine Tochter bei sich aufgenommen hat, ihr ein Bett und Essen zur Verfügung gestellt hat – aber vor allem habe ich ihr spirituelle Nahrung gegeben, die so viel kostbarer und schwerer zu bekommen ist als materielle. Mir verschwamm alles vor den Augen. Ich weiß nicht mehr, ob es Tränen der Wut oder Traurigkeit waren. Und dann habe ich etwas Dummes, fast Kindisches getan. Ich habe das Kapitel gelöscht. Ich wusste damals schon, dass es vollkommen sinnlos war. Mir war klar, dass sie es bemerken und daraus schließen würde, dass ich in ihrem Haus war. Ich wusste, sie würde sich darüber ärgern. Und natürlich wusste ich auch, dass sie das Ganze jederzeit noch mal schreiben konnte. Aber in diesem Moment kam mir nichts anderes in den Sinn. Und deshalb habe ich es gelöscht.«

»Davis hat ihren letzten Nachmittag mit Henrietta Banks am Strand verbracht«, erinnerte sich Markou. Er hatte also recht gehabt mit seinem Verdacht, dass nicht sie den Text geändert hatte. Wie Cadena richtig bemerkt hatte, hätte sie alles neu schreiben können. Außerdem hatte sie die zwei Zeilen an ihre Freundin gemailt, wodurch sie wie ein Gespenst den Weg zurück gefunden hatten, ohne dass Cadena es mitbekam.

Der Kommissar sah in Cadenas Vorgehen vielmehr eine Warnung, wenn nicht sogar eine offene Drohung. Er hatte gewollt, dass Lucy Davis wusste, dass er in ihr Haus eingedrungen war. Dass sie sich auf seiner Insel in seine Angelegenheiten einmischte. Mit den zwei gelöschten Zeilen hatte er ihr eine unmissverständliche Botschaft übermittelt. Schreib das nicht, sonst …

Aber natürlich war das alles nur Show für die anderen Gäste, um ihnen keinen Anlass zu liefern, irgendwelchen Klatsch über uns zu verbreiten. Die anderen sollten nicht merken, dass sich ihre Einstellung mir gegenüber verändert hatte. Alle dachten, sie wäre bei mir ausgezogen, um sich ganz aufs Schreiben zu konzentrieren. Oder um ihre nächtlichen Besucher ungestört zu empfangen.

Jedenfalls sprach sie den ganzen restlichen Abend kein Wort mit mir – nur ein gelegentliches Winken oder Lächeln, das jeder sehen konnte. Das Einzige, was an mich gerichtet war, sagte sie, während sie sich mit einer Gruppe Leute unterhielt. Etwas über Geheimnisse, die alle irgendwann an den Tag kommen, egal wie streng sie gehütet werden.«

Markou musste an das Foto von Lucy Davis, Levalois, Karas und Tsokas denken. Hinter Tsokas war Cadena zu sehen, der ihre Unterhaltung verfolgte. Davis’ Aussage war für ihn bestimmt gewesen.

»Ich wollte unbedingt mit ihr reden. Deshalb folgte ich ihr nach unten, als sie ging. Sie wollte mich nicht anhören und meinte, wir hätten uns nichts mehr zu sagen. Ich zog sie in das nächstbeste Zimmer, von dem ich annahm, es wäre ein Schlafzimmer. Zu unser beider Leidwesen war es eine Abstellkammer. Ohne Licht zu machen und im Schutz der lauten Musik versuchte ich, ihr alles zu erklären. Aber sie

Außerdem schleuderte sie mir ins Gesicht, dass sie in ihrem Buch nichts über mich schreiben und den Satz, den ich gelöscht hatte, nicht wieder einfügen würde, nicht aus Respekt – ich verdiente keinen, fand sie –, sondern aus Mitleid. Sie machte mir in aller Deutlichkeit klar, dass sie nicht wollte, dass ich ihr noch einmal nahe käme. Andernfalls würde sie vergessen, dass wir einmal Freunde waren, und mein Leben zerstören. Sie würde mein wahres Gesicht enthüllen, das eines Mörders. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, auf mich einzureden und mir Vorhaltungen zu machen, bis ich es einfach nicht mehr länger ertrug.«

Er hielt inne. »Mein Blick fiel auf einen Hammer. Durch das Fenster fiel ein wenig Licht in die Kammer. Ich glaube, sie sah noch, wie ich ihn anstarrte, aber sie kam nicht mehr dazu, mich aufzuhalten. Ich weiß nicht, was ich dann tat. Ich weiß es bis heute nicht. Ich war völlig außer mir, genau wie damals bei Dom. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, landete der Hammer auf ihrem Kopf. Und ihr Blut auf meinen Händen. In meinem Gesicht. Auf meinem weißen Hemd.

Als ich mich wieder im Griff hatte, öffnete ich die Tür einen Spaltbreit und zog den Schlauch in die Kammer. Ich wusch mir Gesicht und Hände damit und ließ ihn dann auf den Boden fallen, ohne das Wasser abzustellen. Ich war immer noch total durcheinander.«

Cadena wählte seine Worte mit großem Bedacht, als er zu beweisen versuchte, dass er sich noch nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Markou war jedoch davon überzeugt, dass der

»Bevor ich die Abstellkammer verließ, versteckte ich den Hammer unter meiner Achselhöhle, Lucys Handy und ihr Notizbuch in meiner Hosentasche. Ich schlich in die Gasse hinaus und lief zu mir nach Hause. Weit war es ja nicht, aber ich hatte immer noch keinen Plan, was ich tun sollte. Zu Hause angekommen sah ich ein weißes Hemd an der Wäscheleine hängen. Und obwohl ich immer noch völlig aufgelöst war, wurde mir auf einmal klar, was ich tun musste. Ich zog mein blutiges Hemd aus und versteckte es zusammen mit dem Hammer und Lucys Sachen unter dem Müllsack in der Tonne, um später alles wieder herauszuholen. Dann schlüpfte ich in das saubere Hemd und ging zu Milandis Haus zurück. Mir war klar, es wäre besser, wenn ich auf der Party blieb. Unabhängig davon, ob die Leiche noch in derselben Nacht entdeckt wurde oder nicht, musste ich unbedingt bis zum Ende der Party bleiben.«

»Aber der Türke hat gemerkt …«

»Genau.« Cadena nickte und machte sich bereit, in das Wasser des Gaidoura Beach zu tauchen – in das Wasser, das den einzigen Zeugen seines Kleiderwechsels verschlungen hatte.