Acht

Und während Athelstan nach St. Erconwald ritt, begannen andere, die ebenfalls in die Geheimnisse um die God’s Bright Light verwickelt waren, zu handeln. Der Mann, der in einer Schenke bei Queen’s Hithe saß, starrte durch das offene Fenster hinaus und sah zu, wie der Nebel über dem Fluß immer dichter wurde. Er bemühte sich, die mörderische Wut im Zaum zu halten, die heiß in seinen Adern kochte und ihm das Blut durch Kopf und Herz hämmern ließ. Seine Hand lag auf dem Dolch an seinem Gürtel.

»So weit weg«, murmelte er. »So verdammt weit weg, und doch so nah!«

Er holte tief Luft, schloß die Augen und lehnte sich zurück. Er dachte an Roffel, wie er über das Deck stapfte; der Wind blähte das Großsegel, und das Schiff zerteilte die Wellen, wie ein Messer durch Sahne schneidet - mit Kurs auf das Fischerboot. Die Mannschaft dort war dem Untergang geweiht! Roffel führte die Entermannschaft selbst an; er verschloß die Ohren vor den um Gnade flehenden Schreien, vor allem vor den Schreien dieser Engländer. Und später dann, in der Kapitänskajüte…

Der Mann öffnete die Augen und beugte sich vor. Alles hatte sich so gut angelassen, und dann wurde Roffel auf mysteriöse Weise krank und starb. Jetzt war alles verloren. Der Mann senkte den Blick auf das Pergament, das ihm in die Hand gedrückt worden war, als er in der Vintry gesessen und getrunken hatte. Er las es noch einmal.   

»Das verdammte Luder!« fluchte er.

Er warf das Pergament ins Feuer, stand auf und verließ die Schenke.

In einem anderen Teil der Stadt machte sich Bernicia für den Abend zurecht. Sie saß vor der polierten Stahlscheibe, die ihr als Spiegel diente, und betrachtete sich lächelnd.

»Er … sie …«, murmelte sie.

Sie würde allen falschen Anschein fällenlassen; schließlich war ihr Geheimnis bei Cranston sicher. Bernicia sah sich als Frau; sie dachte wie eine und fühlte wie eine. Sie betrachtete die billigen Ringe an ihren Fingern und war froh, daß Roffel tot war. Keine abgehackten Gliedmaßen, keine blutigen Geschenke, keine Grausamkeiten mehr! Bernicia war entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Sie beendete ihre Toilette, raffte ihren pelzgefütterten Kapuzenumhang an sich, löschte die Kerzen und schlüpfte hinaus auf die schattendunkle Straße, nachdem sie die Haustür hinter sich verschlossen hatte. Weit hatte sie es nicht; bald war sie an einer kleinen Schenke an der Ecke der Pigsnout Alley angekommen, einer schäbigen, schmutzigen Saufhöhle, wo die Männer auf wackligen Schemeln saßen und Fässer als Tische dienten. Bernicia ging auf den wohlhabend aussehenden Wirt zu, der ein ledernes Wams trug, eine braune Wollhose und eine fleckenlose weiße Schürze. Sie sah ihm an, daß er sie erkannte, aber das Ritual war immer das gleiche.

»Mistress, was möchtet Ihr?«

»Einen Becher Wein.«

»Roten oder weißen?«

»Beides hätte ich gern.«

»Und welche Sorte darf es sein?«

Bernicia erinnerte sich an die Parole für diese Woche. »Es heißt, der Saft von Bastogne sei frisch.«

Der Mann winkte sie durch in die kleine Küche und über einen gepflasterten Hof in eine Hütte, die wie eine Latrine aussah, doch in dem kleinen Raum waren Tische und Kornsäcke gelagert. Büschel von gelbem Heu und Stroh bedeckten den Boden wie ein dicker Teppich. Der Wirt schob einen Handkarren beiseite, befreite eine Stelle des Bodens mit dem Fuß vom Stroh und legte eine Falltür frei. Er zog sie auf -sie machte kaum ein Geräusch. Bernicia lächelte, als sie den Lichtschein sah und leises Geplauder hörte, den Klang einer Gambe und gedämpftes Lachen. Sie raffte ihren Rock hoch und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Der Raum dort unten war riesig, ein ausgedehnter, unterirdischer Lagerraum, dessen Wände und Säulen sauber geschrubbt und weiß gestrichen waren. Überall waren Fackeln angebracht, die Licht und ein wenig Wärme spendeten. Bernicia blieb im Schatten am Fuße der Treppe stehen und schaute mit kajalgeschwärzten Augen in die Runde. Ein paar der Gäste kannte sie; es waren Geschöpfe wie sie, die ein heimliches Leben unter denen führten, deren Gelüste sie befriedigten - Geistlichen, Kaufleuten, gelegentlich sogar Adligen. Jeder Tisch mit seinen beiden Stühlen war sorgsam so aufgestellt, daß man möglichst intim und unbelauscht beieinander saß; so konnten die Gäste sich unterhalten und zugleich aufmerksam beobachten, wer da kam und ging, ob über die Treppe oder durch den geheimen Gang am hinteren Ende des Raumes. Die Luft duftete süß; Kerzen und Kohlenbecken verströmten den Geruch von Kräutern, der sich mit dem schweren Parfüm mischte, mit dem einige der Gäste ihre Leiber wuschen. Gleichwohl spürte Bernicia unterschwellige Erregung, ja, Gefahr. Jeder hier war wachsam und auf der Hut vor Verrätern und Spitzeln. Wenn die königliche Wache in einen solchen Ort eindrang, würden die Anwesenden entweder auf das Schafott geschickt oder, schlimmer noch, in Smithfield gepfählt werden.    

Ein Page in einer hautengen Hose und einem offenen Leinenhemd kam federnd und hüftenschwenkend auf sie zu.

»Einen Tisch, Mistress?«

Bernicia lächelte und küßte den Knaben auf die Wangen.

»Natürlich.«

Der Page tänzelte vor ihr her und führte sie zu einem Tisch zwischen zwei Pfeilern. Er stellte eine kleine, umschirmte Kerze auf und brachte auf Bernicias Bitte hin einen Krug mit kühlem Weißwein und zwei Becher.

»Kapitän Roffel kommt nicht?« fragte der Page.

»Ich glaube nicht«, antwortete Bernicia hämisch. »Es sei denn, er könnte aus dem Sarg klettern.«

Der Junge zog einen mädchenhaften Schmollmund und ging davon. Bernicia goß sich einen Becher Wein ein und wartete. Vielleicht hatte sie heute abend das Glück, einen neuen Patron zu finden, jemanden, der ihre Fähigkeiten als Kurtisane zu schätzen wußte. Sie schrak zusammen, als eine vermummte Gestalt neben ihr auftauchte.

»Bernicia, wie reizend, dich hier zu sehen.«

Der Mann wartete nicht auf eine Einladung, sondern setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. Wie viele Gäste hier weigerte er sich, seine Kapuze abzustreifen, aber Bernicia sah das Funkeln der Augen in einem harten, sonnenverbrannten Gesicht. Ihr Blick fiel auf die Hände des Fremden, wettergegerbt, aber sauber und mit kurzgeschnittenen Nägeln. Bernicia lächelte; ein Seemann, dachte sie, vielleicht ein Kapitän wie Roffel? Sie rückte ihren Stuhl näher an den Tisch.

»Möchtest du Wein?«

Der Fremde legte ein Silberstück auf den Tisch. Bernicias Augen weiteten sich, und hastig füllte sie den Becher für den unerwarteten Gast.

»Wer bist du?«

»Wir hatten einen gemeinsamen Bekannten«, sagte der Fremde.

»Wen denn?«

»Kapitän William Roffel, den ehemaligen Herrn über das Schiff God’s Bright Light. Der Mistkerl verschimmelt jetzt in seinem Grab auf dem Friedhof von St. Mary Magdalene. Du warst seine Dirne?«

»Ich war seine Freundin«, verbesserte Bernicia verärgert.

»Nun, ich möchte, daß du auch meine Freundin bist«, sagte der Mann. »Nimm dieses Silberstück als Unterpfand meiner Freundschaft.«

Die Silbermünze verschwand. Bernicia erhob keine Einwände, als die Hand des Fremden unter den Tisch glitt und ihr Bein zu liebkosen begann.

»Woher kanntest du Kapitän Roffel?« fragte sie. Als sie sich umschaute, sah sie den Pagen dastehen. »Geh weg!« rief sie mit einem Schmollmund. »Geh und bring uns noch Weißwein und einen Teller mit Zuckerwerk für meinen Freund!«

Sie wartete, bis der Page sich hinternwackelnd außer Hörweite begeben hatte.

»Also? Wer bist du?«

»Ich habe einmal bei Roffel auf der God’s Bright Light gedient.«

Bernicia verbarg das Gesicht hinter den Fingern und kicherte.

»Was erheitert dich so?«

»Bist du einer von der Wache?«

Der Fremde lachte leise. »Vielleicht. Ein Mann, der für tot gehalten wird, ist für niemanden mehr eine Gefahr, vor allem nicht, wenn er ein Vermögen in Silber besitzt.«

Bernicia fuhr sich mit der Zunge über karmesinrot geschminkte Lippen; sie beugte sich vor und berührte sanft die Wange des Mannes.

»Mochtest du Roffel?« fistelte die Hure.

»Er war ein Schwein«, antwortete der Fremde, »und er hat bekommen, was er verdient hat. Genau wie ich. Kanntest du jemanden von seiner Mannschaft?«

Bernicia schüttelte den Kopf. »Kapitän Roffel hat mich immer ferngehalten von dem, was er seinen ›Beruf‹ nannte. Aber einige seiner Männer«, fügte sie in nörgelndem Ton hinzu, »wußten wohl von mir.« Bernicia schob sich noch ein bißchen näher. »Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen. Bist du nicht Bracklebury, der Erste Maat?«

Der Seemann lachte. »Was bedeutet das schon? Ich glaube, du wirst noch mehr von mir zu sehen bekommen, wer immer ich sein mag.«

»Wieviel mehr?« neckte Bernicia.

Der Page brachte einen neuen Krug Wein, und der Abend nahm seinen Fortgang. Irgendwann brachen Bernicia und ihr neugefundener Patron auf.

»Komm«, wisperte sie, während sie durch die Gassen eilten. »Sei heute nacht mein Gast.«

Sie erreichten Bernicias Haus, und sie führte ihren Gast zu dem Erker, in dem auch Athelstan und Cranston gesessen hatten. Das Feuer war entfacht, Kerzen angezündet und Wein aufgetischt. Der Seemann nahm Mantel und Kapuze ab und genoß die wohlige Wärme, während Bernicia ihn unauffällig musterte; sie sah wohl die guten Stiefel mit den hohen Absätzen, die lederne Jacke und das weiße Leinenhemd, das am Hals offen stand. Sie berührte ihren Gürtel, in dem das Silberstück steckte, und lächelte verstohlen.

»Wieviel hat Roffel dir erzählt?« fragte der Seemann plötzlich.

Bernicia lachte nur. Der Mann beugte sich vor, und seine Augen waren hart.

»Über seine letzte Reise und das Silber?«

Bernicia klapperte mit den Wimpern und schaute den Seemann kokett an.

»Ich verrate keine Geheimnisse«, flüsterte die Hure. »Roffel ist tot. Er kann mit seinem Silber zur Hölle fahren. Na, komm! Ich will darüber nicht weiter reden. Noch etwas Wein?«

Bernicia erhob sich, nahm den Becher des Seemanns und ging hinüber zu einem kleinen Tisch, um ihm nachzuschenken. Dabei lächelte sie, fuhr aber erschrocken herum, als sie einen Schritt hörte. Der Mann kam mit dem Dolch in der Hand auf sie zu. Bernicia kreischte auf und rannte zur Tür. Der Seemann packte die Hure bei den Haaren - und fluchte, als er die Perücke in der Hand hielt. Schluchzend und jammernd griff Bernicia nach dem Riegel, wollte ihn aufschieben, aber der Kopf wurde ihr in den Nacken gerissen, und das Messer durchtrennte ihre zarte Kehle von einem Ohr zum anderen.

Athelstan, frisch und ausgeschlafen, sah am nächsten Morgen in der Messe eine größere Gemeinde als sonst vor sich. Ashby, der bei Athelstans Rückkehr am Abend zuvor in tiefem Schlummer gelegen hatte, half Crim wiederum beim Altardienst. Rasiert und gewaschen sah er schon ansehnlicher aus. Er hatte sich am Tag zuvor eifrig betätigt, hatte den Gemeindemitgliedern geholfen, den großen Karren ins Querschiff zu fahren, und von den Altarstufen aus Anweisungen beim Aufspannen der großen rückwärtigen Plane gegeben.

Athelstan lächelte leise, als er die letzten Worte der Messe sprach. Ite missa est - geht, ihr seid entlassen. Er verneigte sich, küßte den Altar und sah sich dann kurz unter den Leuten um, die sich hinter dem Lettner zusammenkauerten. Aveline war da, das Gesicht halb hinter einem Schleier verborgen. Sie saß auf einem Schemel in einer Ecke des Chors und ließ ihren Geliebten nicht aus den Augen. Und dort hockte Watkin, der Mistsammler, und funkelte Pike, den Grabenbauer, wütend an. Athelstan stöhnte; ihre Feindseligkeit hatte auf ihre Ehefrauen übergegriffen, die einander jetzt auch mit schmalen Augen anblitzten. Der Maler Huddle saß auf seinen Fersen und schaute verträumt zur Decke hinauf. Mugwort, der schwachsinnige, bucklige Glöckner, zappelte wild; er brannte darauf, durch das Kirchenschiff zu laufen und die Glocke zu läuten, um anzuzeigen, daß die Messe vorüber war. Ursula, die Schweinebäuerin, war ebenfalls da, und neben ihr hingestreckt lag ihre mächtige Lieblingssau. Neben Ursula saß Pemel, die Flämin; sie hatte versucht, sich die Haare zu färben, und jetzt hingen sie in einem Gemisch aus Schwarz und Flachsgelb herunter und sahen neben dem weiß geschminkten Gesicht um so scheußlicher aus.    

Athelstan verbarg seine Enttäuschung. Er hatte sich während der Messe von dem Gedanken ablenken lassen, daß Benedicta vielleicht kommen würde. Die Witwe mit der glatten, olivfarbenen Haut, den entzückenden Augen und dem kohlschwarzen Haar ging ihm ab. Oft erzählte er ihr, womit er und Cranston gerade beschäftigt waren, und fragte sie um Rat. Benedicta hatte einen klugen Verstand, einen scharfen Witz und einen sarkastischen Humor, der sich als wertvoll erwies, wenn es darum ging, die verschiedenen Streitparteien im Gemeinderat miteinander zu versöhnen.

Athelstan seufzte und ging mit wehenden Gewändern in die Sakristei. Crim half ihm, sie abzulegen, während die Gemeinde pfeilschnell zu dem großen Wagen hinüberrannte und weiter über die Frage debattierte, wer was wann wo und wie tun sollte. Athelstan trat wieder hinaus und half Crim, den Altar abzuräumen und Buch, Glocke und Wein- und Wasserkännchen zu verstauen; dabei sah er, daß Lady Aveline und Master Ashby tief ins Gespräch versunken waren. Er bot ihnen ein Frühstück an, aber sie lehnten höflich ab; Ashby deutete auf die Provianttasche, die Lady Aveline mitgebracht hatte. Als Athelstan sah, daß seine Pfarrkinder in Wortgefechte verwickelt waren, verließ er unauffällig die Kirche und ging hinüber, um nach Philomel zu sehen. Dann ging er weiter ins Pfarrhaus.

Erstaunt sah er sich um. Die Küche war gefegt, frische Binsen bedeckten den Boden, und das Feuer war angefacht. Neben einem Teller mit dampfender Hafergrütze und dem Hornlöffel lag eine Scheibe Brot mit Butter und Käse. Ein Krug Ale stand auch auf dem Tisch. Athelstan hörte ein Geräusch aus der Speisekammer und grinste, als Benedicta herauskam.

»Lady, ich dachte, Ihr wärt noch nicht wieder da«, sagte er.

Er ergriff die warmen Hände der Witwe und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange. Benedicta trat errötend zurück, aber in ihren Augen funkelte die Fröhlichkeit.

»Ich wollte Euch überraschen, Pater. Nun, gefällt es Euch?« Sie deutete mit gespieltem Ernst in die Küche. »Im Herd war nur noch Asche, die Binsen waren nicht ausgewechselt worden, der Tisch war nicht geschrubbt, und ich glaube, ordentlich gegessen habt Ihr auch nicht.«

»Ich war bei John Cranston«, murmelte Athelstan.

Aber bevor er erzählen konnte, was sich ereignet hatte, schob Benedicta ihn sanft durch die Küche und forderte ihn auf, zu essen, bevor die süße Grütze kalt wurde. Athelstan gehorchte; er bemühte sich, seine heimliche Freude über das Wiedersehen mit der Freundin zu verbergen. Bonaventura, der die Nacht mit Jagd und Liebeswerben verbracht hatte, kam durch das offene Fenster herein und forderte mit klagendem Maunzen sein Schälchen Milch. Dann schleckte er gierig und streckte sich vor dem lodernden Feuer aus, während Benedicta von ihrer Besuchsreise berichtete. Danach saß sie geduldig da und hörte zu, wie Athelstan ihr von den Geheimnissen um die God’s Bright Light erzählte, vom Tod William Roffels und dem Mord an Sir Henry Ospring.      

»Ein Rätsel«, bestätigte Benedicta. »Lady Aveline habe ich gestern abend kennengelernt. Sie war bei Ashby. Außerdem habe ich diesem gedungenen Raufbold Marston befohlen, die Kirche zu verlassen. Aveline ist keine Mörderin«, fuhr sie fort. »Aber wie wollt Ihr beweisen, daß sie ihren Stiefvater in Notwehr erstochen hat? Und was die andere Sache angeht - Sir John würde wohl sagen: ›Bei den Zähnen der Hölle: Komplott und Gegenkomplott! «‹ Sie stützte die Arme auf' den Tisch. »Aber es kommt noch Schlimmeres«, fügte sie düster hinzu.

Athelstan legte seinen Löffel aus der Hand und starrte sie an. »Wieso?«

Benedicta verbarg ein Lächeln. »Ihr wißt von dem Streit zwischen Pike und Watkin?«

Athelstan nickte müde.

»Nun, Watkins Frau sagt jetzt, die Gattin Gott Vaters stehe höher als die Gattin des Heiligen Geistes.«

Athelstan schlug die Hände vors Gesicht.

»Nie wieder«, schwor er, »nie wieder werde ich erlauben, daß in dieser Gemeinde ein Mysterienspiel aufgeführt wird.« Er hob den Kopf, als es klopfte. »Herein!« rief er.

Aveline trat ein und lächelte Benedicta schüchtern zu. Athelstan erhob sich.

»Mylady, was gibt’s?«

»Pater, gestern abend habe ich Sir Henrys Papiere durchgesehen…«

Athelstan führte sie zu einem Stuhl.

»…und dabei habe ich dies hier gefunden.«

Sie gab ihm ein Stück Pergament, verschmiert und voller Daumenabdrücke. Athelstan strich es auf dem Tisch glatt. Es war eine Zeichnung darauf - zwei parallel verlaufene Linien, von Kreuzen umgeben. Athelstan starrte sie an.

»Mylady, was ist denn daran so außergewöhnlich?«

»Ich weiß es nicht, Pater. An sich bedeutet es vielleicht wenig, aber ich habe es in der Panzerschatulle meines Stiefvaters versteckt gefunden. Sie hatte einen doppelten Boden. Als ich ihn aufhob, lag die Zeichnung darunter.«

Athelstan starrte auf das Pergament.

»Warum versteckt Sir Henry ein scheinbar unauffälliges Blatt, wenn es nicht wirklich etwas sehr Kostbares oder Gefährliches ist?« Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, sagte er. »In Kapitän Roffels Stundenbuch. Die gleiche Zeichnung, die gleichen Kreuzmarkierungen.«

»Darf ich es sehen?« fragte Benedicta.

Athelstan reichte ihr das Pergament. Benedicta betrachtete es lange; dann blickte sie auf und lächelte Aveline an.

»Mein Mann, Gott schenke ihm die ewige Ruhe, war Kapitän zur See. Athelstan, habt Ihr Euch überlegt, daß diese Linien eine Karte darstellen könnten? Die obere zeigt die Küste von Frankreich - genauer gesagt, den Abschnitt von Calais« -, sie deutete auf eines der Kreuze - »bis zum Hafen von Dieppe. Die untere Linie ist die englische Küste. Die Kreuze könnten Schiffe sein.«

Athelstan konnte seine Erregung kaum im Zaum halten. »Zum erstenmal ergibt die Sache einen Sinn«, flüsterte er und schaute Aveline an. »Mylady, Euer Stiefvater war nicht nur Grundbesitzer und Kaufmann. Was war er noch?«

Aveline verzog das Gesicht. »Er war dafür verantwortlich, in der Grafschaft Truppen auszuheben, sollten die Franzosen einfallen.«

»Und was hat er noch getan?«

»Er hat der Krone Geld geliehen.«

»Ach, kommt, Aveline - was noch?«

Die junge Frau fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Nachts kamen oft Besucher in unser Haus, vermummte Männer, die lautlos wie Schatten auftauchten und wieder verschwanden. Ich glaube, es waren Spione. Manchmal half mein Stiefvater ihnen, nach Frankreich überzusetzen, aber nicht nach Calais, sondern in andere Häfen, die sich in französischem Besitz befinden.«

»Woher wißt Ihr das?«

»Mein Stiefvater traf sich immer nachts mit ihnen. Zuweilen ging ich noch nach unten und kam an seinem Zimmer vorbei, und dann saßen die Männer da, stets mit dem Rücken zur Tür. Es wurden Briefe ausgetauscht, und ich hörte auch Geld klimpern.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß so wenig. Mein Stiefvater behielt solche Geschäfte für sich. Er hatte mächtige Freunde bei Hofe, und sie entlohnten ihm seine Arbeit mit Gefälligkeiten.«

Athelstan stützte den Kopf auf beide Hände und starrte ins Feuer.

»War Ashby dann auch dabei?«

»Nein, nie.«

»Aber wer könnte außer Eurem Stiefvater noch davon wissen?«

Aveline lächelte. »Marston vielleicht. Manchmal hat er die Leute zur Küste gebracht.«

»Darf ich diese Zeichnung behalten?« fragte Athelstan.

Aveline nickte und wollte etwas sagen.

Der Ordensbruder hob die Hand. »Bevor Ihr sprecht, Lady Aveline: Ich habe Euch und Master Ashby nicht vergessen.«

Aveline lächelte, stand auf und ging.

Athelstan starrte weiter ins Feuer.

»Was meint Ihr, Bruder?« fragte Benedicta.

»Meiner Ansicht nach war Sir Henry Ospring ein viel zu mächtiger Edelmann, der viel zu viele Finger in viel zu vielen Töpfen hatte. Wir wissen, daß Roffel zwischen Calais und Dieppe ein Fischerboot aufgebracht und versenkt hat. Wir wissen, daß ihm der junge Ashby einen versiegelten Umschlag überbrachte. Ich vermute nun, daß der Umschlag eine Kopie dieser Karte enthielt, und darüber hinaus genaue Anweisungen, wo und wann das Boot aufzubringen war. Aber zunächst einmal ist daran ja nichts Besonderes. Ospring könnte Gerüchte von einer kostbaren Fracht gehört haben.« Er klopfte mit dem Finger auf die rohe Zeichnung. »Doch in diesem Fall befanden sich wichtige Botschaften und englische Spione an Bord des Schiffes.« Athelstan stand auf und hielt die Hände ans Feuer, um sie zu wärmen. »Am liebsten würde ich Marston zur Rede stellen, um festzustellen, ob er etwas weiß, aber das könnte diese Leute aufmerksam machen.« Er sah sich um und lächelte. »Benedicta, wollt Ihr mir einen Gefallen tun?«

»Was Ihr wollt, Pater.«

»Vergeßt den Streit zwischen Pike und Watkin. Ich möchte, daß Ihr eine kurze Nachricht in die eisenbeschlagene Truhe vor der Statue Unserer Lieben Frau mit dem Kinde in der St. Paul’s-Kathedrale legt.« Sein Lächeln wurde breiter, als er den Ausdruck der Verwunderung in Benedictas Gesicht sah.

»Eine ganz einfache Nachricht. Schreibt nur: ›Ihr Heiligen Peter und Paul, bittet für uns.‹ Unterschreibt mit Bruder Athelstan. Keine Sorge«, fügte er trocken hinzu, »die heiligen Apostel werden nicht einschreiten, aber zwei Herren vom Schatzamt werden sehr erfreut sein, ihre Bekanntschaft mit mir zu erneuern.«

Er durchquerte die Küche und nahm seinen Mantel von einem Haken an der Wand.

»Aber jetzt muß ich mir eine Baustelle anschauen.«

Er verabschiedete sich von der ratlosen Benedicta und ging um das Haus herum, um den wie stets widerstrebenden Philomel zu satteln. Wenig später ritt er durch die engen Gassen von Southwark. Er sah Marston und die anderen Kerle vor einer Schenke stehen; von dort aus konnten sie die Kirchentür im Auge behalten. Athelstan machte ein Kreuzzeichen in ihre Richtung und lächelte leise. Wenn sein Verdacht sich als richtig erwies, würde Marston sich bald nicht mehr nur um den armen Ashby Sorgen machen müssen.

Es war ein kalter, aber klarer Tag; starker Reif hatte Pfützen und Wagenspuren überfrieren lassen. Philomel, den Athelstan für das schlaueste Pferd der Welt hielt, ging dem Eis geschickt aus dem Weg, aber auch den Läden und Marktständen. Endlich kam Athelstan zu einem Platz, an dem Bauleute ein dreistöckiges Haus für einen Kaufmann errichteten, der den Zöllen, Abgaben und Steuern entgehen wollte, mit denen die Häuser am anderen Ufer belegt wurden. Athelstan beobachtete, wie die schimpfenden und fluchenden Männer, deren Atem schwer in der frostigen Morgenluft hing, ihre Steine auf wackligen Leitern nach oben schleppten. Zimmerleute sägten Holz, und Lehrjungen sprangen umher wie Äffchen. Athelstan sah den Bauleuten gern bei der Arbeit zu, und als sie ihm Grüße zuriefen, winkte er zur Antwort. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Dachdecker; er bewunderte seine Geschicklichkeit und Sicherheit. Schließlich machte er kehrt und ritt zurück in Richtung London Bridge. Als er an seiner Kirche vorbeikam, stürzte Crim, der Altarjunge, heraus.   

»Pater! Pater!«

Athelstan zügelte Philomel. Er befürchtete schon, Marston und seine Kerle hätten irgendwelche Bosheiten versucht; besorgt schaute er zur Kirche, aber alles schien ruhig zu sein.

»Was gibt’s denn, Crim?«

»Pater«, stotterte der Junge, »der Lord Roßzermalmer!«

»Du meinst Sir John Cranston, den Coroner der Stadt London?«

»Aye, Pater, den alten Fettarsch.«

»Crim!«

»Verzeihung, Pater, aber er hat einen Boten herübergeschickt. Ihr wißt doch, Pater - den mit dem verkniffenen Hintern, der wie eine Ente watschelt und immer das Gesicht verzieht, als ob er etwas Faules gerochen hätte.«

»Und was hat dieser Bote gesagt?« fragte Athelstan geduldig.

»Sir John will Euch dringend in der Cheapside sehen. Lady Benedicta ist schon losgegangen«, fügte er atemlos hinzu. »Sie wollte dort Vorbeigehen und Sir John sagen, daß Ihr unterwegs seid.«

Athelstan warf dem jungen eine Münze zu und setzte seinen Weg fort. Zum erstenmal seit Wochen trieb er Philomel zum schnellen Trab und machte sich kaum noch die Mühe, die Grüße und Zurufe zu beantworten. Er trappelte auf die Brücke und schaute nicht nach rechts oder links. Weshalb mochte Sir John wohl so ungeduldig nach seiner Anwesenheit verlangen? Aus Höflichkeit klopfte er am Haus des Coroners in der Cheapside, aber Lady Maude teilte ihm mit schmalen Lippen lediglich mit, »der Vogel« sei »längst ausgeflogen«. 

»In seine Kanzlei im Rathaus - sagt er wenigstens«, ergänzte sie düster. »Und Ihr wißt ja, wo das ist, Pater?«

Athelstan lächelte taktvoll. Als die Tür sich geschlossen hatte, führte er den schnaubenden, wiehernden Philomel, der immer noch gegen die ungewohnt rauhe Beanspruchung protestierte, über den geschäftigen Marktplatz. Dann gab er die Zügel einem Pferdeknecht und betrat die Schankstube vom »Heiligen Lamm Gottes«. Sir John saß bereits da; vor sich hatte er zwei große leere Weinbecher und ein paar Krumen von einer Pastete.

»Guten Morgen, Sir John.«

Cranston rülpste leise.

»In bester Verfassung wie immer, sehe ich«, sagte Athelstan und setzte sich zu ihm. 

»Es hat schon wieder einen verdammten Mord gegeben«, verkündete Cranston. »Erinnerst du dich an Bernicia, Roffels kleines Flittchen? Na, sie - oder er - ist tot. Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen, und das ganze Haus auf den Kopf gestellt.« Cranston schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Weiß der Himmel - sagt man nun er oder sie? Jedenfalls, Bernicia ist tot.«     

»Bernicia führte ein Schattenleben«, antwortete Athelstan.

»Was kümmert es mich, wie die Kreatur lebte?« blaffte Cranston. »Gott schenke dem armen Hund die ewige Ruhe. Aber hör dir das an, Bruder.« Er verlagerte seine Körpermassen. »Es gibt nicht viele Orte in London, wo jemand wie Bernicia hingehen kann. Vier oder fünf Spelunken, alles in allem, und alle nur ein paar Schritte voneinander entfernt.« Cranston unterbrach sich und brüllte nach einem vollen Becher. »Für gewöhnlich kümmere ich mich nicht um diese Häuser. Mich dauern die armen Menschen, die dort verkehren. Aber heute morgen, nachdem ich Bernicias Leiche gesehen hatte, war ich dort. Anfangs leugnete er, wie erwartet, aber dann förderte der silberzüngige Wirt einen Pagen zutage, der eine Reihe von Tatsachen auf seinen Eid nahm. Erstens: Bernicia war am Abend zuvor dort gewesen. Zweitens: Die Hure hatte sich mit jemandem getroffen und war mit ihm fortgegangen.«

»Und?«

»Der Junge sagt, der Fremde könnte Bracklebury gewesen sein. Jedenfalls war es ein Seemann, der Roffel und die God’s Bright Light kannte.«

Athelstan lehnte sich zurück und pfiff durch die Zähne.

»Seltsam«, murmelte er. »Ein logischer Irrtum, Sir John. Ich hatte immer angenommen, die Schiffswache sei entweder tot oder geflohen.«

»Wenn es jemand von der Wache war«, sagte Sir John, »dann ändert sich das Bild, und es wird so einfach, daß man sich verwundert fragen kann, warum wir nicht schon eher darauf gekommen sind. Der Erste Maat hat die beiden Matrosen umgebracht und ist dann vom Schiff gesprungen. Warum oder womit er die Tat begangen hat, wissen wir noch nicht.«

»Doch, ich glaube, wir wissen zumindest ersteres«, antwortete Athelstan.

Er zog die roh gezeichnete Seekarte hervor, die Aveline ihm am Morgen gegeben hatte, und trug Cranston in knappen Worten seine eigenen Schlußfolgerungen vor.

Cranston nahm einen Schluck aus dem Becher, den der Wirt ihm hingestellt hatte. »Demnach hätte Ospring Roffel also angewiesen, das Fischerboot aufzubringen und zu versenken. Aber warum? Soll das heißen, Ospring und Roffel waren Verräter?«

»Das hängt davon ab«, sagte Athelstan, »was sich auf diesem Fischerboot befand. Um das herauszufinden, habe ich Benedicta mit einer Bittschrift in die St.-Paul’s-Kathedrale geschickt. Nur unsere Freunde, die Revisoren, können uns diese Frage beantworten.«

»Es gibt aber noch andere, die wir befragen müssen«, sagte Cranston. »Deshalb habe ich alle Beteiligten - Admiral Sir Jacob Crawley, die anderen Offiziere und Mistress Roffel selbstverständlich - aufgefordert, gleich nach Mittag zu uns ins Rathaus zu kommen. Dem Zahlmeister Coffrey habe ich aufgetragen, das Logbuch des Schiffes mitzubringen.« Cranston schmatzte und streckte sich. »Bis dahin sollten wir es uns hier gemütlich machen. Was können wir sonst tun?«

Athelstan schaute verzweifelt auf die geleerten Weinbecher.

»Da wäre schon noch was, Sir John: dieser Einbrecher. Ich glaube, wir können ihm eine Falle stellen.«

Cranston ließ seinen Becher dröhnend auf den Tisch niederfahren.

»Fragt mich jetzt nicht, wie.« Athelstan lächelte. »Ich kenne Euch, Sir John - Ihr habt ein großes Herz, aber eine lose Zunge. Ich möchte, daß einer Eurer mächtigen Kaufmannsfreunde für zwei, drei Tage verreist. Er soll seine Familie mitnehmen und dafür sorgen, daß es öffentlich bekannt wird.«

Cranston starrte zu den Deckenbalken hinauf. »Da gibt es keinen«, sagte er. »Oh, doch - mein guter Arzt Theobald de Troyes; der hat ein Anwesen in Suffolk, da könnte er hin. Vielleicht kann ich ihn überreden.«

»Tut es gleich«, drängte Athelstan; er wollte einen möglichst großen Abstand zwischen Cranston und den nächsten Weinbecher bringen. »Aber sagt ihm, er soll erst in zwei oder drei Tagen abreisen.«

»Und wenn er nicht will?«

Athelstan zuckte die Achseln. »Dann müssen wir jemand anderen suchen.«

Maulend stapfte Cranston zur Tür hinaus. Athelstan lehnte sich seufzend zurück, schloß die Augen und fragte sich, ob Benedicta die Nachricht inzwischen überbracht hatte.

»Pater, wollt Ihr etwas essen oder trinken?«

Athelstan fuhr hoch und schaute in das besorgte Gesicht der Wirtin.

»Nein, danke.« Er lächelte. »Ich glaube, Sir John hat sich für uns beide bereits wacker geschlagen.«

Es machte den Ordensbruder befangen, allein in der Schenke zu sitzen, und so ging er hinaus in die Cheapside und zur Kirche von St. Mary Le Bow. Eine Zeitlang kniete er vor dem Altar und sprach ein paar Gebete; dann bewunderte er die schönen bunten Glasfenster im Kirchenschiff. Die leuchtenden Farben des kunstvoll zusammengefügten Glases erfüllten ihn immer wieder mit neuem Staunen. In seiner Darstellung des auferstandenen, verklärten Christus, der die Hölle bekämpfte und die Seelen befreite, die seines Kommens geharrt hatten, war es dem Künstler gelungen, die Verzückung in den Gesichtern der Heiligen und die Wut der schwarzen Dämonen, die hinter der Feuerwand hervorglotzten, auf das kundigste einzufangen. Cranston hatte versprochen, daß er für St. Erconwald ein ähnliches Fenster stiften würde, sobald es das Wetter gestattete.

Die Turmuhr schlug die Stunde, und Athelstan machte sich langsam auf den Rückweg. Er hatte gehofft, Sir John dort anzutreffen, doch statt dessen saßen da die beiden Revisoren und lächelten in schöner Eintracht, fast als säßen sie seit dem vergangenen Abend so da.

»Wir haben Euer Ersuchen bekommen, Bruder Athelstan.«

»Ich wünschte, alle meine Gebete würden so schnell erhört«, antwortete der Ordensbruder.

»Und wo steckt der vortreffliche Coroner?«

»Er hat etwas anderes zu erledigen.«

»Und was, guter Priester, habt Ihr uns zu sagen?«

Athelstan wiederholte die Schlußfolgerungen, die er nach seinem Gespräch mit Lady Aveline gezogen hatte, und zeigte den beiden Revisoren die rohe Zeichnung. Deren Lächeln verflog sofort.

»Sehr klug«, stellte Peter, der größere der beiden, fest. »Wirklich sehr klug. Ihr glaubt also, Bruder, Sir Henry hat Roffel von dem Schiff erzählt, und unser Pirat hat es versenkt.«

»Kurz gesagt, ja. Was Sir John und mich nur ratlos macht, ist die Frage nach dem Grund.«

»Nun, das ist einfach genug«, sagte der Revisor. »Sir Henry war vielleicht kein Verräter, aber ein Dieb und ein Mörder war er auf alle Fälle. Seht Ihr, Bruder, wir dachten, das Schiff sei wegen unserer Agenten und der Nachrichten, die sie bei sich hatten, versenkt worden. Aber jetzt muß ich gestehen, der Grund war ein Gürtel voller Silber, den einer von ihnen trug.« Der Revisor winkte Athelstan näher zu sich heran. »Ich will es Euch erklären. Ihr wißt, daß der Kronschatz leer ist. Daher leihen wir uns bei Männern wie Sir Henry zu hohen Zinsen Geld; wir dachten, man könne ihm vertrauen. Er hat oft für uns Agenten nach Frankreich übergesetzt. Eine Woche, bevor Roffel in See stach, schickten wir einen unserer Agenten, einen jungen Schreiber, zu Sir Henry, der ihm Ausweise und Papiere und einen breiten Ledergürtel mit einem veritablen Vermögen an eingenähten Silbermünzen übergab. Unser Agent und ein Begleiter sollten nach Calais fahren und an einem vereinbarten Tag weiter nach Dieppe segeln. Ospring aber, dieser Schweinehund…« Der Revisor brach ab und holte tief Luft. »Entschuldigt«, murmelte er. »Ich verliere die Beherrschung.«

»Das darf nicht geschehen«, warnte der andere.

»Nein, nein, es darf nicht geschehen. Aber es ist klar, daß Sir Henry der Krone das Silber geliehen und für die Beförderung des Agenten gesorgt hat. Dann hat er seinen Piratenfreund Roffel davon in Kenntnis gesetzt und ihm mitgeteilt, wann der Mann von unserer Garnison in Calais nach Dieppe fahren würde.«

»Eine schlaue und gerissene Betrügerei«, warf Paul ein. »Sir Henry verleiht sein Geld zu hohen Zinsen. Das Schatzamt ist gezwungen, das Darlehen zurückzuzahlen, aber gleichzeitig stiehlt sich Sir Henry das soeben von ihm überlassene Geld zurück.«   

»Roffel und Ospring haben den Tod verdient«, erklärte sein Kollege. »Diebe und Mörder, Ospring vor allem. Er hat unseren jungen Agenten empfangen und seinen Tod schon bei der Übergabe des Silbers geplant. Glaubt mir, Bruder, wer immer Sir Henry Ospring ermordet hat, verdient Pardon.« Er sah das Lächeln in Athelstans Gesicht. »Das erheitert Euch, Bruder?«

»Nein, Sir, überhaupt nicht. Aber schon manch wahres Wort wurde im Scherz ausgesprochen. Sir John und ich werden Euch in dieser Sache vielleicht noch beim Wort nehmen.«

»Wichtig ist jetzt«, erklärte Peter, »herauszufinden, ob Roffel Komplizen hatte, und das Silber wiederzubeschaffen.«

Die beiden Revisoren standen auf.

»Wir legen das alles vertrauensvoll in Eure fähigen Hände, Bruder Athelstan«, erklärte der größere. »Wenn das Spiel aus und die Wahrheit bekannt ist, kommt wieder zu uns.«