Neun

Sir John und Bruder Athelstan saßen am Kopfende eines verstaubten Tisches in einem schäbigen Zimmer im obersten Stock des Rathauses. Ihre Gäste waren um den Tisch verteilt und machten feindselige Gesichter. Emma Roffel, blaß und besorgt, konnte es anscheinend kaum erwarten zu verschwinden. Ihre Zofe Tabitha hockte zusammengekauert neben ihr wie ein verängstigtes Schoßhündchen. Sir Jacob Crawley, der am anderen Ende saß, weigerte sich, ihnen in die Augen zu sehen; er trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf dem Tisch. Die Männer von der God’s Bright Light - Philip Cabe, Dido Coffrey, Vincent Minter und der Schiffsprofoß Tostig Peverill - schauten unbehaglich. Sie hatten dagegen protestiert, daß man sie so herrisch herbeizitierte, aber Cranston hatte sie donnernd zum Schweigen gebracht; jetzt trank er zu Athelstans Verzweiflung in tiefen Zügen aus dem Weinschlauch. Schließlich drückte der Coroner den Stopfen wieder in den Schlauch und strahlte tückisch in die Runde.

»Alles, was man uns erzählt hat, war ein Haufen Lügen«, begann er honigsüß. »Nur, daß Kapitän William Roffel, Gott vergebe ihm, ein Pirat und Dieb und außerdem ein Mörder war.« 

Emma Roffel wollte Einspruch erheben, aber dann klappte sie den Mund wieder zu und lächelte nur matt vor sich hin.

»Ich protestiere«, erklärte Cabe. »Roffel kann zum Teufel gehen, und er hat es wahrscheinlich schon getan. Aber das ist kein Grund, uns zu beleidigen, Sir John.«     

Cranston schnippte mit den Fingern zu Coffrey, dem Zahlmeister, hinüber.

»Habt Ihr das Logbuch mitgebracht?«

»Sir John«, winselte der Mann, »Ihr habt es Euch doch angesehen, als Ihr das erste Mal bei uns wart.«

»Nun, dann will ich es noch einmal ansehen. Und ich habe Fragen an Euch alle.«

Coffrey schob ihm das in Kalbsleder gebundene Buch herüber. Cranston, der unter buschigen Brauen hervor mit halbem Auge den Admiral beobachtete, klappte das Buch auf und blätterte die wasserfleckigen Pergamentseiten um. Die Eintragungen waren durchaus unauffällig - die tägliche Position des Schiffes, die ergatterte Beute, gelegentliche Alarme oder sonstige Zwischenfälle an Bord. Cranston klappte das Buch zu, ließ aber seinen dicken Zeigefinger als Lesezeichen darin stecken und starrte Sir Jacob an.

»Kapitän Roffel stand unter Eurem Kommando?«

»Theoretisch ja«, antwortete der Admiral. »Aber er hatte eindeutige Befehle. Er sollte den Englischen Kanal befahren, feindliche Schiffe angreifen und englischen Unterstützung geben, wenn sie sie brauchten. Doch stand es ihm frei, zu kapern und als Prise zu nehmen, soviel er konnte.« 

Cranston lächelte. »Wenn das so ist, warum findet sich dann hier keine Erwähnung von einem Fischerboot, anscheinend französisch, das vor Calais gekapert wurde? Das Schiff wurde versenkt, die Besatzung umgebracht. Ich glaube, es wollte nach Dieppe.«

»Roffel hat viele Schiffe gekapert«, winselte Coffrey.

»Ja«, sagte Cranston, »aber solltet Ihr die nicht alle ins Log eintragen? Warum habt Ihr dieses ausgelassen?«

»Es war doch nur ein Fischerboot«, sagte Cabe. »Kaum mehr als ein schwimmendes Stück Holz mit einem Segelfetzen.«

Cranston funkelte ihn wutschnaubend über den Tisch hinweg an.

»Ihr seid ein verdammter Lügner!« brüllte er. »Es waren Männer an Bord, die keine Franzosen waren! Zumindest nicht alle!«

»Es geht hier um Hochverrat«, erklärte Athelstan sanft. »Wenn man uns nicht die Wahrheit sagt, sind wir zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß Ihr an Roffels frevelhaftem Treiben als Komplizen beteiligt wart.«

Emma Roffel wollte sich erheben.

»Das alles geht mich nichts an«, erklärte sie und raffte ihren Mantelsaum hoch. »Sir John, ich bitte Euch - ich habe genug durchgemacht.«

»Mylady«, sagte Athelstan taktvoll, »es geht Euch sehr wohl etwas an. Wollt Ihr nicht wissen, wer Euren Mann ermordet hat?« Er lächelte, und Emma Roffel setzte sich wieder.

»Es stimmt schon«, erklärte jetzt Tostig Peverill, »wir haben vor Calais ein Fischerboot aufgebracht.« Er blinzelte und rieb sich die Augen. »Calais ist in englischer Hand, aber wir dachten, es sei ein französisches Schiff - die pendeln manchmal zwischen den Küstenstädtchen hin und her.« Er deutete auf das Logbuch. »Bei genauerem Hinsehen war es jedoch offenkundig, daß Roffel das Boot erwartet hatte. Seht Ihr, wir hatten mit starkem Gegenwind zu kämpfen, mit einem böigen Nordwest, und wir hätten vor dem Wind laufen sollen. Aber Roffel bestand darauf, auf das Festland zuzuhalten, und hielt die französische Küste immer dicht über dem Horizont. Und an dem Tag, als wir das Fischerboot kaperten, ließen wir größere Schiffe unbehelligt davonsegeln. Erst als das Boot erschien, nahm Roffel Kurs darauf.« Peverill sah sich unter seinen Kameraden um. »Gebt’s doch zu«, drängte er, »wir alle fanden es verdächtig. Es war nur ein Fischerboot, aber als wir längsseits gekommen waren, befahl Roffel meinen Bogenschützen, zu schießen, als wäre es eine gottverdammte Kriegskogge. Und dann setzte er sich selbst an die Spitze des Entertrupps.«

»Wie groß war die Besatzung?« fragte Athelstan.

»Nicht mehr als sechs, sieben Mann«, antwortete Peverill. »Als wir an Deck kamen, waren sie alle schon verwundet oder tot. Roffel wütete wie ein Stier und stürmte auf die Kajüte zu.« Der Schiffsprofoß schwieg.

»Was weiter?« fragte Cranston.

»Wir anderen haben das Boot nicht geentert«, warf Cabe ein. »Nur Peverill, der Kapitän und fünfzehn Bogenschützen.«

»Aber es ist etwas geschehen«, drängte Athelstan. »Master Peverill?«

Peverill schloß die Augen, bevor er weitersprach. »Ich sagte schon, die Besatzung war entweder verwundet oder tot. Ich dachte, es wären Franzosen - aber als ich einen umdrehte, verfluchte er mich auf Englisch. Dann hörte ich, wie Roffel in der Kajüte mit jemandem redete. Ich bin sicher, daß der andere auch englisch sprach. Jemand schrie, und dann kam Roffel heraus; er grinste von einem Ohr zum anderen und hatte ein Bündel Papiere in der Hand, womöglich das Logbuch und die Frachtpapiere. Wir nahmen ein Faß Wein, das wir unter Deck fanden. Roffel befahl, das Boot anzuzünden. Dann warf er die Papiere ins Feuer, und wir segelten weiter.«

»Ist das alles?« fragte Athelstan.

Peverill spreizte die Hände. »Was sollte da sonst noch sein, Pater? Oh, ich gebe zu, im Rückblick schien da schon etwas Verdächtiges im Gange zu sein, aber Roffel war ein verschlagener, skrupelloser Hund, der nach seinem eigenen Gesetz handelte.«

»Die Besatzung bestand aus Franzosen«, überlegte Athelstan, »aber es waren Engländer an Bord. Es muß also aus unserer Garnison in Calais gekommen sein.«

»Ja, ja«, räumte Coffrey ein und schaute betreten in die Runde. »Aber Roffel war ein Mann, der sich um solche Feinheiten nicht weiter kümmerte.«

»Und wie hat…?« Athelstan brach ab, als Cranston auf seinem Stuhl nach hinten kippte und laut aufschnarchte. Entsetzt starrte er seinen fetten Freund an, und dann wurde er rot, als weiter unten am Tisch jemand kicherte.

»Der Kerl ist besoffen!« flüsterte Cabe.

»Sir John ist nicht besoffen!« fauchte Athelstan. »Nur müde, erschöpft nach harter Arbeit. Also stelle ich Euch meine Frage, Master Cabe, und ich stelle sie rundheraus: Wißt Ihr, ob von diesem Boot mehr als nur ein Faß Wein und ein paar Papiere geraubt wurde?«

Cabe schüttelte den Kopf.

»Nicht mehr?«

Cabe hob die rechte Hand. »Ich nehme es auf meinen Eid. Peverill sagte es schon: Die ganze Sache war verdächtig. Roffel war vergnügt wie ein Ferkel im Mist, aber der Teufel weiß, warum.«

»Wer unter den Anwesenden hatte denn Zugang zu Roffels Kajüte?« fragte Athelstan. »Oder, einfacher gefragt: Wer hatte Gelegenheit, in die Flasche, die er bei sich trug, Arsen zu schütten?«

»Nur Bracklebury«, antwortete Cabe. »Der Kapitän hat seine Flasche eifersüchtig bewacht. Wenn er sie nicht bei sich trug, versteckte er sie.« Er lächelte schmal. »Vielleicht sollten wir Bracklebury fragen?«

»Oh, das werde ich tun.« Cranston klappte die Augen auf und schmatzte. »Bracklebury wird ab jetzt gejagt, Master Cabe.« Der Coroner lächelte, als er die erstaunten Gesichter sah. »Ach, das habe ich zu erwähnen vergessen: Gestern nacht wurde Roffels Hure Bernicia in ihrem Haus brutal ermordet - oder sollte ich sagen, in seinem Haus? Jedenfalls hat der Mörder alles auf den Kopf gestellt, als suche er etwas. Wir glauben, daß Bernicia sich am Abend in einer geheimen Wirtschaft mit einem Seemann getroffen hat und daß sie zusammen dort weggegangen sind.«

»Bracklebury lebt noch?« flüsterte Emma Roffel.

Crawley rührte sich am anderen Ende des Tisches. »Aber, Sir John, ich dachte, er ist entweder tot oder desertiert? Wieso springt er vom Schiff und versteckt sich dann in London?«

»Vielleicht könnt Ihr uns da helfen, Sir Jacob«, schlug Cranston vor; seine Miene zeigte keinerlei Mitgefühl für seinen ehemaligen Freund.

»Wie meint Ihr das?« stotterte Crawley.

»Ihr habt doch behauptet, Ihr seid in der Nacht, als Bracklebury verschwand, an Bord Eures Flaggschiffes, der Holy Trinity, geblieben?«

Crawley stand jäh auf. »Sir John, Bruder Athelstan - ein Wort unter uns!«

Athelstan sah Cranston an, und der zuckte die Achseln.

»Vielleicht draußen«, murmelte Cranston.

Er und Athelstan standen auf und gingen hinaus in den zugigen Korridor. Sir Jacob kam zu ihnen und schloß die Tür hinter sich.   

»Ich weiß, was Ihr sagen werdet«, stammelte Crawley. »Aber, Sir John, Ihr müßt mir glauben. Ich bin ein ehrlicher Mann, doch ich lehne es ab, mich vor meinen Leuten verhören zu lassen.« Er scharrte mit den Füßen. »Um Gottes willen, ich habe meine Ehre. Vielleicht möchtet Ihr und Bruder Athelstan heute abend an Bord meines Schiffes mit mir speisen?«

»Wenn Ihr gutes Essen serviert«, antwortete Cranston, »kommen wir - und um die Wahrheit zu hören. Aber jetzt kommt; ich habe den anderen noch ein paar Fragen zu stellen.«

Sie kehrten in das Sitzungszimmer zurück, wo ihre unfreiwilligen Gäste in mürrischem Schweigen warteten. Athelstan verstand, warum Emma Roffel so verschlossen war, aber er spürte, daß auch die Seeleute eine Menge zu verbergen hatten.

»Wir wissen«, begann Athelstan, als Sir Jacob und Cranston ihre Plätze wieder eingenommen hatten, »daß sich an Bord der God’s Bright Light etwas Geheimnisvolles zugetragen hat. Peverills Geschichte von der Gespensterfurcht der Mannschaft hat sicher einen wahren Kern - Bracklebury wollte aus eigenen Gründen, daß alle Mann das Schiff verließen. Mit einer Laterne gab er jemandem, der sich am Kai versteckt hielt, irgendwelche Zeichen. Und wer könnte das gewesen sein?«

»Das ist ja ungeheuerlich!« erregte sich Cabe. »Bracklebury war der Erste Maat! Er befahl uns, das Schiff zu verlassen, und wir gingen von Bord. Da könnt Ihr meine Kameraden fragen. Wir haben die Nacht hindurch zusammen gefeiert. Ich sage es ehrlich: Wir haben auf Roffels Tod angestoßen. Aber keiner von uns ist zum Kai zurückgegangen.«

»Ja, ja, ja«, unterbrach Cranston gereizt. »Doch das Rätsel bleibt bestehen, Master Cabe. Ich glaube, daß Bracklebury an Bord blieb, um etwas zu suchen.«

»Was denn, zum Beispiel?« Vincent Minter, der Schiffsarzt, der die ganze Zeit über mit schmalen Lippen dagesessen hatte, meldete sich jetzt zu Wort. »Was denn, Sir John? Anscheinend wißt Ihr etwas, das wir nicht wissen; warum also sagt Ihr uns nicht, was es ist, statt zu versuchen, uns eine Falle zu stellen?« 

Cranstons weißer Bart schien zu einem eigenen Leben zu erwachen. Athelstan legte die Feder hin und berührte sanft das Handgelenk des Coroners.

»Laßt es mich erklären«, sagte er und schaute in die Runde. »Wir wissen aus einer anderen Quelle, daß Kapitän Roffel auf dem Fischerboot eine große Summe Silber raubte, die vom Schatzamt an die Agenten des Königs in Calais geschickt worden war, als Bestechungsgeld oder als Entlohnung für Spione, die in den französischen Städten operieren. Roffel wußte, daß das Geld unterwegs war. Deshalb überfiel er das Schiff und ermordete die Besatzung, einschließlich zwei treuer Diener des Königs.«     

Athelstan beobachtete die Gesichter seiner Zuhörer aufmerksam. Er spürte, daß er sich Stück für Stück der Wahrheit näherte.

»Roffel war glücklich über dieses Verbrechen«, fuhr Athelstan fort. »Er brachte das Silber an Bord der God’s Bright Light und versteckte es dort. Wir nehmen an, daß Bracklebury es nach Roffels Tod suchen wollte.« Athelstan nahm seine Feder und klopfte damit auf das Pergament. »Nun, ich dachte mir angesichts all dieser Fakten - und Fakten sind es daß Bracklebury das Silber vielleicht gefunden hat und damit geflohen ist. Aber das ist anscheinend nicht der Fall. Offenbar hat er nichts gefunden und ist vom Schiff geflohen, nachdem er die beiden Matrosen ermordet hatte. Vermutlich glaubte er sich betrogen, und sein Verdacht fiel auf die Hure Bernicia; deshalb brachte er sie um und durchsuchte ihr Haus.« Athelstan spreizte die Hände und lächelte. »Es sind vielleicht nur Mutmaßungen, aber ich bin sicher, daß Roffel dieses Silber gestohlen hat.« Er zuckte die Achseln. »Und danach kommen die Fragen. Wer hat Roffel ermordet? Wo ist das Silber jetzt? Warum ist Bracklebury geflohen? Warum hat er Bernicia ermordet?« Er starrte Emma Roffel über den Tisch hinweg an. »Mistress Roffel, jetzt begreift Ihr wohl, warum man Euch hergebeten hat.«

Die Frau betrachtete die Schiffskameraden ihres toten Mannes verachtungsvoll. »Bruder Athelstan, ich kann Euch nicht helfen«, sagte sie dann. »Ich weiß von diesen Dingen nichts. Mein Mann war sehr geheimniskrämerisch, was seine Geschäfte betraf. Was weiß ich - er kann seine Reichtümer überall in der Stadt versteckt haben.«

Cranston beugte sich vor. »Sagt, Bracklebury war es doch, der den Leichnam Eures Gatten und seine Habe zu Euch nach Hause brachte. Ist es nicht so?«

Sie nickte.

»Hat Bracklebury dabei etwas zu Euch gesagt?«

»Nein, er war ziemlich schweigsam und verschlossen und hat mich nicht sehr respektvoll behandelt. Wenn Tabitha nicht eingeschritten wäre, hätte er den Leichnam und die Tasche auf der Straße liegengelassen.« Sie senkte den Kopf. »Ja, ich habe sogar gesehen, wie er auf den Toten gespuckt hat.« Finster sah sie Cranston an. »Vielleicht war es ja Bracklebury, der in die Kirche St. Mary Magdalene eingebrochen ist.«

Cranston lehnte sich zurück. »Trübes Wasser«, brummte er. »Und je mehr wir darin rühren, desto mehr Schlamm kommt an die Oberfläche.« Er wackelte mit dem Finger. »Aber eines versichere ich Euch: Bracklebury hält sich in der Stadt verborgen. Aus irgendeinem Grund glaubt er, man habe ihn betrogen.« Er ließ seine Worte wie eine Henkersschlinge in der Luft hängen. »Ich halte es für möglich«, fügte er leise hinzu, »daß Bracklebury noch einmal mordet. Mistress Roffel, meine Herren, wir sind fertig mit Euch. Sir Jacob - Bruder Athelstan und ich werden heute abend Eure Gäste sein.« 

Der Coroner nahm demonstrativ noch einen Schluck aus seinem Weinschlauch, um seine Verachtung für die Seeleute zu zeigen; er hielt sie allesamt für Lügner. Dann drückte er den Stopfen wieder in den Schlauch, ohne Crawley eines Blickes zu würdigen, und rührte sich erst wieder, als die Tür sich hinter seinen widerstrebenden Gästen geschlossen hatte.

»Nun, was meinst du, Bruder?«

»Ein Gewirr von Lügen.« Athelstan erhob sich. »Wir sollten Sir Jacob Crawleys Einladung annehmen. Ach, Sir John, habt Ihr Euch um die andere Sache gekümmert?«

»Ja.« Cranston klopfte sich auf den Bauch. »Morgen macht Theobald de Troyes eine kurze Reise aufs Land. Sein Haus läßt er in der Obhut seines Verwalters und der Bediensteten zurück.«

»Gut.« Athelstan nagte verdrossen an der Unterlippe. »Diese Lügen und Geheimnisse fangen an, mich zu ärgern, Sir John. Ich schlage vor, wir gehen jetzt zum Hafen hinunter. Dieses zu Unrecht God’s Bright Light genannte Schiff birgt den Schlüssel zu diesem Rätsel.«

»Was schlägst du denn vor, Bruder? Daß wir an Bord gehen und Roffels Kajüte durchsuchen?«

»Aye, und daß wir sie, wenn nötig, ganz auseinandernehmen.«

»Du denkst an das Silber?«

»Ja, Sir John, ich denke an das Silber.«

Cranston hatte keine Einwände. »Aber wir wissen doch, daß die Kajüte an dem Morgen, als Bracklebury und die Matrosen vermißt wurden, nicht in Unordnung gebracht worden war.«

»Nein, Sir John, das hat man uns nur erzählt. Doch von jetzt an müssen wir nach dem Grundsatz handeln, daß alles, was man uns erzählt hat, möglicherweise gelogen war.«

Sie verließen das Rathaus. Der Himmel hatte sich bewölkt, und ein kalter Nieselregen setzte ein. Sie gingen die Bread Street hinunter, stets auf der Hut vor dem Wasser aus löchrigen Regenrinnen und vor den schlüpfrigen Schlammpfützen auf der Straße. Es war eine ungemütliche Wanderung durch Trinity, die Vintry und zum Dock hinunter. Zu ihrer Überraschung trafen sie dort ein reges Treiben an. Boote mit Bogenschützen und Soldaten fuhren zu den Schiffen, die in der Strommitte ankerten. Von Crawleys Flaggschiff, der Holy Trinity, hörte man eine Trompete. Cranston nahm einen Hauptmann beim Arm, der seine Bogenschützen anbrüllte, während sie in Kapuzenmänteln gehüllt auf die wartenden Barken hinunterkletterten.

»Was ist denn Mann? Warum diese Aufregung?«

Der Offizier drehte sich um. Athelstan sah kurzgeschnittenes Haar, graue Augen und ein hartgesottenes, regennasses Gesicht. Der Mann musterte Cranston von Kopf bis Fuß.

»Was geht Euch das an, Sir?«

»Ich bin John Cranston, der Coroner der Stadt!«

Der Mann zwang sich zu einem respektvollen Lächeln. »Dann werdet Ihr die Neuigkeit bald erfahren, Sir John. Französische Galeeren sind in der Themsemündung aufgekreuzt. Sie haben bereits ein Schiff gekapert und auf der Insel Thanet ein Dorf abgebrannt.«

Cranston pfiff durch die Zähne und spähte zu den Kriegskoggen hinaus. Durch den Regen sah er, daß alle Schiffe ihre Waffen bereitmachten.

»Sind die Franzosen denn eine ernsthafte Bedrohung?« fragte Athelstan.

Cranston gab keine Antwort. Er starrte auf den Fluß hinaus und dachte an die flach gestreckten, wolfsähnlichen Galeeren des Feindes. Sie konnten sich in einen kleinen Hafen oder einen Fluß hinauf schleichen - bemannt mit den besten französischen Seeleuten und Söldnern, hatten sie in den Küstenstädten Rye und Winchelsea schon schrecklichen Schaden angerichtet. Die Besatzungen hatten geplündert und gebrandschatzt und jeden Bewohner getötet, der ihnen in die Hände gefallen war.

»Wie viele Galeeren sind es?« fragte Cranston den Offizier.

»Das weiß Gott, Sir John. Aber sicher mehr als ein Dutzend, und der Befehlshaber ist Eustace, der Mönch.«

Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Stoßgebet. »Oh Gott, Sir John«, flüsterte er dann, »als ob wir nicht schon genug Ärger hätten.«

Cranston nickte. Der französische Piratenkapitän Eustace war Benediktiner gewesen, bis er aus dem Kloster geflohen und zur See gegangen war. Er hatte sich zur Geißel der englischen Seefahrt entwickelt. Die Legende berichtete, in Frankreich marschierende englische Freischärler hätten das Bauernhaus seiner Eltern niedergebrannt und Eustaces Familie mit Kind und Kegel ermordet. Eustace hatte den »vom Teufel besessenen Engländern« Rache geschworen. Von der Kirche exkommuniziert und öffentlich als Pirat verurteilt, wurde Eustace insgeheim von der französischen Krone ermutigt und gefördert.

Athelstan spähte durch den Nieselregen. Die Schiffe machten sich zwar kampfbereit, aber wenig deutete darauf hin, daß sie binnen kurzem in See stechen würden.   

»Was wird denn geschehen, Sir John?«

»Nun ja…« Cranston unterbrach sich, dankte dem Hauptmann der Bogenschützen und trat an die Kaitreppe, um zuzuschauen, wie eine weitere Barke anlegte. »Unser guter Admiral hat zwei Möglichkeiten. Er kann den Fluß hinuntersegeln und kämpfen, aber da ist er im Nachteil: Er wird nicht manövrieren können, und es kann leicht passieren, daß die Galeeren vorbeischlüpfen und ihre Soldaten am East Watergate oder sogar hier landen lassen, wo sie dann schreckliche Verwüstungen anrichten und gleich wieder verschwinden werden.«

»Kann man die Themse nicht sperren?« fragte Athelstan.

Cranston schüttelte grinsend den Kopf. »Dabei liefe man Gefahr, daß unser lieber Eustace hier wüten und sich dann doch durch die Sperre hinauskämpfen könnte.«

»Und welche ist die zweite Möglichkeit für den Admiral?«

»Er kann seine Schiffe in schwimmende Kastelle verwandeln und abwarten. Crawley ist ein vernünftiger Befehlshaber; ich denke, daß er es so machen wird. Wenn Eustace dann weiter die Themse heraufkommt, findet er unsere Flotille empfangsbereit.«

Cranston nahm Athelstans Arm, und sie stiegen die schlüpfrigen Stufen zum Wasser hinunter; dabei drängten sie sich an den Bogenschützen vorbei. »Aber wir können nicht warten, Bruder!« sagte er. »Die God’s Bright Light muß durchsucht werden, und ich werde hier nicht einfach ehrfürchtig und untätig herumstehen.«

Beinahe wäre er kopfüber in die wartende Barke gepurzelt; die vier Ruderer machten sich über sein Gewicht lustig. Der Coroner reagierte gelassen auf ihre gutmütigen Hänseleien und befahl ihnen, ihn und Athelstan zur God’s Bright Light überzusetzen; die Bogenschützen forderte er auf, sich zu verpissen und auf die nächste gottverdammte Barke zu warten.

Die Barke legte ab. Die Ruderer schienen den heftigen Regen kaum zu spüren; sie flogen über das schwarze, aufgerauhte Wasser der Themse und prallten dann mit dumpfem Schlag gegen die Seitenwand der God’s Bright Light. Athelstan hangelte sich als erster die Jakobsleiter hinauf und bemühte sich, Cranstons aufmunterndes Gebrüll zu überhören. Langsam zog er sich hinauf, bis ein Paar starke Arme ihm über die Reling halfen. Keuchend sank er dagegen und bedankte sich bei dem Matrosen, der von einem Ohr zum anderen grinste. Cranston landete neben ihm, schwer wie ein dickes Bierfaß; er fluchte und verdammte jeden Matrosen unter der Sonne. Athelstan schaute sich um. Seit ihrem letzten Besuch war das Schiff gesäubert und aufgeräumt worden; überall wimmelte es von Seeleuten und Bogenschützen, die von ihren Offizieren hin und her kommandiert wurden. Man hatte verdeckte Kohlenbecken angezündet und zwei kleine Katapulte an Deck aufgebaut. Ein ziemlich junger, aschblonder Mann kam aus der Kajüte auf dem Achterkastell und näherte sich ihnen. Er war lässig gekleidet; schwarze Hosenbeine steckten in Seestiefeln, und ein flaschengrüner Umhang bedeckte eine lederne Jacke. Er sprach Sir John an.     

»Wer seid Ihr? Was sucht Ihr hier?«

»Sir John, Coroner der Stadt London, und Bruder Athelstan. Und wer, Sir, seid Ihr?«

»David Southchurch, eben zum Kapitän der God’s Bright Light ernannt.« Der junge Mann strich sich den Bart. »Sir John, ich habe viel zu tun. Ihr kennt die Neuigkeiten?«

»Aye, Master Southchurch, aber Ihr sicher auch die meinen?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Sir John, ich würde Euch gern helfen, doch das ist nicht meine Sache. Roffel ist fort, und sein Erster Maat und zwei Matrosen ebenfalls.«

Athelstan meldete sich zu Wort; er sprach leise, denn ihm war ein wenig übel, weil das Deck unter seinen Füßen schwankte. »Wir wollen nichts weiter als die Erlaubnis, Roffels - oder besser gesagt, Eure - Kajüte zu durchsuchen, Master Southchurch. Es ist wichtig, daß wir es tun, bevor das Schiff wieder in See geht.«

Der junge Kapitän lächelte. »Natürlich«, willigte er gleich ein. »Ihr werdet die Kajüte leer finden. Meine Sachen sind nämlich noch nicht an Bord. Sir John, Bruder Athelstan, seid meine Gäste.« Er wedelte mit der Hand, winkte sie in die Kabine und schloß die Tür hinter ihnen.

Die kleine Kammer war sauber gefegt. Athelstan sah sich verzweifelt um. Über sich hörten sie Fußgetrappel und das unaufhörliche Befehlsgeschrei der Offiziere, während das Schiff kampfbereit gemacht wurde. Hin und wieder neigte die Kajüte sich ein wenig zur Seite, wenn die rauhe Themse die Kogge packte und schaukelte, daß sie an der Ankerkette zerrte. Athelstan ließ sich auf die schmale Koje fallen und hielt sich mit beiden Händen den Magen. Cranston grinste ihn an, nahm einen großen Schluck aus seinem Weinschlauch, rülpste und setzte sich neben ihn.

»Gibt nicht viel, was man hier drin verstecken könnte«, sagte er. »Komm schon, Bruder, benutze deine Seemannsbeine.«

Athelstan stand seufzend auf und ging in der Kajüte umher.

»Wenn ich der Kapitän wäre«, sagte er leise und halb zu sich selbst, »und wenn ich etwas Klobiges wie einen Gürtel voller Silber verstecken wollte, was würde ich dann tun?«

Er sah, daß diese Kajüte kaum der Rede wert war. Unter den Bodenplanken war nichts als die Höhle des Laderaums - dies war kein Haus, unter dem sich geheime Gänge graben ließen. Es gab keine dicken Wände, wo man Schränke hinter der Täfelung verbergen konnte. »Es tut mir leid«, sagte Athelstan. »Sir John, wir haben diesen Weg umsonst gemacht. Bonaventura könnte hier nicht einmal eine Maus verstecken. Die Koje ist nichts, Tisch und Stühle sind überaus simpel, es gibt keine richtige Wand, keine Decke, keinen Boden.«

Ein lautes Schnarchen antwortete ihm. Er drehte sich um und wäre beinahe gefallen, als das Schiff sich wieder auf die Seite legte.

»Oh, gütiger Himmel, nein!« stöhnte er. »Sir John, nicht jetzt.«

Aber Cranston lag flach auf der Koje, Arme und Beine von sich gestreckt, den Kopf zurückgelegt, den Mund weit offen, und schnarchte wie eines seiner Kerlchen.

Athelstan setzte sich auf einen Schemel. Allmählich gewöhnte er sich an die Bewegungen des Schiffes und merkte, daß ihm die Augen schwer wurden. Am liebsten hätte er das alles hinter sich gelassen. Er gehörte nach St. Erconwald und zu seiner Pfarrgemeinde - zu Watkin mit seinem kleinlichen Ehrgeiz, zu Pike mit seinen dreisten Spötteleien, zu Pemel, der Flämin, mit ihren verzweifelten Versuchen, sich das Haar zu färben, und zu der sarkastischen Fröhlichkeit und jenem anderen, das er in Benedictas hübschen Augen las. Wie es wohl Ashby mit Aveline erging? Bei dem Gedanken an sie war ihm jetzt wohler - wenn Cranston diese Sache erledigt hätte, würde Sir Henry Ospring beim König nicht mehr in so hohem Ansehen stehen. Er fing an, über das Mysterienspiel nachzudenken und sich zu überlegen, wo die Gemeinde sitzen sollte …

Seine Augen schlossen sich, und er döste ein. Als jemand an Deck über ihm krachend etwas fallen ließ, schrak er hoch. Es wurde schon dunkel in der Kajüte. Ob Sir John wohl einen Feuerstein bei sich hatte, um die Laterne anzuzünden, die an einem der dicken Stützbalken des Decks herabhing? Er stand auf, klappte die Vorderseite der Laterne auf und betrachtete dann den dicken Haken aus Bronze oder Kupfer, an dem sie hing. Der Haken saß auf einer Platte, die ihrerseits an den Balken geschraubt war. Athelstan verspürte leise Erregung. Warum solch ein schwerer Haken für eine Laterne, die sich viel leichter anfühlte als die, mit denen brave Bürger abends ihre Haustüren beleuchteten? Die Platte maß mindestens neun Zoll im Durchmesser. Athelstan nahm die Laterne herunter und zog am Haken. Nichts geschah. Er versuchte, den Haken rechtsherum zu drehen, aber er rührte sich nicht. Dann versuchte er es in die andere Richtung, und diesmal merkte er, daß sich die Platte ein Stückchen bewegte. Er drehte den Haken weiter, wie um ihn abzuschrauben, und die Platte lockerte sich und löste sich schließlich ganz. Dahinter war eine Höhlung im Balken. Athelstan schob die Hand hinein. Seine Finger berührten weiche Holzspäne und dann einen kalten, harten Gegenstand. Er bekam ihn mit zwei Fingern zu fassen und zog ihn heraus. Eine Silbermünze lag auf seiner Handfläche. 

Er hörte, wie ein Boot längsseits kam; hastig schraubte er den Haken wieder an den Pfosten und ging dann zu Cranston, um ihn zu wecken.

»Sir John!« zischte er. »Um Gottes willen, wacht auf, Sir John.«

Der Coroner öffnete die Augen und schmatzte.

»Einen Becher Roten«, hauchte er. »Eine Pastete mit Rindfleisch und Zwiebeln, und ich will sofort die Kerlchen sehen.«

»Um Himmels willen, Sir John!« Athelstan schüttelte ihn. »Wir sind noch auf dem Schiff.«

Cranston rieb sich das Gesicht und kam mühsam auf die Beine.

»Was zum Teufel…?« Er sprach nicht weiter, als Athelstan ihm das Silberstück vor die Augen hielt.

»Du Frettchen von einem Ordensbruder! Du kleines Frettchen!« Cranston gluckste, packte Athelstan fest bei den Schultern und küßte ihn auf beide Wangen.

Athelstan wußte nicht, ob er sich die schmerzenden Schultern reiben oder sich das Gesicht abwischen sollte. Er zeigte auf die Laterne. Cranston ging breitbeinig hinüber; er sah immer noch schlaftrunken aus.

»Da drin? Das ist ein blöder Ort!«

»Nein, Sir John. Hinter der Befestigungsplatte des Hakens befindet sich ein kleiner Hohlraum. Was immer Roffel von dem Fischerboot geraubt hat, hat er dort aufbewahrt, aber jetzt ist es weg.«

»Aha!« hauchte Cranston. »Das paßt alles zusammen.«

Athelstan steckte die Silbermünze ein, als es an der Tür klopfte. Southchurch trat ein.

»Ich habe Sir Jacob mitgeteilt, daß Ihr hier seid«, sagte er, »und er hat einen Boten geschickt. Er möchte Euch trotz des Alarms heute abend als Gäste auf der Holy Trinity begrüßen.«

Cranston schaute an sich herunter. »Ich würde mich ja gern umziehen«, sagte er und grinste dann, »doch ich sehe wohl in jeder Kleidung stattlich aus.« Er strich mit dem Finger über die Stoppeln an Athelstans Kinn. »Was man von dir nicht gerade sagen kann, Brüderchen. Aber komm - ich sterbe vor Hunger, und Crawley kann ein guter Gastgeber sein.«

*

Dichter Nebel legte sich über den Fluß, und das hektische Treiben des Nachmittags erstarb. Die Kunde von den französischen Galeeren hatte die Stadt erreicht, und die Kirchenglocken läuteten bereits Alarm. Viele Schenken wurden geschlossen. Sogar die Huren verzogen sich auf die Ostseite der Southwark Bridge; sie vertrauten darauf, daß die Brücke eine natürliche Barriere sein würde, sollten die Galeeren die Themse heraufkommen. Eine Abordnung von Händlern begab sich nach Westminster, um vor dem Kronrat gegen dieses neuerliche Anzeichen für den Niedergang englischen Geschicks zu protestieren. Die Selbstsüchtigeren begannen, ihre Habe zu verstecken und kostbare Gegenstände in eiserne Kassetten zu legen. Es wurde dunkel. Der Kai lag verlassen da; nur der Menschenfischer und seine Phantome spähten jetzt aus finsteren Gassen und schmutzigen Gängen, die zur Themse hinunterführten. Die seltsamen Augen des Menschenfischers funkelten bei der Aussicht auf Gewinn. Wenn auf dem Fluß gekämpft wurde, dann konnte man Leichen aus dem Wasser fischen; man konnte ihnen die Geldbörsen abschneiden und bei den Behörden der Stadt hohe Gebühren kassieren. Er und seine vermummte Schar schlichen sich am Steelyard vorbei nach Queen’s Hithe. Dort standen sie am Kai und spähten zu den Schiffen hinaus. Der Menschenfischer drehte sich um.

»Gut! Gut!« wisperte er heiser. »Wir müssen uns bereithalten. Bleibt an der Uferböschung und behaltet das Wasser im Auge.« Er gluckste. »Wie heißt es in der Schrift? Die Tiefe wird ausspeien ihre Reichtümer.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Oh ja, meine Schönen. Mutter Themse hat viele Geheimnisse.«

Er verbarg den aufflackernden Ärger, als er die Lichter der God’s Bright Light erkannte. Der Menschenfischer fühlte sich betrogen. Drei Seeleute waren von dieser Kogge verschwunden. Er hatte von dem Mord an Bernicia und vom Verschwinden Brackleburys gehört, aber was war mit den beiden Matrosen geschehen? Warum wollte der Fluß ihm dieses Geheimnis nicht anvertrauen?