Zwölf

Sir John Cranston streckte die langen, bestrumpften Beine vor das Feuer und strahlte seine Gemahlin an. Lady Maude saß bewundernd neben ihm, die Hände im Schoß gefaltet, ein seliges Lächeln auf dem mädchenhaften Gesicht, das strohblonde Haar zu Zöpfen geflochten. Sie war bei der triumphierenden Heimkehr ihres Mannes aus dem Bett geholt worden. Cranston trank aus seinem Lieblingsbecher, streckte die mächtigen Beine, daß die Sehnen knackten, und drohte dem staunenden Untersheriff Shawditch, der ebenfalls herbefohlen worden war, mit dem Zeigefinger. Athelstan konnte nur ins Feuer starren und bei sich um Kraft beten, das Lachen zu unterdrücken.

»Denn, seht ihr«, erzählte Cranston zum drittenmal, »mein Sekretär und ich folgten dem gleichen Gedankengang.« Er deutete mit dem Finger auf Shawditch. »Merkt Euch Cranstons berühmtes Axiom: ›Wenn es ein Problem gibt, dann muß es auch eine Lösung dafür geben.‹« Cranston zwinkerte Lady Maude zu. »Und das Problem kannten wir. In ein Kaufmannshaus - leer bis auf die Dienerschaft, die im Erdgeschoß wohnt - wird ohne eine Spur von Gewalt eingebrochen, und es wird ausgeraubt. Der Einbrecher verschwindet.« Cranston trommelte mit den Fingern auf seinem fetten Knie. »Dies nun ist ein Problem, das jeden Beamten der Justiz auf eine harte Probe stellen würde. Aber als Athelstan und ich das letzte Haus besichtigten, wo das arme Mädchen ermordet worden war, bemerkten wir, daß das Stroh auf dem Boden unter dem Dach ziemlich feucht war. Nun« - Cranston beugte sich vor und drückte Athelstans Hand -, »normalerweise hätte ein durchschnittlicher Justizbeamter jetzt gedacht: ›Ah, ich weiß, wie der Spitzbub hineingekommen ist: durch die Dachpfannen. Er hat ein paar abgenommen, ist hereingeklettert, hat das Haus ausgeplündert, ist wieder auf das Dach hinaufgestiegen und hat die Dachpfannen an ihren Platz zurückgelegt. Kein Problem für einen gelernten Dachdecker.« Das Dumme an dieser Theorie ist nur, daß ein anderer Dachdecker leicht erkennen würde, daß so verfahren worden ist.« Er funkelte Shawditch an. »Ist das so weit klar?«

Der Mann nickte nachdrücklich.

»Also fragten wir Trumpington, ob man einen Dachdecker zu Rate gezogen habe, und als er bejahte, gaben wir uns damit zufrieden.« Cranston beugte sich zu Lady Maude hinüber, um sich den Becher noch einmal füllen zu lassen. »Und wenn der Büttel das Dach von einem Dachdecker hatte in Augenschein nehmen lassen, der dabei keinerlei Unregelmäßigkeit hatte finden können, dann mußte der Dieb eben auf andere Weise ins Haus gelangt sein.« Er wedelte leicht mit der Hand. »Aber hier kommt unsere Logik ins Spiel. Bruder Athelstan und ich bedachten die folgende Möglichkeit: Was wäre, wenn Trumpington, der Büttel, an den Einbrüchen beteiligt war, und der Dachdecker, der zur Überprüfung der Dächer herangezogen worden war, ebenfalls?« Cranston trank schlürfend aus seinem Becher. »Ein durchtriebenes kleines Betrugsmanöver, das uns hätte täuschen können, hätten wir nicht diese feuchte Streu auf dem Boden bemerkt.« Cranston leckte sich die Lippen. »Ist es nicht so, Bruder?«

»Sir John«, sagte Athelstan, »Eure Logik ist makellos. Trumpington und der Dachdecker arbeiteten Hand in Hand. Der Büttel stellte fest, welche Häuser leerstanden und wie sie geführt wurden. Und während er seine Runde durch die Straßen machte und ausrief, alles sei wohl, raubte sein Kumpan die Häuser aus.«

»Haben die beiden gestanden?« wollte Shawditch wissen.

»Oh ja, und ein Teil der Beute wurde in ihren Häusern gefunden«, sagte Cranston. »Jetzt sitzen sie in Newgate und warten auf ihren Prozeß. Wegen des Mordes an diesem Mädchen werden sie beide hängen.«

Er stand auf und wärmte seinen mächtigen Hintern am Feuer. »Master Shawditch«, sagte er großmütig, »Ihr dürft Euch diese Verhaftung an Eure Fahne heften.«

»Sir John, ich danke Euch.«

»Unsinn«, antwortete Cranston. »Aber jetzt ab mit Euch. Und sorgt dafür, daß alles Diebesgut den Eigentümern zurückgegeben wird.«

Als der Untersheriff gegangen war, wollte Cranston mit seinen triumphalen Erzählungen fortfahren und drohte sogar, zu seinem überwältigenden Sieg auf der Themse zurückzukehren. Aber Athelstan gähnte und streckte sich.

»Sir John, ich danke für Eure Gastfreundschaft, aber es ist spät geworden, und morgen haben wir andere Dinge zu erledigen.«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Cranston gereizt. »Der verfluchte Menschenfischer sendet mir unablässig Botschaften. Wahrscheinlich will er sein Geld für die Leichen, die er aus dem Wasser gezogen hat.«

Lady Maude stand auf und deutete in einen Winkel der Stube. »Bruder Athelstan, ich habe Euch ein behagliches Lager herrichten lassen.«

Athelstan dankte ihr, stand auf und reckte sich erneut.

»Jetzt kommt, Sir John.« Sie nahm ihren Gemahl beim Ellbogen. »Kommt. Die Kerlchen werden früh wach sein, und Ihr wißt, wie sie immer nach ihrem Daddy schreien.«

Besänftigt nahm Sir John Kurs auf die Tür und die Treppe zu seinem Schlafgemach. Dann drehte er sich noch einmal um und drohte Athelstan mit dem Finger. »Schlaf gut, Bruder, und keine Angst wegen Gog und Magog; die sind in der Küche eingesperrt. Sie werden nicht herauskommen, um dich zu fressen.«

Athelstan seufzte erleichtert. Cranstons Neuerwerb, die beiden großen Irischen Wolfshunde, waren durchaus harmlos, aber so überschwenglich in ihrer Begrüßung, daß es dem unvorbereiteten Besucher leicht den Atem verschlagen konnte.

Sir John und seine Frau verschwanden. Athelstan löschte die Kerzen und kniete vor seinem Bett, um sein Nachtgebet zu sprechen. Aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu Crawley zurück, der verwundet auf dem Deck lag, und zu den Worten, die er gesprochen hatte, bevor er ohnmächtig geworden war.

Hinter ihm ging die Tür auf.

»Bruder?«

»Ja, Sir John?« antwortete Athelstan, ohne sich umzudrehen.

»Du weißt, daß ich ein schlimmer Geschichtenerzähler bin?«

Athelstan lächelte. »Ihr seid ein großer Mann, Sir John.«

»Nein, Bruder, du bist es, der den Ruhm verdient. Im Namen des ermordeten Mädchens danke ich dir. Du hast gesehen, daß der alte John Gerechtigkeit walten läßt.«

Die Tür schloß sich wieder. Athelstan beendete sein Gebet, bekreuzigte sich und legte sich ins Bett. Er hatte noch nachdenken wollen, aber sein Kopf hatte kaum das Kissen berührt, als er auch schon fest schlief.

Das Aufwachen am nächsten Morgen ging weniger friedlich vonstatten. Als er die Augen aufschlug, lag einer der beiden großen Wolfshunde quer über ihm. Die Kerlchen, die Athelstan als ihren Lieblingsonkel betrachteten, stolperten mit honigbeschmierten Brotbrocken um ihn herum und versuchten quiekend vor Lachen, ihm das Brot zwischen die Lippen zu schieben. In diesem Gewirr von zappelnden Ärmchen, zarten kleinen Körpern und klebrigem Honigbrot stand Athelstan schlaftrunken auf. Der andere Wolfshund, Magog, tauchte jetzt ebenfalls auf und leistete seinen Beitrag zum wachsenden Getöse. Wenn Athelstan das Honigbrot nicht wollte, die Hunde wollten es sehr wohl. Sie fingen an, die beiden kleinen Jungen mit der Nase in die dicken Bäuche zu stupsen. 

Lady Maude erschien, und ein paar ruhige Worte von ihr hatten die gewünschte Wirkung. Die Wolfshunde verschwanden unter dem Tisch. Die Kerlchen wären ihnen nachgekrabbelt, aber die Mutter packte sie beide und schleifte sie zur morgendlichen Wäsche. Boscombe, Cranstons kleiner, dicker Verwalter, ein Vorbild an höfischer Artigkeit, erschien mit Seife, Handtuch und Rasiermesser.

Athelstan wusch und rasierte sich vor dem Feuer und setzte sich dann zu Sir John, der heute nüchterner gekleidet war, zum frühstücken in die Küche. Leif, der Bettler, tauchte ebenfalls auf. Athelstan war immer wieder verblüfft über den Heißhunger des klapperdürren Bettlers - er sah aus, als stehe er ständig am Rande des Hungertodes. Leif hatte einen Kumpan mitgebracht; er hieß Picknose - der »Nasenbohrer« -, ein Name, den ihm eine eklige Angewohnheit eingetragen hatte. Die beiden hörten in hingerissener Bewunderung zu, als Sir John mit Hilfe von Messern und Brotstücken eine weitere Schilderung des französischen Überfalls auf der Themse lieferte. Athelstan kümmerte sich nicht darum; er frühstückte hastig und verabschiedete sich dann. Der Morgenhimmel war klar, und es war bitterkalt. Athelstan ging zur Kirche von St. Mary Le Bow, wo der freundliche Pfarrer ihm erlaubte, in der Seitenkapelle seine Messe zu lesen.   

Cranston wartetet schon, als Athelstan aus der Kirche kam. Er reichte dem Ordensbruder Mantel und Stock.

»Ich habe gerade deinen alten Zossen besucht«, sagte er.

»Philomel ist kein alter Zosse, Sir John. Er ist ein bißchen wie Ihr: ein stämmiges Schlachtroß, das vielleicht einmal bessere Zeiten gesehen hat.«

Cranston brüllte vor Lachen, als sie die Bread Street hinuntergingen; sie überquerten die Fish Street und die Vintry und wanderten zum Kai. Die Stadt erwachte allmählich zum Leben. Fuhrwerke rumpelten vorüber, gezogen von mächtigen Karrenpferden mit kurz gestutzten Mähnen; ihre schweißnassen Flanken dampften in der kalten Morgenluft. Händler schoben ihre Karren vor sich her. Schlaftrunkene Lehrjungen, die noch nicht wach genug waren, um Dummheiten zu machen, bauten Verkaufsstände auf und löschten die Lampen an den Häusern ihrer Herren. Aus den oberen Fenstern wurden Nachttöpf'e entleert, und ein vierschrötiger Straßenhändler, der mit nächtlicher Jauche überschüttet worden war, tobte vor Wut. Die Mistkarrren waren unterwegs; sie schabten den Kot aus den Kloaken und sammelten den Abfall des vergangenen Tages ein: Tote Katzen waren dabei, und ein Hund, dem ein Wagenrad das Rückgrat gebrochen hatte. Ein paar Benediktinermönche geleiteten einen Sarg zu einer Kirche. Ein Barde unterhielt die Frühaufsteher mit einer Geschichte von der Entrückung in eine sagenhafte Feenstadt unter einem Berg bei Dublin. Betrunkene, die ihre Strumpfbänder um den Hals trugen und denen die Hosen um die Knöchel schlotterten, wurden zum Wasserspeicher hinaufgeführt, wo sie den Vormittag schmachvoll in dem großen Käfig, der dort stand, verbringen sollten. Am Eingang zur Vintry steckten zwei Stangen im Boden; die Köpfe zweier hingerichteter französischen Piraten saßen darauf, unkenntlich unter all dem Dreck und Unrat, mit denen man sie beworfen hatte.      

Cranston und Athelstan erreichten die Docks. Hier drängten sich die Kauffahrerschiffe; der Himmel war schwarz von einem Wald aus Masten, Spieren und Kränen. Sie sahen die Aleppo, die George, die Christopher und die Black Cock die Laderäume waren offen und nahmen bündelweise englische Wolle, Eisen, Salz, Fleisch und Tuche aus den Städten der Midlands auf. Athelstan spähte zwischen den Schiffen hindurch und sah die Kriegskoggen, die draußen vor Anker lagen. Cranston führte ihn zu der Schenke hinunter, wo sie den Menschenfischer beim letzten Mal getroffen hatten. Mit leiser Stimme trug er dem Schankwirt auf, den Mann zu holen; dann bestellte er zwei Humpen Ale, und sie setzten sich wieder in dieselbe Ecke und warteten. Der Menschenfiseher erschien bald. Sein schmaler Totenschädel glühte vor Befriedigung über den Gewinn, den es ihm gebracht hatte, die Leichen aus dem Fluß zu ziehen und auszuplündern. Seine Phantome drängten sich in der Tür und warteten. Der Menschenfischer lehnte den Trank ab, den Cranston ihm anbot; er klatschte in die Hände und verneigte sich spöttisch vor den beiden.

»Mylord, Eure Heiligkeit - endlich beehrt Ihr uns mit Eurer Anwesenheit!«

»Quatsch!« schnarrte Cranston. »Du verschwendest unsere Zeit.«

»Würde ich die Zeit des mächtigen Cranston verschwenden? Nein - kommt mit mir, Mylord Coroner. Ich zeige Euch ein großes Geheimnis.«

Cranston zuckte die Achseln. Er und Athelstan folgten der gespenstischen Gestalt und seiner buntgescheckten Horde hinaus und durch ein Gewirr nach Urin stinkender Gassen, bis sie vor einem großen, schäbigen Lagerhaus angekommen waren.

»Oh Gott!« hauchte Cranston. »Bei den Titten einer Meerjungfrau, er will uns seine Ware zeigen!«

Der Menschenfischer holte einen Schlüssel hervor, schloß die Tür auf und führte sie in den dunklen Speicher. Fischiger Brackwassergeruch, gemischt mit dem eklig süßen Gestank der Verwesung, ließ Athelstan gleich würgen. Die Phantome drängten sich um ihn.

»Licht!« rief der Menschenfischer. »Es werde Licht, denn die Dunkelheit begreift das Licht nicht!«

Athelstan streckte die Hand aus, um sich abzustützen, und griff in etwas Kaltes, Nasses, Schwammiges. Er schaute hin und schluckte einen Aufschrei herunter, als er sah, was es war: das graue, aufgedunsene Gesicht einer Leiche. Er rieb seine Hand an der Kutte und wartete, bis Fackeln und Kerzen angezündet worden waren.

»Oh, um der Liebe des Herrn willen!« flüsterte Cranston. »Bruder, sieh dich nur um!«

Der Speicher war wie eine große Scheune gebaut. In behelfsmäßigen Kisten, die der Menschenfischer überall zusammengestohlen haben mußte, lagen die Leichen, die er aus der Themse gefischt hatte - mindestens vierzig oder fünfzig an der Zahl. Athelstan sah eine schmalgesichtige junge Frau, einen Bogenschützen mit einer blutigen Wunde in der Brust, ein altes Weib, das auf einem nassen gelben Lumpen lag, und sogar einen kleinen Schoßhund, den jemand hatte fallenlassen.

»Hier entlang! Kommt hier entlang!«

Der Menschenfischer führte sie zum hinteren Ende der Scheune, wo eine Pfeilkiste aufrecht an der Wand lehnte. Eine Männerleiche lag darin. Athelstan hatte das Gefühl, er müsse sich übergeben, und wandte sich ab. Cranston aber nahm den Toten sorgfältig in Augenschein. Es war ein großer, kräftiger Mann mit schwarzem Haar; das schmale, augenlose Gesicht trug die Spuren von Fischbissen, und das Fleisch war aufgequollen und weiß wie alte Wolle, die in schmutzigem Wasser gelegen hat. Seine Stiefel waren verschwunden - wie seine übrige Habe gehörten sie nun dem Menschenfischer. Das dünne Leinenhemd stand offen, und Cranston sah einen purpurroten Bluterguß auf der Brust und Scheuermale am Hals. Der Menschenfischer tanzte neben dem Leichnam hin und her.

»Seht nur, seht nur, wer das ist!«

»Ich sehe einen Toten«, sagte Cranston trocken. »Wahrscheinlich ein Seemann.«

»Ganz recht! Ganz recht! Aber welcher Seemann?«

Cranston starrte den Mann finster an. »Einer von denen, die in der Schlacht gefallen sind?«

»Oh nein! Oh nein! Das ist Bracklebury!«

Athelstan öffnete erstaunt die Augen. Cranston schaute genauer hin.

»Eure Beschreibung paßt auf ihn, Mylord Coroner, auch wenn er nichts bei sich trug, woran man ihn hätte erkennen können.«

Cranston fluchte leise. »Beim Arsch einer Fee, aber das stimmt! Schwarzhaarig, eine Narbe unter dem linken Auge, jenseits des dreißigsten Sommers, aber sonst…«

»Er hat mindestens - oh, fünf oder sechs Tage im Wasser gelegen«, erklärte der Menschenfischer.

Athelstan schüttelte den Kopf. »Aber Bracklebury hat vor zwei Tagen noch gelebt. Er hat Bernicia ermordet.«

Die Phantome hinter ihm kicherten.

»Unmöglich!« rief der Menschenfischer und streckte Cranston die Hand entgegen. »Wie kann einer ertrinken und gleichzeitig herumlaufen und Leute ermorden?«

Athelstan vergaß seinen Abscheu und kam näher. »Hat er eine Wunde?«

»Nein«, sagte der Menschenfischer, »keinen Kratzer. Nur das hier.« Er zeigte auf den violetten Bluterguß an der Brust und die leichten Aufschürfungen zu beiden Seiten der Kehle. »Man hat ihm etwas um den Hals gebunden.«

Cranston trat kopfschüttelnd zurück.

»Das kann nicht sein«, murmelte er. »Bracklebury lebt.«

»Ich will meine Belohnung«, sagte der Menschenfischer.

»Sir John, laßt uns von hier verschwinden«, drängte Athelstan leise.

Sie traten hinaus in die Gasse, und der Menschenfischer und die Phantome drängten sich um sie.

»Hör zu«, sagte Cranston, »ich brauche einen Beweis!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Ich brauche einen Beweis! Einen Beweis dafür, daß es Bracklebury ist.« Er richtete seinen Zeigefinger auf den Menschenfischer. »Du hast deine Spitzel in der ganzen Stadt. Die folgenden Leute sollen zu mir in die Schenke kommen.« Er zählte die Personen auf, die er sehen wollte - die Offiziere des Schiffs und auch Emma Roffel. »Sie sollen innerhalb einer Stunde in die Schenke kommen. Und es kümmert mich einen Rattenarsch, was sie gerade tun.«

Der Menschenfischer schien entzückt über die Aussicht, soviel Macht ausüben zu dürfen. Es kam nicht oft vor, daß er den gesetzten Bürgern der Stadt, in der er sein Schattendasein führte, Befehle erteilen durfte. Er und seine Phantome zogen durch die Gasse davon, und Cranston brüllte ihnen immer noch nach, sie sollten nur ja jeden in die Schenke kommen lassen.

Der Coroner und Athelstan kehrten zurück in den Schankraum. Cranston ließ sich auf einen Schemel fallen, lehnte den breiten Rücken in die Ecke und brüllte dabei nach Erfrischungen, bis alle Schankdirnen umhersprangen wie Flöhe auf einem tollwütigen Hund.

»Das kann nicht Bracklebury sein«, sagte der Coroner. »Und doch, es muß Bracklebury sein.«

Athelstan dankte dem Wirt und schob den vollen Teller und den Becher Rotwein, den er gebracht hatte, zu Cranston hinüber.

»Wenn der Tote nicht Bracklebury ist«, stellte er fest, »dann ist der immer noch unser Hauptverdächtiger. Aber wenn er es doch ist, dann - um einen berühmten Coroner zu zitieren, den ich kenne: Bei den Zähnen der Hölle!«

»Oder bei den Titten einer Seejungfrau.« Cranston grinste.

»Aye, auch bei denen, Sir John.« Athelstan nahm einen Schluck Bier. »Wenn es Bracklebury ist, wer hat dann Bernicia umgebracht? Und, was noch wichtiger ist, wer hat Bracklebury ermordet? Warum und wie?«

Cranston rieb sich das Gesicht. »Weißt du, ich habe einen schrecklichen Alptraum, Bruder: Wir haben unsere ganze Aufmerksamkeit auf Bracklebury gerichtet und dabei die beiden anderen Matrosen total außer acht gelassen. Wir wissen nicht einmal, wie sie hießen. Was ist, wenn sie nun die Schurken in diesem Stück sind?«

Athelstan schwirrte der Kopf beim Gedanken an diese Möglichkeiten.

»Die Kriegskoggen werden bald in See stechen«, sagte Cranston. »Die Offiziere an Bord der God’s Bright Light sind dann weg, und das Rätsel bleibt ungelöst.«

»Habt Ihr das Silber, Sir John?«

Athelstan wirbelte herum, und Cranston fuhr hoch. Die beiden Revisoren waren lautlos neben ihnen erschienen. Die harten Augen straften das falsche Lächeln auf ihren pausbäckigen Gesichtern Lügen.

»Das Schatzamt verlangt sein Silber zurück«, sagte Peter.

»Und zwar bald«, fügte Paul hinzu.

Ungebeten zogen sie Schemel heran, aber sie schüttelten die Köpfe, als Cranston ihnen eine Erfrischung anbot.   

»Nein, Sir John, wir sind nicht zum Essen und Trinken gekommen. Wir wollen das Silber der Krone. Habt Ihr Fortschritte gemacht?«

Cranston berichtete, was sie an Bord der God’s Bright Light herausgefunden hatten.

»Ihr habt also das Versteck gefunden, aber nicht das Geld«, faßte Paul zusammen.

Cranston nickte.

»Unsere Münzprüfer sind unterwegs«, sagte Peter. »Ihr müßt wissen, das Silber war frisch geprägt.« Er lächelte säuerlich. »Wenn man Spitzel und Verräter kauft, so beißen sie immer zuerst in die Münzen.«

»Wie konnte es denn frisch geprägt sein?« fragte Cranston. »Sir Henry hat es dem Schatzamt gesandt.«

»Er hat Silberbarren gesandt, die in der königlichen Münze im Tower eingeschmolzen und zu Geld geprägt wurden.«

»Und nach diesem Geld habt Ihr suchen lassen?« fragte Athelstan.

»Ja.«

»Aber Ihr habt keine Spur davon gefunden.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ein Goldschmied abseits der Candlewick Street wurde von einem unserer Münzprüfer besucht. Ein paar der Münzen befinden sich schon im Umlauf.« 

»Wieviel hatte Euer Agent bei sich, als Roffel das Schiff überfiel?«

»Hundert Silbergroschen.«

»Hundert Silbergroschen in frisch geprägten Münzen auf dem freien Markt!« rief Cranston.

Athelstan hob die Hand. »Und diesen Goldschmied habt Ihr natürlich vernommen?«

»Oh, selbstverständlich. Wir haben ihm sogar mit einem kurzen Aufenthalt im tiefsten Verlies des Tower gedroht.«

»Und was hat er Euch erzählt?«

»Sehr wenig. Aber er hat einen Mann beschrieben - einen großen, kräftigen Seemann in einem verschlissenen Lederwams, das Haar hatte er im Nacken zu einem Knoten gebunden. Das glaubt er jedenfalls.«

»Und sein Gesicht?«

»Er hatte sich seine Kapuze ins Gesicht gezogen. Dem Goldschmied kam das nicht weiter verdächtig vor. Der Mann behauptete, das Silber sei die Bezahlung für Kriegsbeute, die er an die Krone geliefert habe. Weitere Fragen des Goldschmieds wurden durch kleine Zugeständnisse an seine Habgier abgewehrt.«      

»Wieviel von dem Silber ging dabei über den Tisch?«

»Zehn Groschen. Was uns Sorge macht: In London ist es kein Problem, das Geld aufzuspüren, aber was ist, wenn der Kerl nach Norwich geht, nach Lincoln, Ipswich oder Gloucester?«

Cranston legte einen Finger an die Lippen, als die Offiziere der God’s Bright Light, angeführt von Cabe, die Taverne betraten. Einige von ihnen sahen müde und erbost darüber aus, daß man sie zu einer neuerlichen Vernehmung schleifte. Einer der beiden Revisoren sah sich um; er berührte seinen Kollegen beim Arm, und beide standen auf.

»Wir kommen wieder, Sir John.« Die beiden setzten ihre Kapuzen auf und schlüpften lautlos zur Tür hinaus.

Cabe, Minter, Coffrey und Peverill bauten sich vor Cranston auf. Sie schoben die Daumen hinter ihre breiten Ledergürtel, und die zurückgeschlagenen, salzfleckigen Jacken offenbarten Dolche und kurze Schwerter. Athelstan fragte sich flüchtig, was wohl geschehen würde, wenn man diese vier zu dem Goldschmied führte. Aber das würde wenig beweisen und nur unnötigen Verdacht erwecken. Außerdem konnte der geheimnisvolle Seemann, der das Silber gebracht hatte, ein unschuldiger Dritter gewesen sein, den der Dieb und Mörder nur für dieses Geschäft eingespannt hatte. Athelstan blinzelte, als Cabe sich herüberbeugte und Cranston etwas zuflüsterte. Der Coroner funkelte ihn an.

»Ich weiß Euer Kommen zu schätzen«, erklärte Sir John mit falscher Freundlichkeit. »Der Grund für meine Einladung ist der, daß ich mir dachte, ihr würdet gern einen alten Freund Wiedersehen.«

»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte Peverill.

Cabe trat einen Schritt zurück. »Ihr wollt doch nicht sagen, daß Roffel aus dem Grab gestiegen ist?«

Cranston schüttelte grinsend den Kopf und trank einen Schluck Wein.

»Nein, aber vielleicht Bracklebury.«

»Bracklebury?« rief Coffrey. »Habt Ihr ihn gefaßt?«

»Das könnte man sagen, ja.«

»Was heißt das?« fragte Cabe. »Was soll das alles, Sir John? Warum müssen wir uns von irgendeiner umnachteten Vogelscheuche von unseren Pflichten am Kai wegrufen lassen?«

Cranston schaute an ihm vorbei zur Tür, wo Emma Roffel mit der unvermeidlichen Tabitha im Schlepptau erschienen war. Hinter ihr stand der schmalgesichtige, rothaarige Menschenfischer.

Emma rauschte großartig auf den Coroner zu. »Verschwendet lieber nicht meine Zeit, Sir John!« Sie warf einen verachtungsvollen Seitenblick auf die Offiziere ihres toten Mannes. »Was gibt es denn jetzt wieder?«

»Ihr werdet schon sehen! Ihr werdet sehen!« rief der Menschenfischer von der Tür her. »Der Mummenschanz wird gleich beginnen. Die Schauspieler warten schon.«

»Los, Sir John«, sagte Athelstan leise. Cranston erkannte, daß die Offiziere und Emma Roffel im Begriff waren, sich protestierend wieder zu entfernen, und so kam er schwerfällig auf die Beine.

»Dies ist keine belanglose Angelegenheit«, verkündete er. »Ihr folgt mir jetzt besser alle miteinander.«

Der Menschenfischer, umgeben von seinen Phantomen, ging ihnen voraus zu seinem Lagerhaus; dort öffnete er die Tür und ließ sie hinein. Während Kerzen und Fackeln angezündet wurden, führte er sie an den grausigen, verwesenden Leichen vorbei, die auf dem Boden oder auf behelfsmäßigen Brettertischen lagen.

Athelstan beobachtete die anderen. Emma Roffel, die bei diesem Anblick zwar erbleichte, mußte Tabitha stützen. Die Zofe umklammerte den Arm ihrer Herrin; sie hatte die Augen halb geschlossen und das Gesicht zur Schulter gedreht, so daß sie die fahlen Gesichter mit den starren, offenen Augen nicht anzusehen brauchte. Sogar die Seeleute, die an Kampf und jähen Tod gewöhnt waren, verloren ihre Arroganz. Coffrey wurde es sichtlich unbehaglich, und einmal wandte er sich sogar ab, weil der anstößige Gestank ihn würgen ließ. Endlich hatten sie die Pfeilkiste erreicht. Der Menschenfischer hielt eine Fackel hoch, was dem Gesicht des Toten ein gespenstisches Leuchten verlieh.

»Oh, gütiger Gott!« Minter, der Schiffsarzt, ging in die Knie.

Coffrey wandte sich ab. Peverill glotzte verblüfft. Cabe, der anscheinend seinen Augen nicht traute, trat näher heran und starrte dem Töten ins Gesicht.

»Ist das Bracklebury?« fragte Sir John.

»Gott schenke ihm die ewige Ruhe«, flüsterte Minter. »Natürlich ist er es.«

»Erkennt Ihr ihn alle?«

»Ja«, antworteten sie im Chor.

»Mistress Roffel, ist das der Mann, der Euch Euren toten Gemahl nach Hause brachte?«

»Ja«, wisperte sie. »Ja, er ist es.«

»Dann verkünde und erkläre ich«, sagte Cranston förmlich, »daß dies der Leichnam des Bracklebury ist, der Erster Maat war auf der God’s Bright Light, ermordet von einer oder mehreren unbekannten Personen. Möge Gott sie alsbald der Gerechtigkeit zuführen!« Cranston deutete auf den Menschenfischer. »Du kannst dir deine Belohnung abholen.« Dann wandte er sich an den Schiffsarzt. »Könnt Ihr uns sagen, wie dieser Mensch zu Tode gekommen ist?«

Minter überwandt seinen Abscheu; er zog die aufgedunsene Wasserleiche aus der Kiste und legte sie auf den Boden.

»Braucht Ihr mich noch, Sir John?« fragte Emma Roffel.

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich danke Euch fürs Kommen.«

Minter hatte den Toten entkleidet und untersuchte ihn sorgfältig; er drehte ihn hin und her wie einen toten Fisch.

»Nun?« fragte Cranston.

»Keine Spur von einem Schlag auf den Kopf oder einer Stichwunde. Überhaupt keine Anzeichen körperlicher Gewalt - bis auf die hier.« Er drehte die grausige Leiche auf den Rücken und zeigte auf die Schürfmale an beiden Seiten der Kehle und auf den großen, purpurroten Bluterguß auf der Brust.

Emma Roffel, die sich zum Gehen wandte, rutschte auf dem feuchten Boden aus. Sie hielt noch immer die tränenüberströmte Tabitha am Arm. Athelstan packte ihre Hand.

»Vorsicht!« flüsterte er.

»Danke«, antwortete sie. »Wenn Ihr uns helfen könntet, Bruder…«

Athelstan führte die beiden Frauen hinaus in die kalte, frische Luft. Emma Roffel schob Tabitha von sich. »Jetzt fasse dich, Weib!« fauchte sie. »Um Gottes willen, nicht du bist es, die da wie ein Fisch in der Kiste liegt!«

Tabitha wimmerte und wollte sich an ihre Herrin schmiegen. Emma sah Athelstan an.

»Wann hat diese Sache ein Ende?« fragte sie. »Seht Ihr denn nicht, Bruder, daß diese Piraten da drinnen auch nicht besser sind als mein Mann? Sie kennen die Wahrheit!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und führte die schluchzende Tabitha davon.

Athelstan kehrte zurück zu Cranston und den anderen, die noch immer den Leichnam Brackleburys betrachteten.

»Warum nur?« fragte der Coroner plötzlich.

»Warum was, Sir John?«

»Bracklebury hat doch anscheinend geraume Zeit im Wasser gelegen. Aber niemand weiß, wie diese Male an Brust und Hals entstanden sind. Was mich allerdings wirklich ratlos macht, ist die Frage, warum seine Leiche ausgerechnet jetzt auftaucht?«

Cranston sah Cabe an, der an einem Holzpfeiler lehnte. Der Zweite Maat starrte seinen toten Kameraden an; der Schreck saß ihm immer noch in den Gliedern.

»Master Cabe, wer waren die beiden anderen Matrosen? Wie hießen sie?«

Cabe gab keine Antwort.

»Master Cabe - die Namen der beiden Matrosen?«

»Hä?« Der Zweite Maat rieb sich das Gesicht. »Clement und Alain. Sie waren aus London. Das glaube ich wenigstens.«

Athelstan schaute den Menschenfischer an. Der bemerkte es wohl.

»Was ist, Bruder?«

»Kannst du erklären, warum Brackleburys Leiche jetzt plötzlich auftaucht?«

»Nein, Pater, das kann ich nicht.«

Athelstan dachte an die Schlacht auf der Themse. Bilder huschten ihm durch den Kopf - Katapulte, die mit Steinen geladen wurden, Galeeren, die gegen die Kogge krachten, um sie auf der rasch fließenden, strudelnden Themse ins Schwanken zu bringen. Plötzlich schaute der Ordensbruder lächelnd den Töten an. »Natürlich!« flüsterte er und tappte aufgeregt mit dem Fuß auf den Boden.

»Sir John!« rief er. »Ich glaube, wir sollten noch einmal zur God’s Bright Light zurückkehren. Unser guter Freund hier, der Menschenfischer, könnte uns vielleicht helfen.«

»Wie denn?« fragte die seltsame Kreatur.

»Hast du einen Schwimmer?« fragte Athelstan und gab Cranston ein Zeichen, still zu sein. »Jemanden, der keine Angst vor den Strömungen der Themse hat?«

Der Menschenfischer grinste ohne Heiterkeit, legte einen Finger an die Lippen und stieß einen langgezogenen Pfiff aus.   

»Icthus!«

Einer löste sich aus der Gruppe der vermummten Phantome und kam herbei.

»Das ist Icthus«, sagte der Menschenfischer. »Wir nennen ihn so, weil es das griechische Wort für Fisch ist. Und wo die Fische hingehen, da kann er ihnen folgen. Nicht wahr, Icthus?«

Icthus schlug die Kapuze zurück. Athelstan starrte ihn an, erschrocken, abgestoßen und mitleidig zugleich. Entweder war er entstellt zur Welt gekommen oder das Opfer einer scheußlichen Krankheit. Obwohl noch ein Junge, war er sehr dünn und völlig kahl. Aber die entsetzte Aufmerksamkeit aller richtete sich auf sein Gesicht. Es war das Gesicht eines Fisches -mit schuppiger Haut, einer kleinen, platten Nase, einem Kabeljaumaul und Augen, die so weit auseinanderlagen, daß sie an den Seiten seines Kopfes zu liegen schienen.

»Das ist Icthus«, wiederholte der Menschenfischer. »Und seine Gebühr beträgt ein Silberstück.«

Athelstan zwang sich, den Jungen anzuschauen. »Willst du für uns schwimmen?«

Das Kabeljaumaul öffnete sich. Icthus hatte keine Zähne, keine Zunge, nur dunkelrotes Zahnfleisch. Das einzige Geräusch, das er von sich geben konnte, war ein gutturaler, erstickter Laut. Aber er beantwortet Athelstans Frage mit heftigem Kopfnicken.

»Gut«, sagte Athelstan. »Jetzt laßt uns zu diesem gottverlassenen Schiff zurückkehren.« Lächelnd sah er Cranston an. »Und keine Fragen, bitte.«