Athelstan klopfte an Cranstons Haustür. Sofort erhob sich lautes Getöse - die Kerlchen krähten, und Cranstons zwei großen Wolfshunde, Gog und Magog, bellten wütend. Die Tür wurde von Cranstons zierlicher, hübscher Frau, Lady Maude, geöffnet. Ihre Wangen und die Ärmel ihres Kleides waren mit Mehl bestäubt. Auf den Armen trug sie ihre geliebten Söhne, Francis und Stephen, deren Köpfchen inzwischen mit daunenweichem Flaum bedeckt waren. Ihre runden, pausbackigen Gesichter waren rosig und fröhlich. Hinter ihr hielt Boscombe, der Hausdiener, die beiden großen Hunde fest, damit sie sich nicht auf Athelstan stürzten und ihn zu Tode leckten.
»Bruder Athelstan«, rief Lady Maude und lächelte erfreut.
Die beiden Kerlchen reckten sich ihm entgegen, klatschten in die fetten Händchen und gurgelten entzückt.
»Kommt herein, Bruder.« Lady Maude trat einen Schritt zurück.
Athelstan schüttelte den Kopf. »Ist Sir John nicht zu Hause?«
»Könnte sein, daß er im ›Heiligen Lamm Gottes‹ ist«, antwortete Lady Maude etwas bissig.
»Dadda.« Eines der beiden Kerlchen streckte den Arm aus und deutete mit einem stumpfen, schmutzigen Finger auf Athelstan. »Dadda.«
Athelstan umfaßte den Finger und drückte ihn sanft. Das strahlende Baby rülpste.
»Ganz wie sein Vater«, erklärte Lady Maude.
»Dadda.«
Athelstan hielt den kleinen Finger fest und streichelte dem anderen Baby den Kopf. »Gott segne euch beide, euch alle.« Er grinste. »Aber ich bin nicht euer Dadda.«
»Dadda«, wiederholte das Baby.
Athelstan deutete ein wenig verlegen auf Lady Maude. »Und wer ist das?«
Das Kind starrte seine Mutter und dann wieder Athelstan an.
»Nicht Dadda.«
Athelstan lachte. Er wolle Sir John suchen gehen, sagte er, ließ das Durcheinander des Cranston’schen Haushalts hinter sich und drängte sich durch die Menge. Beim »Heiligen Lamm Gottes« angekommen, stellte er Philomel im Stall der Taverne unter und betrat den Schankraum. Lady Maude hatte recht gehabt. Cranston saß auf seinem Lieblingsplatz, einen Krug Ale vor sich, und starrte wehmütig in den Garten hinaus.
»Guten Morgen, Sir John.«
Voller Selbstmitleid sah der Coroner seinen Secretarius an, der sich ihm gegenüber auf die Bank setzte.
»Seid Ihr schlechter Stimmung, Sir John?«
»Mörderisch, verdammt!«
»Ihr meint die Sache in Queen’s Hithe?«
»Nein. Es hat Einbrüche in den Straßen um die Cheapside gegeben. Immer nach dem gleichen Muster. Ein Haus wird in Abwesenheit der Bewohner ausgeraubt, aber der Täter hinterläßt keine Spur des gewaltsamen Eindringens oder Verschwindens. Letzte Nacht auch wieder, in der Catte Street. Ich war eben im Rathaus. Die Ratsherren haben mir und dem Untersheriff Shawditch ordentlich die Hölle heiß gemacht!« Cranston leerte seinen Krug. »Aber was führt dich zu mir, Bruder?«
»Emma Roffel war bei mir. Sie war entsetzt über das, was man der Leiche ihres Mannes angetan hat, und über das Gerücht, daß er ermordet worden sei. Sie ist jetzt bei seiner Beerdigung.«
»Zuerst befassen wir uns mit meinen Problemen«, knurrte Cranston.
Er raffte seinen Mantel an sich und stapfte hinaus auf die Cheapside. Er war so verdrossen, daß er das übliche Geplänkel und gutmütige Gefrotzel, das ihm entgegenschallte, gänzlich überhörte.
»Sir John, ist es denn so ernst?« fragte Athelstan und hastete neben ihm her.
»Eines darfst du niemals vergessen, Bruder. Der Rat der Stadt bezahlt mir mein Gehalt. Ich bin zu allen freundlich, aber keinem verbunden. Manchmal glaube ich, sie wären mich gern los.«
»Unsinn«, protestierte Athelstan.
»Wir werden sehen, wir werden sehen«, sagte der Coroner bedrückt. »Und wie geht’s deiner verfluchten Pfarre?«
»Meiner verfluchten Pfarre geht es ausgezeichnet. Die Leute bereiten sich auf das Stück vor.« Athelstan hielt Cranston beim Ärmel fest. »Sir John, wartet einen Augenblick.«
Unter dem dicken Biberhut sah das pausbackige und sonst so fröhliche Gesicht des Coroners derart jämmerlich aus, daß Athelstan sich auf die Lippen beißen mußte, um sein Lächeln zu verbergen.
»Sir John, wollt Ihr bei unserem Mysterienspiel mitmachen?«
Er sah einen Funken der Erheiterung im Auge des Coroners.
»Als was denn?«
»Als Satan.«
Cranston starrte ihn an. Dann warf er den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. Er schlug dem Ordensbruder so kraftvoll auf die Schulter, daß Athelstan schmerzlich das Gesicht verzog.
»Verdammt, natürlich will ich das! Ich bezahle sogar mein Kostüm selbst. Und jetzt komm weiter.«
Er führte Athelstan durch eine Gasse und blieb vor dem Haupttor eines beeindruckenden, vierstöckigen Hauses stehen.
»Wer wohnt denn hier?« fragte Athelstan.
»Ein großer, fetter Kaufmann«, sagte Sir John. »Er hat ein Vermögen im Weingeschäft gemacht und ist gerade verreist, um Freunde und Verwandte zu besuchen.«
Cranston hämmerte an die Tür. Ein bleicher Diener öffnete. Sir John teilte ihm brüllend mit, wer er sei, und marschierte schnurstracks hinein. Shawditch stand bereits in der großen, weißgekälkten Küche und verhörte das Hausgesinde, das mit bangen Mienen um den großen Tisch saß. Cranston stellte Athelstan vor, und dieser schüttelte dem Untersheriff die Hand.
»Was ist geschehen?« blaffte der Coroner.
»Das gleiche wie immer, Sir John, mit einem Unterschied. Letzte Nacht drang irgendein Verbrecher in das Haus ein. Gott allein weiß, wie - die Türen waren verriegelt, die Fenster verschlossen. Er stahl kostbare Gemälde aus den oberen Stockwerken. Unglückseligerweise war eine Wäschemagd, Katherine Abchurch, dort oben in einem der Zimmer eingeschlafen. Sie erwachte, als es schon dunkel war, öffnete die Tür und überraschte den Eindringling, der sie kurzerhand erstach.«
»Und dann?«
»Er verschwand ohne einen Hinweis darauf, wie er hinaus oder hinein gelangte.«
Cranston deutete mit dem Kopf auf die Dienerschaft. »Die da habt Ihr schon alle vernommen?«
»Sie können allesamt angeben, wo sie gewesen sind. Ja, der Verwalter hier hat bemerkt, daß Katherine nicht da war, und sich auf die Suche nach ihr gemacht.«
Athelstan winkte den Untersheriff zu sich. »Ist denn einer unter ihnen, der etwas mit den vorigen Einbrüchen zu tun haben könnte?«
Shawditch schüttelte den Kopf. »Nein. Keiner.«
»Und Ihr seid sicher, daß alle Ein- und Ausgänge verschlossen waren?«
»So sicher, wie man es nur sein kann.«
»Na, schauen wir selbst«, sagte Cranston. »Kommt, Shawditch.«
Der Untersheriff führte sie durch einen Korridor und eine breite Treppe hinauf, wo das Eichenholz schimmerte wie poliertes Gold. Die Wände waren getäfelt, der Putz darüber in sanftem Rosarot gestrichen. Wappenschilde hingen an den Wänden und an einer auch der Kopf eines wild aussehenden Ebers an einer Holztafel. Vor einer Kammer im zweiten Stock lag Katherine Abchurch noch da, wo sie hingefallen war. Man hatte eine Decke über sie gebreitet. Athelstan schaute sich im Korridor um. Er sah Zimmertüren, die Treppe am anderen Ende und einen Tisch mit staubigen Ringen auf der Platte.
»Wurde hier etwas gestohlen?«
»Ja«, sagte Shawditch und schrak zusammen, als es unten laut an die Tür klopfte.
»Das wird der Büttel Trumpington sein«, sagte er. »Ich werde ihm sagen, er soll unten warten.«
Er lief die Treppe hinunter. Cranston und Athelstan schlugen die Decke zurück und betrachteten Katherines sterbliche Überreste.
»Gott schütze uns«, flüsterte Athelstan. »Sie ist ja noch ein Kind!«
Er sah die blutigen Einstiche im Kleid des Mädchens, und sein Herz krampfte sich vor Mitleid über das Entsetzen in ihrer gefrorenen Miene zusammen. »Gott schenke ihr die ewige Ruhe«, sagte er leise, »und bestrafe den ruchlosen Dreckskerl, der es getan hat!«
Behutsam deckte er das Gesicht des Mädchens wieder zu. »Vor lauter Problemen ist mir schon ganz wirr im Kopf, aber ich will alles tun, was ich kann, um diesen Mörder der gerechten Strafe zuzuführen.«
Shawditch trat zu ihnen.
»Laßt uns das Haus durchsuchen«, drängte Athelstan. »Jedes Stockwerk, jedes Zimmer.«
»Ich habe darum gebeten, uns alle Zimmer aufzuschließen«, sagte Shawditch.
»Dann laßt uns anfangen.«
Athelstans sonst so sanftmütiges Gesicht trug einen Ausdruck eiskalter Entschlossenheit, als er jetzt von Zimmer zu Zimmer ging. Cranston fühlte sich an den Jagdhund erinnert, den er als Junge gehabt hatte. Aber während sie bis zum obersten Stockwerk vordrangen, ohne einen Hinweis zu finden, nahm Athelstans Ärger immer mehr zu.
»Nichts«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Überhaupt nichts.«
Sie begaben sich auf den Dachboden. Hier war es dunkel und kalt; nur die Dachsparren und die Pfannen über ihnen trennten sie von der Kälte. Athelstan stocherte mit den Füßen in den Binsen am Boden.
»Kein Fenster, keine Öffnung.« Er hockte sich nieder und tastete in den Binsen umher. Sie fühlten sich kalt und feucht an. Er ging in eine Ecke und untersuchte auch dort die Binsen. Kopfschüttelnd kam er zurück. »Laßt uns wieder hinuntergehen.«
Sie kehrten in die Küche zurück, wo Trumpington, der Büttel, vor dem großen, tosenden Feuer hofhielt.
»Sir John, Master Shawditch, habt Ihr etwas gefunden?« Seine Augen wurden schmal, als er Athelstan erblickte. »Wer ist das?«
»Bruder Athelstan, mein Secretarius«, sagte Cranston.
Athelstan starrte den Büttel an. »Es ist ein Geheimnis«, sagte er geistesabwesend. »Aber Ihr, guter Herr, könntet mir einen Gefallen tun.«
»Was Ihr wollt, Pater.«
»Zuvor eine Frage.«
»Natürlich.«
»Ihr durchstreift hier die Straßen. Habt Ihr nichts bemerkt?«
»Pater, hätte ich etwas bemerkt, so hätte ich es gemeldet.«
Athelstan lächelte.
»Und welches wäre der Gefallen, Pater?«
»Ihr sollt einen Dachdecker holen, einen guten Mann.«
»Das habe ich bereits getan«, sagte Trumpington.
»Um dieses Haus zu untersuchen?«
»Nein, aber er hat alle anderen Häuser untersucht und nichts Auffälliges gefunden.«
»Nun, dann soll er es noch einmal tun. Er soll feststellen, ob Dachpfannen entfernt worden sind. Und wenn er eine Öffnung findet, die uns entgangen ist, meldet Ihr Eure Erkenntnisse dem Coroner.«
»Ist das auch Euer Wunsch, Sir John?« fragte Trumpington vielsagend und mit einem geringschätzigen Seitenblick auf den Ordensbruder.
Sir John bemerkte den verachtungsvollen Unterton wohl. »Jawohl, das ist es. Und spute dich!«
Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus.
»Nun, Bruder, hast du etwas entdeckt?« fragte Cranston. Athelstan sah die Erwartung in seinem und auch in Shawditchs Blick.
»Nein, Sir John.«
Cranston fluchte.
»Aber da wäre doch noch etwas«, fügte Athelstan hinzu. »Master Shawditch, eine kleine Gefälligkeit?«
Der Untersheriff sah Cranston an, und dieser zuckte die Achseln.
»Sie hat nichts mit dieser Angelegenheit zu tun«, fuhr Athelstan fort. »Könntet Ihr die Bootsleute entlang der Themse fragen, ob sie vor zwei Nächten jemanden zum Schiff God’s Bright Light hinausgefahren haben?«
»Ich werde tun, was ich kann, Pater«, sagte Shawditch und eilte davon.
»Was hat das zu bedeuten?« brummte Cranston.
»Das will ich Euch sagen.«
Athelstan wies auf eine kleine Gassenschenke. Sir John ließ sich nicht zweimal bitten, dieser Aufforderung nachzukommen, trat ein und brüllte sofort nach einem Becher Roten und einem Stück vom frischgebratenen Kapaun. Athelstan nippte an seinem Bier und sah zu, wie das Essen die gute Laune des Coroners wiederherstellte.
»Erstens«, flüsterte Athelstan dann und beugte sich über den Tisch. »Aveline Ospring hat ihren Vater ermordet. Sie hat es mir unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses anvertraut, aber sie hat uns auch um Hilfe gebeten.«
Cranston starrte ihn mit weit offenem Mund an, während Athelstan ihm berichtete, was er im Laufe des Tages erfahren hatte. Schließlich warf der Coroner die Kapaunskeule hin.
»Sie wird hängen«, sagte er leise. »Entweder sie oder er, oder sie hängen beide. Sie kann ja nicht beweisen, was sie da sagt. Was weiter, Bruder?«
»Jemand war an Bord des Schiffes«, erklärte Athelstan, »und hat die drei Männer auf irgendeine Weise umgebracht. Wie und warum das geschah, weiß ich nicht. Aber Ihr habt gehört, was Crawley gesagt hat? Niemand auf dem Nachbarschiff, der Holy Trimty, hat irgend etwas gesehen oder gehört, auch nicht Bernicias Rufen.« Athelstan schüttelte erbost den Kopf. »Da lügt jemand, Sir John, und wir müssen herausfinden, wer es ist. Woher wissen wir, daß alle Matrosen das Schiff verlassen hatten? Jemand könnte sich an Bord versteckt haben.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Cranston sarkastisch. »Und der hat dann lautlos, und ohne eine Spur zu hinterlassen, die drei Seeleute ermordet, die Signale weitergegeben und sich danach in Luft aufgelöst, genau wie der Schurke, der die Kaufmannshäuser ausraubt.«
Athelstan lächelte. »Niemand kann sich in Luft auflösen, Sir John, und das gilt auch für den mysteriösen Einbrecher in das Haus, das wir eben besucht haben. Ich habe einen Verdacht. Nein, nein.« Er hob die Hand, als Sir Johns Augen erwartungsvoll aufleuchteten. »Noch nicht. Erstmal wollen wir uns mit Roffels Witwe beschäftigen. Aber bevor wir das tun: Kennt Ihr die Schenke ›Zu den gekreuzten Schlüsseln‹ in der Nähe von Queen’s Hithe?«
»Ja. Der Wirt ist ein Verwandter von Admiral Crawley. Ein alter Seefahrer. Warum? Was gibt’s da, Bruder?«
Athelstan stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf auf die Hände sinken. »Roffel pflegte dort Usquebaugh zu kaufen, ein schottisches Getränk; er bewahrte es in einer Flasche auf, die er stets bei sich trug. Ist Euch übrigens aufgefallen, Sir John, daß Crawleys Name immer wieder auftaucht? Er konnte Roffel nicht ausstehen. Nur aufgrund seiner Aussage wissen wir, daß jemand sich der God’s Bright Light genähert hat. Er muß den Wortwechsel zwischen Bracklebury und Bernicia gehört haben. Und jetzt gehört auch noch einem seiner Verwandten die Schenke, wo Roffel den Usquebaugh kaufte, welcher, wie ich vermute, das Arsen enthielt, an dem er gestorben ist.«
Cranston trank seinen Becher leer und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Schauen wir uns diese Schenke an.« Er legte den Zeigefinger an die fleischige Nase. »Und dann besuchen wir noch jemand anderen - einen Mann, der weiß, was am Fluß vor sich geht, weil er aus ihm seinen Lebensunterhalt bezieht.«
Cranston legte ein paar Münzen auf den Tisch, und sie verließen die Gassenschenke. Es fing an zu regnen. Die Straßen waren leer, und so hielten sie sich im Schatten der Häuser, um den dreckigen Pfützen auszuweichen und Schutz vor dem Regen zu finden.
»Wir hätten die Pferde mitnehmen sollen«, murrte Athelstan.
»Halt’s Maul und bete«, gab Cranston launig zurück.
Die Taverne »Zu den gekreuzten Schlüsseln«, eine lärmerfüllte Seemannsschenke, duckte sich hinter die Lagerhäuser. Gäste aus aller Herren Länder drängten sich in der Schankstube: Portugiesen in bunten Gewändern, mit bärtigen, dunklen Gesichtern und silbernen Ohrringen, stolze und streitbare Gascogner und Hanseaten mit ernsten Mienen, schwitzend unter Pelzmützen und Mänteln. Salziger Fischgeruch mischte sich mit seltsamen Kochdünsten. Cranston leckte sich die Lippen, als ein Schankbursche eine Schüssel mit gewürfeltem Rindfleisch unter einer dicken Zwiebeltunke an ihm vorbeitrug. Athelstan steuerte den Coroner umsichtig durch die lärmende Menge auf den Wirt zu, der rund und gedrungen wie ein Faß vor einem großen Fischernetz an der Wand stand. Der Mann beobachtete unablässig den Schankraum und brüllte seinen verschwitzten Knechten Befehle zu. An seinem wiegenden Gang und an den Augenfalten, die durch jahrelanges Spähen in Sonne und beißendem Wind entstanden waren, erkannte Athelstan, daß er sein Leben auf See zugebracht hatte. Mit seinen apfelroten Wangen und dem kahlen Schädel sah er recht munter aus, und seinem Mund entströmte eine Kette farbenfroher Flüche, die sogar Cranston zum Lachen brachten.
»Ihr seid der Eigentümer?« fragte Cranston, als er vor ihm stand.
»Nein, ich bin eine gottverdammte Seejungfrau!« zischte der Kerl aus dem Mundwinkel, während er sich zur Küche wandte, um einen Befehl hineinzubrüllen.
»John Cranston ist mein Name, und das ist mein Sekretär, Bruder Athelstan.«
Der Coroner streckte seine fette Pranke aus. Der Wirt ergriff sie und lächelte.
»Von Euch habe ich schon gehört. Ich bin Richard Crawley, einst Herr über ein Schiff, jetzt Beherrscher dessen, was Ihr hier seht. Ich kann mir denken, warum Ihr hier seid: Rottels Tod, Gott verdamme ihn!«
»Ihr mochtet ihn nicht?«
»Genau wie mein Vetter Sir Jacob habe ich Roffel bis aufs Mark gehaßt. Er war ein übler Halunke, und ich hoffe, er kriegt, was er so reichlich verdient: Er soll in der Hölle verrotten…« Plötzlich brach er ab und schrie einen Küchenjungen an. »Bei den Titten einer Seejungfrau! Halte den Teller gerade! Du krängst ja wie ein kenterndes Schiff!«
»Warum habt Ihr ihn gehaßt?«
»Warum nicht? Aus demselben Grund wie Sir Jacob. Ich hatte einen Halbbruder«, fuhr der Wirt fort und senkte die Stimme. »Er war ein guter Seemann; er fuhr im Tuchhandel zwischen den Cinque Ports und Dordrecht. Sein Schiff ging mit Mann und Maus unter. Roffel kreuzte zu jener Zeit in der Gegend. Er gab den Franzosen die Schuld. Ich gab sie ihm.«
»Aber Ihr habt Geschäfte mit ihm gemacht?«
»Freilich, verdammt - und ihn teuer dafür bezahlen lassen. Er war Schotte und liebte seinen Usquebaugh. Ich kaufte ihn im Faß aus Leith in Schottland und verkaufte ihn zum dreifachen Preis an diesen miesen Dreckskerl. Vor dem Auslaufen seines Schiffes füllte er immer seine Flasche damit und wußte stets bis auf den Tropfen genau, wieviel er noch hatte.«
»Habt Ihr noch etwas davon?«
»Oh ja«, sagte Richard. »Eines Tages werde ich es selbst austrinken. Schluck für Schluck trinke ich auf seine schwarze Seele.«
»Können wir das Faß sehen?« fragte Athelstan.
Der Wirt zuckte die Achseln, ging nach hinten in die Speisekammer und kam mit einem Fäßchen zurück, das einen Durchmesser von etwa einen Fuß hatte. Am unteren Rand saß ein kleiner Zapfhahn. Er nahm einen verbeulten Zinnbecher vom Bord, ließ ein wenig von dem Getränk hineinlaufen und reichte Cranston den Becher.
»Kostet!«
Sir John tat, wie geheißen, und leerte den Becher in einem Zug. Der Wirt grinste boshaft.
»Heiliges Kanonenrohr!« rief Cranston. Er lief violett an und hustete. »Bei den Eiern des Satans! Was zum Teufel ist denn das?«
»Usquebaugh, Sir John. Schmeckt er Euch?«
Sir John schmatzte. »Scharf!« sagte er. »Anfangs stark, aber den Bauch wärmt er jedenfalls. Wie viele Fässer habt Ihr davon?«
»Nur dieses eine.«
»Und bevor er seine letzte Reise antrat, füllte Roffel seine Flasche eigenhändig?«
»Oh ja, natürlich. Und dann trank er gleich etwas davon, einen kleinen Becher.«
Athelstan, der mit halbem Auge zusah, wie ein portugiesischer Seemann seinen zahmen Affen fütterte, schaute den Wirt plötzlich überrascht an.
»Er hat hier etwas davon getrunken?«
»Ja.« Der Wirt drehte sich um und spähte wütend in die lärmende Küche. »Sir John, wenn Ihr weiter keine Fragen habt - ich habe ein Geschäft zu führen.«
Cranston bedankte sich knurrend, und sie verließen die Taverne. Gottlob hatte es aufgehört zu regnen. Der Coroner packte Athelstan bei der Schulter.
»Der Usquebaugh kann es nicht gewesen sein, nicht wahr, Bruder? Oder die Flasche?«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Nein, nicht, wenn Roffel hier daraus getrunken hat, ohne eine üble Wirkung zu verspüren.« Er stapfte neben dem Coroner die regennasse Straße hinauf.
»Ist das nicht die falsche Richtung, Sir John? Wir wollten doch zu Roffels Haus.«
»Nein, da ist noch jemand anderes.« Cranston blieb stehen und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Weinschlauch. »Wie ich schon sagte, Bruder: jemand, der alles beobachtet, was am Fluß so vor sich geht.«
An der Ecke der Gasse blieb der Coroner plötzlich wieder stehen und drehte sich unvermittelt um. Die beiden Gestalten am anderen Ende der Gasse versuchten gar nicht, sich zu verstecken. Athelstan folgte dem Blick des Coroners.
»Wer ist das, Sir John?« Angestrengt spähte er die Gasse entlang. In ihren braunen Gewändern sahen die Gestalten wie Benediktinermönche aus. »Folgen die uns?«
»Sie waren fast die ganze Zeit dicht hinter uns«, sagte Cranston leise. »Lassen wir sie noch eine Weile in Ruhe.«
Sie gingen weiter, über die Thames Street und hinunter in Richtung Vintry, und dann nach rechts, vorbei an Lagerhäusern und über Queen’s Hithe auf Dowgate zu. Dichter, schwerer Nebel brodelte über dem Fluß und verbarg die Schiffe, die dort vor Anker lagen.
»Wohin gehen wir denn?« wollte Athelstan wissen.
»Geduld, lieber Bruder. Geduld!«
Nun waren sie auf dem Kai. Cranston spähte in die dunklen Ecken und rief plötzlich: »Komm heraus!«
Eine zerlumpte, verhüllte Gestalt trat schlurfend hervor. Als der Mann näherkam, sah Athelstan die Stoffetzen, die um sein Gesicht und seine Hände gewickelt waren, und bemühte sich, seinen Ekel zu unterdrücken. Der Mann bewegte sich schwerfällig und läutete dabei eine kleine Glocke.
»Unrein!« krächzte die gespenstische Gestalt. »Unrein!«
»Ach, scheiß darauf«, gab Cranston zurück. »Ich glaube nicht, daß ich mir bei dir die Lepra hole.«
Der Mann blieb ein paar Schritte vor ihnen stehen. Athelstan fand, daß er wie eine Erscheinung aus der Hölle aussah, Gesicht und Hände mit Lumpen umwickelt, die dunkle Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nebelschleier wehten vom Fluß herauf.
»Das sind die Phantome«, flüsterte Cranston. »Krüppel, Bettler, Aussätzige. Sie arbeiten für den Menschenfischer, ziehen Leichen aus der Themse, Mordopfer, Selbstmörder, Verunglückte, Betrunkene. Lebt mal einer noch, so bekommen sie zwei Pence, für Ermordete gibt es drei. Selbstmörder und Verunglückte bringen nur einen Penny.«
»Ihr wollt zum Menschenfischer?« krächzte der Aussätzige.
»So ist es, mein hübscher Junge!« rief Cranston. Er nahm einen Penny aus der Tasche und schnippte ihn dem Mann zu; trotz seiner Behinderung fing der Mann ihn geschickt mit einer Hand.
»Sag dem Menschenfischer, der alte John Cranston möchte ein Wörtchen mit ihm reden.« Er deutete die Gasse hinunter. »Ich erwarte ihn in der Bierschenke dort unten.«
»Und um was geht es?«
»Um God’s Bright Light. Er wird Bescheid wissen«, fügte Cranston, zu Athelstan gewandt, hinzu. »Nichts geschieht hier am Flußufer, ohne daß der Menschenfischer davon weiß.«
Der Aussätzige verschwand. Cranston führte Athelstan durch die Gasse zu einem kleinen, muffigen Wirtshaus, das nur ein einziges Fenster hatte, hoch oben in der Wand. Drinnen war es dunkel und feucht; rauchende Talgkerzen und stinkende Öllampen spendeten trübes Licht, aber das Bier war schwer und schäumend, die Humpen waren sauber, die Tische und Stühle ordentlich abgewischt.
»Du kennst doch den Menschenfischer?« fragte Cranston.
»Ja, Ihr habt uns vor ein paar Monaten miteinander bekanntgemacht«, sagte Athelstan.
Cranston steckte die Nase in seinen Humpen, ohne die Tür aus dem Auge zu lassen.
»Da kommt er.«
Die Tür füllte sich mit geduckten Gestalten, verhüllt und vermummt wie der Mann, den sie auf dem Kai getroffen hatten. Der Schankwirt winkte sie beunruhigt zurück, aber sie blieben geduckt auf der Schwelle stehen und starrten in die Schenke wie ein Schwarm Gespenster, die ins Land der Lebenden hinüberspähen. Ihr Anführer, der Menschenfischer, trat aus ihrer Mitte hervor, kam lautlos auf den Coroner und Athelstan zu und setzte sich, ohne eine Einladung abzuwarten, zu ihnen auf einen Schemel. Er schlug die Kapuze zurück, unter der ein Gesicht so starr wie eine Totenmaske zum Vorschein kam - alabasterweiß, mit dicken Lippen, stumpfer Nase und stechenden schwarzen Augen. Rotes, fettiges Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Mit einem seiner langgliedrigen Finger deutete er auf Cranston.
»Ihr seid Sir John Cranston, Coroner der Stadt London.« Der Finger bewegte sich. »Und Ihr seid Athelstan, sein Sekretär oder Schreiber, Gemeindepfarrer von St. Erconwald in Southwark. Sir John, Lady Maude war heute einkaufen. Bruder Athelstan, Euer Flüchtling ist wohlauf; er hilft Euren Pfarrkindern, die Bühne für das Mysterienspiel herzurichten.«
Athelstan lächelte, als er hörte, wie der Menschenfischer sich mit seinem Wissen brüstete.
»Aber wir sind nicht hier, um Klatschgeschichten auszutauschen«, fuhr der Menschenfischer fort. Wieder hob er den Zeigefinger. »Vor drei Tagen ging das Schiff mit dem unangemessenen Namen God’s Bright Light vor Queen’s Hithe vor Anker. Der Leichnam des Kapitäns wurde an Land gebracht. Seine Seele ist vor Gottes Richterstuhl gefahren…« Er sprach nicht weiter.
»Was weißt du sonst noch?« fragte Cranston.
Der Mann spreizte die Hände und deutete mit dem Kopf auf die Gestalten an der Tür.
»Sir John, zeigt Euch barmherzig; ich habe Brüder zu ernähren.«
Cranston schob ein Silberstück über den Tisch. Der Menschenfischer nahm es auf.
»Ihr erweist mir eine große Ehre, Sir John. Das Schiff ging vor Anker, und am Abend gingen die Matrosen zu ihren Dirnen an Land. Ich weiß es, denn ich hatte eine von ihnen. Frisch und sauber war sie. Schwarze Locken, fröhliche Augen, tatkräftig und lebhaft wie ein junges Hündchen in meinem Bett.«
Athelstan hatte Mühe, kühle Miene zu bewahren, als er sich vorstellte, wie diese seltsame Gestalt sich mit einer jungen Hure im Bett vergnügte.
»Gut, gut«, unterbrach Sir John hastig. »Und?«
»Drei Mann blieben an Bord, einer am Bug, einer am Heck, der Maat in der Mitte. Das heißt, er blieb in der Kajüte.«
»Und?« drängte Cranston.
»Oh, gegen Mitternacht kam eine Hure, eine männliche Hure« - der Menschenfischer zog eine Grimasse -, »zum Kai herunter. Aber sie - oder er, je nachdem, wie man es sieht - wurde mit einer Salve von Flüchen, die vom Schiff herüberschallten, verjagt.« Der Menschenfischer zwirbelte eine Strähne seines fettigen Haars. »Der Matrose an Bord hörte sich betrunken an, aber Signale und Parolen wurden einwandfrei weitergegeben.«
»Und weiter geschah nichts?« fragte Athelstan.
»Oh doch. Etwa zwei Stunden nach Mitternacht näherte sich ein kleines Boot dem Schiff.«
»Vom Flußufer her?«
»Nein, von der Kogge des Admirals, von der Holy Trinity. Zwei Männer saßen darin.«
»Und dann?«
»Das kleine Boot blieb etwas mehr als eine Stunde dort, dann fuhr es zurück.« Der Menschenfischer lächelte. »Und bevor Ihr danach fragt, Sir John: Parolen und Signale wurden weiterhin gegeben.«
»Ereignete sich sonst noch etwas?« fragte Cranston.
»Kurz vor der Morgendämmerung kehrte ein Seemann zurück, und dann ging das Durcheinander los.«
»Aber die Wache«, warf Athelstan ein. »Was war aus der Wache geworden?«
Der Menschenfischer leckte sich die Lippen; Athelstan fühlte sich an einen Frosch erinnert, der einen schmackhaften Leckerbissen erblickt hatte. »Wenn der Fluß sie hat«, antwortete er, »so wird er sie liebkosen und küssen und wieder ans Ufer legen.« Sein Gesicht wurde ernst. »Ich und meine Brüder haben bereits gesucht, aber wir haben noch nichts gefunden. Wir haben sie nicht hineinfallen sehen. Vielleicht werden wir sie auch nicht herauskommen sehen.«
»Aber wenn ihr sie findet, dann sagst du uns Bescheid, ja?«
Der Mann betrachtete die Silbermünze in seiner Hand. Cranston schob ihm noch eine zu. Der Menschenfischer nahm sie, stand auf und verbeugte sich feierlich.
»Ihr seid meine Freunde«, erklärte er. »Und der Menschenfischer vergißt nie etwas. Im Namen meiner Brüder danke ich Euch.«
Er schlüpfte zur Tür hinaus, und die Phantome folgten ihm aufgeregt schnatternd.
»Gehen wir zu Crawley«, sagte Cranston und trank seinen Humpen aus. »Unser guter Admiral lügt, was das Zeug hält, und ich denke, wir sollten den Grund herausfinden. Aber zuvor Mistress Roffel. Komm, Bruder, schärfe deinen Verstand und spitze die Ohren. Wir wollen sehen, was die gute Witwe zu sagen hat.«
Sie ließen den Kai hinter sich. Die Wolken rissen in der Abenddämmerung allmählich auf. In den Straßen herrschte reges Treiben; Ladenjungen und Händler räumten die Stände ab. Die großen Mistkarren waren unterwegs, und man mühte sich, die verstopften Kloaken zu säubern. Athelstan sah, wie einer der Mistsammler fröhlich einen geschwollenen Katzenkadaver aufhob und mit dumpfem Laut auf seinen Karren warf. Bettler winselten um Almosen. Räudige Hunde stolzierten steifbeinig und mit hochgestreckten Schwänzen über die Müllberge und balgten sich zähnefletschend. An der Ecke einer Gasse blieb Cranston stehen und sah sich um.
»Unsere Freunde sind immer noch bei uns.«
Athelstan drehte sich rasch um und erblickte die beiden Mönchsgestalten etwa dreißig Schritte hinter sich.
»Erkennt Ihr sie, Sir John?«
»Das sind keine Mönche«, behauptete Cranston. »Es sind Schreiber, königliche Beamte vom Kanzleigericht oder aus dem Schatzamt. Wenn sie von letzterem kommen, dann helfe uns Gott!«
Athelstan faßte Cranston beim Arm. »Warum, Sir John?«
»Das Schatzamt«, sagte Cranston, »hat eine Anzahl sehr geheimer, äußerst scharfsinniger Beamter, die sogenannten Revisoren. Sie sind für so manches zuständig, für Schulden bei der Krone und für königliche Privilegien, aber auch für außenpolitische Angelegenheiten, speziell für die Finanzierung von Spionen und geheimen Auslandsmissionen.«
»Sollten wir sie nicht zur Rede stellen?« fragte Athelstan.
Sir John lächelte düster. »Wenn wir zurückgehen, werden sie ebenfalls zurückweichen. Sie sind diejenigen, die den Zeitpunkt und den Ort für eine Unterhaltung mit uns bestimmen.«
Athelstan schaute in die Höhe, als sie sich einem großen Stadthaus näherten; die Dachdecker, die dort arbeiteten, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Er blieb stehen.
»Komm schon, Athelstan!« rief Cranston.
Athelstan sah, wie die Männer arbeiteten. Er lächelte und eilte weiter. Sir John hielt einen Fackelburschen an und bezahlte ihn, damit er sie zu Mistress Roffels Haus führte, einem schmalen, dreistöckigen Gebäude zwischen einem Posamentenladen und einem Eisenwarenhändler. Die Fensterläden waren alle geschlossen und zum Zeichen der Trauer mit schwarzen Tüchern verhängt. Athelstan hob den eisernen Türklopfer in Form eines Schiffsankers und ließ ihn schwer herabfallen.