Sieben

Emma Roffel und ihre Zofe Tabitha empfingen Sir John und Bruder Athelstan in ihrer Wohnstube im Erdgeschoß. Das Zimmer war nicht weiter auffällig. Frische Binsen bedeckten den Boden, aber die Wände waren nackt und Tisch und Stühle alt und ziemlich mitgenommen. Emma Roffel sah Cranstons Blicke.

»Nicht das Haus eines erfolgreichen Seefahrers, wie, Sir John?« Sie lachte verbittert. »Kapitän Roffel war geizig. Und seine Kreatur Bernicia mit ihrer hübschen Fratze und dem strammen Hintern habt Ihr wohl kennengelernt?«

Athelstan starrte die Frau mit dem verhärteten Gesicht an, die den Tod ihres Mannes so kalt und unberührt hinnahm, und bewunderte ihre Ehrlichkeit. Er erinnerte sich an eine Maxime, die er einmal gehört hatte: »Das Gegenteil der Liebe ist nicht der Haß, sondern die Gleichgültigkeit.«

»War es immer so?« fragte er.

Da stiegen der Frau die Tränen in die Augen.

»Mistress, ich wollte Euch nicht betrüben.«

Emma Roffel schaute über seinen Kopf hinweg und bemühte sich, keine Miene zu verziehen.

»Das tut Ihr auch nicht.« Ein gehetzter, abwesender Ausdruck trat in ihre Augen, als sie im Geiste Visionen heraufbeschwor, Gespenster der Vergangenheit. »Roffel war einmal Priester, wißt Ihr, Kurat in der Pfarrgemeinde St. Olave in Leith bei Edinburgh.

Mein Vater hatte ein Fischerboot, und Roffel liebte das Meer. Manchmal fuhr er mit meinem Vater zum Fischen hinaus.«

»Habt Ihr ihn je begleitet?«

Emma lächelte finster. »Natürlich nicht. Ich fürchte die See. Sie hat zu viele gute Männer verschluckt.«

»Was geschah weiter?« fragte Athelstan. Wie alle Priester war er fasziniert von jenen Amtsbrüdern, die um der Liebe eines Weibes willen ihr Amt aufgaben.

Emma seufzte. »William konnte die Hände nicht bei sich behalten. Es gab zahllose Gerüchte über seine Beziehungen zu gewissen Witwen in der Stadt. Schließlich griff der Erzdiakon ein, aber da waren William und ich uns schon begegnet und hatten uns heftig ineinander verliebt.« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Der Erzdiakon raste vor Wut, und mein Vater drohte mit Gewalt, und so flohen wir über die Grenze, erst nach Hull, dann weiter nach London.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Am Anfang glaubte ich, wir wären im Paradies. William erwies sich bald als vorzüglicher Seemann -kundig, tüchtig und von strenger Disziplin.« Sie lachte säuerlich. »Aber dann begegnete er Henry Ospring. Eine Freundschaft, die in der Hölle gestiftet ward. Ospring gab ihm Geld und mietete ein kleines Schiff, und William wurde Pirat. Und Sir Henry machte ihn auch mit den Fleischtöpfen der Stadt bekannt. Ich war schwanger, als ich erfuhr, daß er …« Sie verzog das Gesicht. »Ich erfuhr, daß er eine leidenschaftliche Vorliebe für die Hintern junger Burschen hatte.« Sie wiegte sich leicht auf ihrem Stuhl. »Ich verlor das Kind. Ich verlor auch William, und William verlor mich. Für uns beide begann der Abstieg in die Hölle. Wir waren zwei Fremde. William widmete sich seinem Gewerbe. Er hatte teuflisches Glück - bald war er Zweiter, dann Erster Maat und schließlich Kapitän.«

»Ihr habt ihn gehaßt?« fragte Cranston.

Ihr Blick richtete sich blitzschnell auf ihn. »Gehaßt, Sir John? Gehaßt? Kalt und leer habe ich mich gefühlt, als ob ich jemanden in einem Traum beobachtete. Er ließ mich allein, und ich vergalt es ihm mit gleicher Münze.«

»Hat er vor jener letzten Reise von etwas Außergewöhnlichem gesprochen, das geschehen würde?« fragte Athelstan.

»Nein, mit keinem Wort.«

»Aber Ihr wißt, daß er ermordet wurde?« fragte Athelstan weiter.

»Ja, ich glaube, das ist so, Bruder. Wenn Ihr mich deshalb anklagen wollt, dann tut es, aber bedenkt, daß ich hier zu Hause war. Im Grunde war es mir völlig gleichgültig, ob er lebte oder tot war.« Sie zuckte die Achseln. »Es war nur eine Frage der Zeit, wann jemand das Messer gegen ihn richten würde.« Ihre Augen wurden schmal. »Seid Ihr denn sicher, daß es Mord war?«

»Er wurde vergiftet.«

Sie beugte sich überrascht vor. »Wie kann das sein? Er verkündete überall, daß er nur das aß und trank, was auch seine Mannschaft bekam.«

»Was ist mit dem Usquebaugh?« fragte Cranston. »Mit der Flasche, die er sich in der Schenke ›Zu den gekreuzten Schlüsseln‹ zu füllen pflegte?«

Emma Roffel machte ein erstauntes Gesicht. Sie wandte sich zu Tabitha und flüsterte ihr etwas zu; diese huschte lautlos wie eine Maus davon. Emma Roffel starrte ins Feuer, bis die Zofe mit einer Zinnflasche zurückkam; sie nahm sie in Empfang und streckte sie Cranston hin.

»Das ist die berühmte Flasche, Sir John. Als sie meinen toten Mann an Land brachten, schafften sie auch seine Habe herüber.«      

Sie zog den Korken aus der Flasche und schnupperte am Flaschenhals. Dann goß sie ein wenig vom flüssigen Inhalt in einen Becher, den sie von einem kleinen Tisch hinter ihr nahm. Lächelnd bot sie den Becher erst Cranston, dann Athelstan an. Beide schüttelten den Kopf.

»Ihr solltet Usquebaugh trinken«, sagte sie. »Er wärmt das Herz und stählt den Körper gegen das Alter. Ach ja.« Und ehe sie jemand daran hindern konnte, leerte sie den Becher in einem Zug. Sie hustete, zog eine Grimasse und lächelte dann. »Wenn diese Flasche vergiftet war, werde ich bald zu meinem Gatten gehen.«

»Ihr seid Euch Eurer Sache anscheinend sehr sicher, Mistress.«

Emma Roffel grinste. Sie stellte den Becher hin und verschloß die Flasche wieder. Dann zwinkerte sie Athelstan zu. Ihre gute Laune ließ ihr Gesicht plötzlich viel jünger erscheinen. Vorjahren, dachte Athelstan, war Emma so schön gewesen, daß ein Priester ihretwegen seine Gelübde gebrochen hatte.

»Das war tollkühn«, murmelte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß Euch um Entschuldigung bitten, denn ich habe Euch zum Narren gehalten. Ich habe schon aus der Flasche getrunken, als man sie mir zurückbrachte.« Sie verzog das Gesicht. »Das war dumm, das will ich zugeben - zu riskieren, daß Mann und Frau mit demselben Trank vergiftet werden.«

»Ihr glaubt also, der Mord wurde an Bord der God’s Bright Light begangen?« fragte Cranston.

»Natürlich«, antwortete Emma. »Er war bei der Besatzung verhaßt.«

»Und bei seinem Admiral?«

Emma hob die Schultern. »Crawley hielt meinen Mann für einen Piraten. Er hat einmal gedroht, ihn für seine Räubereien auf See aufhängen zu lassen.«

»Mistress Roffel«, sagte Athelstan, »wißt Ihr denn, was sich in jener Nacht, als der Maat und zwei Matrosen verschwanden, an Bord seines Schiffes zugetragen haben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Pfarrer Stephen wird bezeugen, daß ich an diesem Abend beim Leichnam meines Gemahls in der Kirche von St. Mary Magdalene wachte. Aber wenn Ihr mich nach meinen Vermutungen fragt, so würde ich sagen, daß alle drei Männer auf irgendeine Weise von Bord desertiert sind.« 

»Kanntet Ihr Bracklebury, den Ersten Maat?«

»Ja. Er hat den Leichnam meines Mannes an Land gebracht, und außerdem eine Tasche mit seinen kläglichen Habseligkeiten - darunter auch die Flasche.« Aufmerksam beobachtete sie die dunklen Augen des Priesters. »Wollt Ihr die Sachen sehen?«

Athelstan nickte. »Aber macht Euch keine Mühe«, sagte er besorgt. »Vielleicht könnte Eure Zofe Tabitha so freundlich sein, mir den Weg nach oben zu zeigen?«

Die mausgraue, unauffällige Frau schaute lächelnd zu ihrer Herrin, und diese nickte zustimmend. Der Coroner nahm leutselig den Wein entgegen, den Mistress Roffel ihm anbot. Unterdessen folgte Athelstan der Zofe die Treppe hinauf. Der Rest des Hauses erwies sich als gleichermaßen trostlos, dunkel und klamm. Möbel und Wandbehänge waren schäbig -sauber und wohlduftend, aber verschlissen und verschossen. Die Tür des großen Schlafgemachs stand offen, und Athelstan konnte im Vorbeigehen einen Blick auf ein Vierpfostenbett werfen. Auf einer Truhe am Fußende lagen achtlos hingeworfene Kleider. Tabitha brachte ihn in eine kleine, verstaubte Kammer, an deren Wänden sich Truhen stapelten. Die Zofe blieb stehen und schaute sich um.

»Wie lange dient Ihr Eurer Herrin schon?« fragte Athelstan leise.

Die Zofe sah ihn an und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Oh…seit ihrer Fehlgeburt vor sechzehn oder siebzehn Jahren.«

»Ist sie gut zu Euch?«

Tabithas Gesicht verhärtete sich. »Mistress Roffel ist genauso roh, wie ihr Mann es immer war. Sie haben einander wahrlich verdient. Jetzt hat sie die Absicht, nach Leith zurückzukehren. Ich bin froh, wenn ich sie von hinten sehe.«

Bei dem giftigen Ton der Frau fuhr Athelstan zurück. Er sah zunächst zu und griff dann helfend ein, als sie eine salzfleckige Satteltasche aus Leder hinter einer Kiste hervorzerrte.

»Ich habe sie dorthin geworfen, nachdem ich die Flasche herausgenommen hatte. Sollen wir sie mit hinunter nehmen?«

Athelstan warf sich die Doppeltasche über die Schulter, und sie kehrten in die Wohnstube zurück. Cranston war inzwischen bei seinem zweiten Becher Rotwein und schilderte der gelangweilt, aber höflich zuhörenden Mistress Roffel seine eigenen, viele Jahre zurückliegenden Großtaten auf dem Meer.

»Habt Ihr gefunden, wonach Ihr suchtet, Bruder?« fiel sie dem Coroner ins Wort.

Athelstan legte die Ledertaschen auf den Boden, löste die Schnallen und kippte den Inhalt aus. Es war nicht viel: ein Paar wollene Kniestrümpf'e, eine Nadel und etwas Zwirn, ein Federkiel und ein Tintenhorn, ein paar unbenutzte Fetzen Pergament, ein Hemd, zwei verkratzte und abgetragene Ringe, eine Christophorus-Medaille, ein kleiner Kompaß und ein Stundenbuch in einem Einband aus Kalbsleder. Athelstan nahm das Buch zur Hand, öffnete den Verschluß und blätterte in den vergilbten Seiten.

»Das ganze Vermächtnis seines Lebens als Priester«, sagte Emma Roffel. »Er nahm es überallhin mit.«

»Und doch war er kein Mann des Gebets«, stellte Athelstan fest. »Ebensowenig wie Ihr. Für Pfarrer Stephen in St. Mary Magdalene seid Ihr eine Fremde.«

Mistress Roffel wollte etwas erwidern, als Cranston rülpste und dann laut zu schnarchen begann. Athelstan schaute zu seinem fetten Freund hinüber. Der Coroner hing schlaff in seinem Stuhl, das Kinn aul der Brust, die Augen geschlossen.

»Ist Sir John nicht wohl?« fragte Emma Roffel.

»Oh doch«, antwortete Athelstan säuerlich. »Er wird schlafen wie ein Säugling, und wenn er aufwacht, wird er nach Erfrischungen brüllen.«

Der Ordensbruder blätterte in dem Buch und sah, daß die leeren Seiten am Ende mit seltsamen Eintragungen beschrieben worden waren, Abrechnungen womöglich - es waren Geldsummen, manchmal gefolgt von dem Vermerk »in S.L.«.

»Was ist das?« fragte Athelstan.

»Weiß der Himmel, Bruder. Mein Mann war ein großer Geheimniskrämer. Ich bin immer noch dabei, die Goldschmiede an der Cheapside aufzusuchen, um festzustellen, wo er sein Geld angelegt hat.«

Athelstans Blick verharrte bei einer Zeichnung:

Eine gewundene Linie zog sich quer über das Blatt, und daran entlang waren sorgsam kleine Kreuze eingezeichnet. Die Zeichnung sah neu aus. Athelstan zeigte sie Mistress Roffel, aber sie erklärte, ihr sage das alles gar nichts. Seufzend legte Athelstan das Buch zu den übrigen Besitztümern.

»Eure Zofe hat erzählt, daß Ihr die Stadt verlassen wollt«, sagte er.

»Meine Zofe weiß mehr, als gut für sie ist«, gab Emma Roffel zurück. »Aber es stimmt schon; wenn diese Angelegenheit vorüber ist, gedenke ich, meinen Besitz an mich zu nehmen - was immer mein Mann mir an Geld hinterlassen haben mag - und nach Schottland zurückzukehren.«

»Haßt Ihr London so sehr?«

Alle drehten sich überrascht um und sahen, daß Cranston wieder wach war. Er blinzelte und schmatzte.

»Haßt Ihr London, Mistress?« wiederholte der Coroner.

»Es ist voll bitterer Erinnerungen. Besser, ich vergesse die Vergangenheit.«

»Ihr wißt nichts, was zur Lösung all dieser Rätsel beitragen könnte?« fragte Cranston.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber Ihr, Sir John, wißt Ihr denn, wer meinen Mann ermordet und seinen Leichnam geschändet hat?«

Cranston kam schwerfällig auf die Beine und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise. »Doch wenn ich es herausfinde, dann seid Ihr die erste, die es erfährt, das könnt Ihr mir glauben.«

Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. Beide schraken zusammen, als der Menschenfischer mit zwei seiner Phantome im Schlepptau lautlos aus dem Schatten hervorglitt.

»Satansarsch!« fluchte Cranston. »Was zum Teufel soll denn das - sich so an brave Christenmenschen heranzuschleichen?«

»Sir John, Ihr habt mir und den meinen Geld gegeben. Ich und die meinen werden es uns verdienen.«

»Was habt ihr denn gefunden?«

»Wir haben das Licht schimmern sehen.« Der Menschenfischer tätschelte einer seiner Kreaturen den Kopf.

»Ja, von dem Licht weiß ich«, knurrte Cranston. »Die Schiffe senden einander Lichtsignale.«

»Oh nein, nicht das. Etwas anderes. Eine Lampe blinkte auf der God’s Bright Light, zu jeder Stunde bis zum Morgengrauen, und eine Lampe auf dem Kai antwortete.«

»Wißt ihr, wer es war?«

»Nein. Es war jemand, der sich im Schatten hielt. Wenn wir es wissen, Sir John, werdet Ihr es erfahren.« Der Menschenfischer wich zurück und verschwand so lautlos, wie er aufgetaucht war.

Es hatte zu nieseln begonnen, und Athelstan zog seine Kapuze über den Kopf. »Bernicia hat auch davon gesprochen«, bemerkte er.   

»Wovon?« fragte Cranston gereizt.

»Daß da jemand im Schatten der Lagerhäuser stand und das Schiff beobachtete.«

»Bei den Eiern des Satans, ich habe jetzt genug davon!« murrte Cranston. »Ich habe Hunger, mich friert, und ich werde naß.«

Er stapfte die Gasse hinunter, und Athelstan lief ihm nach. Der Coroner marschierte schnurstracks an seiner eigenen Haustür vorbei, über die verlassene Cheapside und ins »Heilige Lamm Gottes«. Dann blieb er so plötzlich stehen, daß Athelstan beinahe gegen ihn prallte. Wütend starrte Cranston die beiden Männer in den braunen Kutten an, die an seinem Lieblingstisch saßen.

»Wer zum Teufel seid ihr?« bellte er.

Die Männer lächelten und winkten die beiden heran. Zwei Schemel erwarteten sie.

»Sir John, Bruder Athelstan, seid unsere Gäste. Wir haben schon Ale für Euch bestellt.«

Cranston und Athelstan setzten sich, und die Wirtsfrau stellte zwei Humpen vor sie hin.

»Auf Eure Gesundheit, Sir John.« Die braungekleideten Männer hoben ihre Krüge und tranken dem Coroner zu.

Athelstan betrachtete das sonderbare Paar. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen - vergnügte Gesichter, kahle Köpfe, die gleiche Kleidung -, und sie schienen alles im Gleichtakt zu tun. Angesichts ihrer weichen Haut und dem bereitwilligen Lächeln hätte man sie für zwei fröhliche Mönche aus einem der Klöster der Stadt halten können, wenn ihr Blick nicht gewesen wäre, hart und wachsam. Den Ordensbruder fröstelte es. Diese Männer waren gefährlich. Sie folgten dem Coroner der Stadt London offen durch die Straßen, und jetzt erwarteten sie ihn in seiner Lieblingsschenke, als wüßten sie immer, was er gerade vorhatte.      

»Wie heißt ihr?« knurrte Cranston.

»Oh, Ihr könnt mich Peter nennen«, sagte der größere der beiden und blickte lächelnd auf seinen Kumpan. »Und das ist Paul. Ja, nennt uns Peter und Paul, die Schlüsselbewahrer. Was für ein hübscher Einfall.«

»Ich könnte euch vieles nennen«, erwiderte Cranston grimmig.

»Aber das würdet Ihr nicht tun, Sir John«, versetzte der mit dem Namen Paul. »Wir sind wie Ihr. Vielleicht sind wir nicht die Kinder des Lichtes, aber wir sind ihre Diener.« Er wandte sich Athelstan zu und lächelte fröhlich. »Ihr wart fleißig, nicht wahr, Bruder?«

Cranston schlug den Mantel zurück und legte die Hand auf den langen Dolch, der in seinem Gürtel steckte. Peter sah die Bewegung und hob grinsend die weichen, weißen Hände in einer Geste der Friedfertigkeit.

»Sir John«, säuselte er, »Ihr seid nicht in Gefahr. Wir wollen Euch nur helfen.«

»Wobei?« fauchte Cranston. »Bei meiner Ehe, meinen Söhnen, meiner Abhandlung, meiner Verdauung?«

»Bei der God’s Bright Light«, schnappte Peter zurück, und alle Heiterkeit war aus seiner Miene gewichen.

Athelstan ergriff das Wort und lehnte sich über den Tisch. »Wir wissen Eure Hilfsbereitschaft zu schätzen. Aber wer seid Ihr?«

»Wir sind die Revisoren. Arbeiten wir für den Kronrat?« Peter schüttelte lächelnd den Kopf. »Arbeiten wir für den König selbst?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Bruder Athelstan, wir arbeiten für die Krone. Fürsten und Staatsräte kommen und gehen. Wir dienen keinem Individuum, keiner Adelsfamilie, keiner Blutlinie, sondern der Krone selbst.« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte die Fingerspitzen aneinander und ließ einen raschen Blick durch die warme, fröhliche Schenke wandern. »Das Lebensblut der Krone«, fuhr er fort, »ist ihr Geld. Und wir überprüfen, was der Krone Zufallen muß, Steuern, Vorrechte, Privilegien, Abgaben, Tribute.«

»Ihr seid also Beamte der Staatskasse?«

Wieder dieses Lächeln. »Oh, das und noch viel mehr! Unser besonderes Augenmerk gilt den Rechten der Krone in Frankreich - und Ihr wißt ja, Sir John, was dort geschehen ist. Der Großvater unseres derzeitigen Königs eroberte und besetzte den größten Teil des nördlichen Frankreich. Männer von gleichem Blut, aber unfähiger Natur sind jedoch zusehends dabei, dieses väterliche Erbteil zu verlieren. Was hat die Krone heute noch?«

Cranston zuckte die Achseln. »Einen Teil der Gascogne in der Gegend von Bordeaux.«

»Und in der Normandie?«

»Calais und seine Umgebung.«

Peter nickte. »Wir haben Männer, die von Calais aus operieren, um die verlorenen Gebiete zurückzuholen.«

»Ihr meint, Spione?«

»Ja, doch, so könnte man sie nennen. Ihre Aufgabe ist es nun, die Franzosen zu schwächen.« Peter hob die Schultern und sah lächelnd zu seinem Kumpan. »Sie in Atem zu halten. Ihr versteht schon - dafür zu sorgen, daß gelegentlich eines ihrer Schiffe verunglückt, Unzufriedenheit zu schüren und allerlei Erkenntnisse zu sammeln.«

»Und was hat das mit uns zu tun?« fragte Athelstan.

»Eigentlich gar nichts, lieber Bruder. Nur, daß Ihr den Tod des Kapitäns Roffel und das Verschwinden der Wache von der God’s Bright Light untersucht. Nicht wahr? Nun, auch das interessiert uns eigentlich nicht. Was uns allerdings interessiert, sind die Bewegungen von Roffels Schiff auf seiner letzten Reise. Wißt Ihr, zwei unserer Brüder, die mit einem Fischerboot von Calais nach Dieppe wollten, sind nämlich nie dort angekommen. Ihr Schiff verschwand.«

»Und Ihr glaubt, Roffel habe es versenkt?«

»Möglicherweise. Roffel war ein Hund - ein Räuber und Pirat, der unter der Flagge des Königs segelte. Wir wissen von seinen kleinen geschäftlichen Unternehmungen. Aber der Mord an unseren beiden Agenten, das ist eine andere Sache. Mord und Piraterie sind schwere Verbrechen. Und was noch wichtiger ist, wir wollen herausfinden, von wem Roffel wußte, wo er dieses Fischerboot abfangen konnte.«

»Vielleicht hat er bloß Glück gehabt«, meinte Cranston.

»Wir glauben nicht an Glück!« schnappte der Revisor. »Einen Verräter muß Roffel dafür bezahlt haben, daß er das Boot abfing und unsere Agenten ermordete.« Peter beugte sich über den Tisch. »Mit anderen Worten, Sir John: Es geht um Hochverrat!«

»Bei unseren Ermittlungen sind wir auf nichts dergleichen gestoßen«, sagte Cranston.

Die beiden Revisoren lächelten gleichzeitig. 

»Oh, aber das könnte noch kommen«, schnurrte Paul wie ein geschmeidiger Kater. »Das könnte durchaus noch kommen, Sir John, und wenn es geschieht, dann möchten wir es wissen.«

»Wie können wir Euch Bescheid sagen?« fragte Athelstan.

Die beiden Revisoren leerten gleichzeitig ihre Humpen und stellten sie in einer einzigen Bewegung wieder auf den Tisch.

»Ihr kennt die Statue Unserer Lieben Frau mit dem Jesuskinde in der St.-Paul’s-Kathedrale?« fragte der größere der beiden.

Athelstan nickte.

»Davor steht eine große, eisenbeschlagene Kiste für die Bittschriften der Gläubigen.« Peter erhob sich, und Paul tat es im selben Augenblick. »Wenn Ihr mit uns sprechen wollt, legt eine Bittschrift in diese Kiste - Ihr Heiligen Peter und Paul, bittet für uns. Noch am selben Tag werdet Ihr von uns hören. Gute Nacht, Sir John, Bruder Athelstan.«

Die beiden Revisoren schlüpften zur Tür hinaus. Sir John stieß einen leisen Pfiff aus, trank seinen Humpen leer und brüllte nach einem neuen.

»Und einen Teller Zwiebelsuppe!« schrie er. »Bruder?«

»Für mich nur Ale, Sir John.«

»So, so, so«, sagte Cranston. »Was hältst du davon, hm, Bruder? Piraterie, Mord, verschwundene Seeleute - und jetzt auch noch Hochverrat.«

»Ich sehe keinen Zusammenhang«, sagte Athelstan. »Wieso soll Roffel den Hals riskieren, wenn er mit der Piraterie so gut verdient?«

Cranston schnippte mit den Fingern und befahl einem Schankknecht, den Tisch abzuräumen.

»Heraus mit Pergament und Feder, Mönch!«

Athelstan stöhnte, aber er gehorchte; er holte eine Rolle Pergament hervor und strich sie auf dem Tisch glatt.

Leif, der einbeinige Bettler, hatte sie aus der gegenüberliegenden Ecke beobachtet. Jetzt kam er herübergehumpelt. Seine lange, ungelenke Gestalt balancierte halsbrecherisch auf einer behelfsmäßigen Krücke.

»Was ist mit Euch, Sir John? Bruder Athelstan? Warum schreibt Ihr hier?« rief Leif. »Sir John, Lady Maude sagt, Ihr sollt nach Hause kommen. Sie hat zwei große Pasteten und ein paar Kuchen gebacken. Die Kerlchen schlafen, und Lady Maude will Euch sehen. Hattet Ihr einen angenehmen Tag, Sir John?«

»Verschwinde, du nichtsnutziger Halunke!« schrie Cranston. »Verschwinde und laß mich in Ruhe!«

Leif berührte seine Stirnlocke und grinste.

»Man wird schrecklich durstig, Sir John, wenn man Nachrichten überbringt. Jetzt muß ich zurück und Lady Maude sagen, wo Ihr seid, was Ihr treibt und was Ihr gerade gesagt habt.«

Cranston machte schmale Augen und warf dem Bettler einen halben Penny zu.

»Was du nicht gesehen hast, kannst du auch nicht erzählen, oder, Leif?«

»Das stimmt, Sir John. Aber auch das Lügen macht durstig.«

Noch ein halber Penny flog durch die Luft.

»Trink dein Ale!« befahl Cranston. »Du fauler, verschlagener Hund. Hältst du dein Maul, kannst du mit mir zu Abend essen. Tust du es nicht, wirst du selbst gefressen.«

Leif grinste Athelstan an und hüpfte krähend vor Entzücken davon. Sir John nahm einen Schluck aus seinem Humpen, stellte ihn ab, klatschte in die Hände und schaute seinen geduldigen Schreiber an.

»Also, du fauler Pfaffe, was wissen wir?« Er hielt einen fetten Daumen hoch. »Item: Am 27. September segelten William Roffel und sein Schiff God’s Bright Light auf Kaperfahrt aus der Themse in den Kanal. Roffel war höchst unbeliebt und skrupellos, aber ein guter Kapitän. Der junge Ashby, der sich jetzt in deiner Kirche verborgen hält, fuhr mit ihm. Er gab dem Kapitän einen versiegelten Umschlag von Sir Henry Ospring.«

Sir John sah zu, wie Athelstans Feder über das Pergament glitt, und er bewunderte die klare, präzise Schrift. Der Ordensbruder benutzte eine Geheimschrift, die nur er selbst kannte, eine Mischung aus Abkürzungen und Zeichen, für deren Entschlüsselung ein kundiger Schreiber Monate gebraucht hätte.

»Item«, fuhr Cranston fort. »Roffel kapert etliche Schiffe, darunter eines vor der französischen Küste. Vielleicht war es das nämliche, von dem die beiden Hübschen vorhin gesprochen haben, vielleicht auch nicht. Item: War Roffel ein Verräter? Kaperte er dieses Schiff mit Absicht? Wußte er, daß Engländer an Bord waren? Wurde er dafür bezahlt, sie zu töten? Jedenfalls war er danach sehr fröhlich; er hat tatsächlich gegrinst und gesungen. Item: Roffel wird krank. Item: Das Schiff macht in Dover fest, und Ashby geht an Land. Was noch, Mönch?«   

»Ordensbruder, Sir John, Ordensbruder.«

»Ganz, wie du willst - Ordensbruder!«

»Item«, sagte Athelstan beim Schreiben. »Kapitän Roffels Krankheit verschlimmert sich. Er bekommt heftige Leibschmerzen, die, wie wir glauben, auf Arsen zurückzuführen sind. Aber wie und warum er vergiftet wurde, bleibt ein Geheimnis.« Athelstan schwieg und schaute Cranston an.

»Ja, ja, du hast recht«, fuhr der Coroner fort. »Wir dachten zunächst, das Gift sei in der Flasche gewesen, aber Roffel, der verschlagene Bastard, hat sie überall mit hingenommen. Er füllte sie selbst, und er trank in der Schenke davon, ohne daß eine unangenehme Wirkung eingetreten wäre. Überdies hat seine Frau, wie wir gesehen haben, das gleiche getan. Die Flasche scheint also nicht vergiftet worden zu sein.« Cranston nahm einen Schluck Ale. »Item, mein guter Ordensbruder: Die God’s Bright Light kehrt in den Hafen zurück. Roffels Leichnam wird an Land geschafft, seine persönliche Habe ebenfalls, aber das ist nicht viel. Ein Stundenbuch ist dabei, in dem Roffel wahrscheinlich seine verbrecherischen Gewinne vermerkt hat. Die Stimmung auf dem Schiff ist schlecht, aber die Mannschaft entspannt sich. Am Nachmittag kommen Huren an Bord. Als der Abend dämmert, gehen sie wieder an Land, und der größte Teil der Mannschaft mit ihnen. Nur der Erste Maat und zwei Matrosen bleiben als Nachtwache zurück. Item: Das eigentliche Geheimnis beginnt. Nach allem, was wir wissen, werden Parole und Lichtsignal vom Schiff des Admirals, der Holy Trinity, zur Wache der God’s Bright Light und von dort zum nächsten Schiff, der Samt Margaret, weitergegeben - jene zur vollen Stunde, dieses zur halben Stunde. Nach dem, was man uns berichtet hat, wurde das letzte Signal um halb sechs gegeben. Kurz vor Morgengrauen kehrte ein Matrose zurück und stellt fest, daß der Maat und die beiden Matrosen spurlos verschwunden sind; man findet keinerlei Anzeichen von Gewalt oder Unordnung. Die God’s Bnght Light gleicht einem Geisterschiff. Alles an Bord ist in Ordnung. Item…« Cranston kratzte sich am Kopf. »Was noch, Bruder?«      

»Crawley sagt, niemand habe sich dem Schiff genähert, aber vom Menschenfischer wissen wir jetzt, daß zwischen dem Schiff und jemandem auf dem Kai Signale hin und her gingen. Wer da allerdings wem Zeichen gegeben hat, ist ein Geheimnis.«

»Wir wissen außerdem«, ergänzte Cranston, »daß das seltsame Geschöpf Bernicia gegen Mitternacht zum Kai herunterkam. Sie - oder er - erinnert sich deutlich, daß der Erste Maat zu dieser Zeit noch quicklebendig war. Außerdem bemerkte sie, daß jemand im Schatten lauerte. Item«, fuhr Cranston fort und wischte sich den Mund ab, »im Gegensatz zu dem, was man uns erzählt hat, näherte sich sehr wohl ein Boot dem Schiff, und zwar nicht vom Ufer, sondern vom Schiff des Admirals. Wir wissen zudem, daß der gute Crawley eine tiefe Abneigung gegen Roffel hatte und einen Groll gegen ihn hegte. Was wissen wir noch, Bruder?«

»Nun«, sagte Athelstan und kratzte sich ebenfalls am Kopf, »am nächsten Morgen wurde der Geschäftspartner und Finanzier des Kapitäns, Sir Henry Ospring, der nach London gekommen war, um ein Wörtchen mit Roffel zu reden, in seiner Kammer in der Herberge »Zum Abt von Hyde‹ von seiner eigenen Tochter erstochen. Unterdessen wurde Roffels vergifteter Leichnam in der Kirche St. Mary Magdalene aus dem Sarg gezerrt und auf den Apsisstuhl geworfen.«

»Bei den Zitzen der Hölle!« Cranston stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir haben ein paar Lügen aufgedeckt, Bruder, aber nicht den Fetzen eines Hinweises darauf gefunden, wer die lenkende Kraft hinter all diesen Ereignissen ist.«

»Es könnte Crawley sein«, sagte Athelstan. »Er hatte ein Motiv und die Gelegenheit, sich dem Schiff zu nähern. Und was wäre mit Ospring? Wo war unser braver Kaufmann in der Nacht, als sich diese Merkwürdigkeiten abspielten?« Der Ordensbruder seufzte. »Wir haben gehört, daß alle Mann an Land waren und sich dort vergnügten, aber sie könnten auch lügen. Einer oder mehrere könnten an Bord geblieben oder später zurückgekommen sein.« Athelstan warf den Federkiel hin. »Andererseits, niemand hat ein Boot vom Kai zum Schiff kommen sehen. Wäre eins gekommen, so wäre es angerufen worden, und wie hätte man drei gesunde, starke Seeleute so lautlos beseitigen sollen? Bernicia könnte lügen; sie könnte bei der Sache die Hand im Spiel haben. Und schließlich Mistress Roffel: Sie konnte ihren Gemahl zwar nicht ausstehen, aber Pfarrer Stephen sagt, sie war in der Kirche St. Mary Magdalene und betete an seinem Leichnam.« Athelstan rieb sich müde die Augen. »Ihr habt gut fluchen, Sir John: Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine der Frauen nachts an Bord des Schiffes klettert, die Mannschaft umbringt und wieder verschwindet, ohne daß jemand sie sieht.«

Cranston leerte seinen Humpen. »Und das bringt uns nicht näher zur Lösung des Rätsels, wer Kapitän Roffel ermordet und warum er es getan hat.« Er strich mit dem Finger um den Rand des Humpens herum. »Hast du dir schon einmal überlegt, ob diese beiden Turteltauben in deiner Kirche, Lady Aveline und Nicholas Ashby, in die Sache verwickelt sein könnten?«

Athelstan lachte. »In Gottes Namen, Sir John, jedermann könnte darin verwickelt sein.« Er überflog das, was er geschrieben hatte. »Wir haben eine ganze Reihe von Rätseln zu lösen. Wie wurde Roffel vergiftet? Was geschah während der letzten Reise? Und was begab sich in jener ersten Nacht, als die God’s Bright Light bei Queen’s Hithe vor Anker lag? Bis jetzt haben wir noch keinen Hinweis, nicht die geringste Spur und keinen losen Faden - bis auf einen: Unser lieber Admiral Sir Jacob Crawley muß noch einmal vernommen werden.«

»Sir John, ich habe mein Ale ausgetrunken«, schrie Leif aus der anderen Ecke des Schankraumes.

Sie John spähte über die Schulter zu dem Bettler hinüber, der auf einem Schemel hockte und ihm zuwinkte.

»Ich gehe jetzt wohl besser, Bruder. Lady Maude wartet. Willst du mitkommen?«

Athelstan schüttelte den Kopf. Er rollte sein Pergament zusammen und schob es mit seinen Schreibgeräten in die Ledertasche.

»Nein, Sir John, ich gehe lieber nach Hause.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Benedicta kommt bald zurück, und ich habe ein paar Fragen an Master Ashby. Außerdem mache ich mir Sorgen wegen Marston, der sich vor der Kirche herumtreibt. Dieses Problem müssen wir auch noch lösen, Sir John.«

Cranston stand auf und drehte seinen Biberhut in den Händen. »Aye«, knurrte er, »und Shawditch wird wegen dieses verfluchten Einbrechers auch schon an meine Tür hämmern. Wirst du gefahrlos heimkehren können, Bruder?«

Athelstan erhob sich. »Wer«, fragte er mit großer Feierlichkeit, »würde es wagen, dem Secretarius des Coroners der Stadt London ein Haar zu krümmen?«

Sir John grinste und entfernte sich.

»Und vergeßt nicht, Sir John«, rief Athelstan ihm nach, ohne auf die überraschten Blicke der anderen Gäste zu achten, »Ihr habt versprochen, in unserem Stück die Rolle des Satans zu spielen!«

»Keine Sorge!« rief Cranston zurück. »Sogar Lord Beelzebub wird kochen vor Neid, wenn er mich in all meiner fürstlichen Pracht auf der Bühne sieht.«

Cranston rauschte hinaus, und Leif hüpfte schnatternd wie ein Eichhörnchen hinter ihm her.

Athelstan seufzte. Er holte sein Pferd aus dem Stall und ritt durch die stille, dunkle Cheapside. Das alte Pferd fand seinen Weg allein; er saß halb dösend im Sattel, und die Ereignisse des Tages schwirrten noch einmal durch seine Gedanken. Um ihn herum waren die Laute der Nacht - Geschrei und Gesang aus den Schenken, Kindergeheul aus einem hohen Fenster, Hundegebell. Katzen schlichen zwischen den Schatten umher und durchstreiften die Kloaken, stets wachsam auf der Suche nach den Mäusen und Ratten, die dort stöberten. Athelstan bekreuzigte sich und intonierte leise in der Dunkelheit: »Vem Sancte Spiritus - komm, Heiliger Geist, und sende vom Himmel herab Dein Licht…« 

Als er an der London Bridge ankam, zeigte er den Ausweis vor, den Sir John ihm gegeben hatte, und die Wache ließ ihn passieren. Auf halbem Wege hielt er an; zwischen den zusammengedrängten Gebäuden auf der Brücke schimmerte die Themse herauf. Der Nachtnebel riß auf und offenbarte die Schlachtschiffe, die dort vor Anker lagen.

»Oh Herr«, betete Athelstan, »löse diese Rätsel und kläre die schrecklichen Morde, die Geheimnisse des Meeres.«

Und er dachte an all die Leute, denen er an diesem Tag begegnet war: Emma Roffel, der Menschenfischer, die arme, unglückliche ermordete Magd, die Revisoren, rätselhaft und bedrohlich.

»Wir sind wie scharfe unverhüllte Messerklingen«, murmelte er. »Wenn wir uns drehen, schneiden wir.«

Er trieb Philomel voran und trabte von der Brücke hinunter in das Gewirr der Gassen von Southwark.