Zwei
Die Familie Eisenstat fuhr einen eleganten, kantigen, nach Motoröl riechenden Volvo. Und als sollte weiter unterstrichen werden, dass es sich um ein elterliches Auto handelte, lagen eine offene, wellige Scientific-American-Ausgabe und ein in der Hülle steckender lila Taschenschirm auf der Rückbank. Zees Eltern, beide Richter im neunten Gerichtsbezirk von Westchester County, hatten ihrer Tochter eingeschärft, keine Freunde an das Steuer des Volvos zu lassen. »Außenstehende sind nicht mitversichert«, hatten sie gesagt. »Du bist die Einzige, die fahren darf.« Zee hatte diese Warnung in den Wind geschlagen und Greer, inzwischen ihre beste Freundin am College, das Auto geliehen. Und so fuhr Greer an einem Freitagnachmittag im Februar zum dritten Mal nach Princeton, um Cory zu besuchen.
Greer ging bald selbstbewusst über den wie auf Hochglanz polierten Campus. Sie hatte einen Rucksack mit Lernstoff, sah also aus, als würde sie in Princeton studieren, ein Gedanke, der für einen Schub komplizierter Gefühle sorgte. Kurz darauf sah sie Cory, er beugte sich aus dem Fenster und winkte ihr zu wie ein gefangener Prinz. Er sprang die Treppen hinunter und riss die Tür auf, und Greer schmiegte sich an seine baumlange, magere Gestalt.
Seine Zimmertür öffnete sich zu einem noch wilderen Chaos als üblich. Klamotten, Bücher, DVDs, leere Bierflaschen, Hockeyschläger, eine Stereoanlage, alles lag in schönster Unordnung auf dem Fußboden. »Wurde eingebrochen?«, fragte Greer.
»Wenn, dann hätte der Einbrecher Steers’ sauteuren Mist übersehen.« Cory wies auf die Lautsprecher von Klipsch, einer als Abstellfläche für Bierflaschen zweckentfremdet. Daneben lag ein einsamer Air Jordan 4 Thunder, zu klein, um Cory zu gehören. Sie legten sich gemeinsam auf sein Bett, mitten auf das Wirrwarr der morgens gemachten Wäsche, die nach den vielen Stunden wundersamerweise immer noch einen Rest der Großtrocknerwärme abgab. »Steers leiht mir oft Klamotten für Partys«, erzählte Cory. »Natürlich passt mir nichts. Ich bin einfach zu groß.«
»Ist es dir noch peinlich?«, fragte Greer.
»So groß zu sein?«
»Nein. In Princeton zu studieren.«
»Tja, ich werde immer der Typ mit einer Putzfrau als Mutter und einem Polsterer als Vater bleiben.«
»Damit bist du hier sicher nicht allein«, meinte sie.
»Nein, natürlich nicht. Es gibt ein Mädchen aus Harlem, das mal in einem Obdachlosenheim gelebt hat. Ein Junge ist in China auf einem Hausboot aufgewachsen und unterrichtet jetzt als Hiwi multivariable Infinitesimalrechnung. Ich erlebe trotzdem peinliche Momente. Etwa mit meinem ›heimlichen Christkind‹, Clove Wilberson.«
»Was ist das denn für ein Name?«
»Na, ihr Name. Sie fand es unfassbar, dass ich noch nie einen Frack getragen habe. Ist nicht ganz einfach hier. Alle sind nett, aber ich trete immer wieder in soziale Fettnäpfchen. Sei froh, dass du in Ryland bist.«
Sie sah ihn an. »Im Ernst?«
Er in Princeton, sie in Ryland – das war immer noch ein heikles Thema. Und sie war immer noch stinksauer auf ihre Eltern, die für ihre Verbannung nach Ryland verantwortlich waren. In letzter Zeit hatten sich ihre Gefühle jedoch verändert – sowohl im Hinblick auf das College als auch auf ihr Inneres, dieses kleine Reich, das man sein Leben lang mit sich herumtrug und aus dem man das Beste machen musste, weil man es nicht verlassen konnte. Greer war noch klein gewesen, da hatte sie bemerkt, dass sie die Seiten ihrer Nase sehen konnte. Eine beunruhigende Erkenntnis. Ihre Nase war absolut in Ordnung, aber Greer wusste, dass diese für immer ein Teil ihres Blickes auf die Welt sein würde. Greer hatte damals kapiert, dass man weder dem eigenen Körper noch der Art entrinnen konnte, auf die man sich selbst wahrnahm.
Anfangs hatte sie sich am College einsam, wütend und verloren gefühlt. In letzter Zeit aber war der Campus lichter und freundlicher geworden. Manche Gespräche und Veranstaltungen, teils sogar schlichte Spaziergänge mit Freunden in die Stadt, fand sie aufregend. Greer überlegte, was sie während des Wochenendbesuches in Princeton verpasste; sie war davon überzeugt, dass ihr irgendetwas entging. Sie schmollte und grollte nicht mehr. Saß nicht mehr voller Verzweiflung im Gemeinschaftsraum des Woolley. Sogar der Junge aus dem Iran hatte sich eingefädelt, indem er dem Modellraketen-Club beigetreten war; die anderen Mitglieder dieser fröhlichen, bunt zusammengewürfelten Truppe kamen oft mit Sperrholz und Antrieben im Woolley vorbei und zerrten ihn aus seiner Bude. Er trauerte seiner fernen Familie seltener nach und verbrachte dafür mehr Zeit in dieser dynamischen Welt.
Greer wusste, dass man es schaffen musste, die eigene Welt dynamischer zu gestalten. Manchmal schaffte man das nicht allein. Dann brauchte man jemanden, der etwas in einem sah und einen auf ganz neue Art ansprach. Die aus heiterem Himmel erschienene Faith Frank hatte diese Wirkung auf Greer gehabt, obwohl ihr das sicher nicht bewusst war. Greer fand es irgendwie ungerecht, dass Faith das nicht wusste. Sie musste ihr davon berichten, das gehörte sich eigentlich so.
Greer dachte oft daran, wie aufmerksam und geduldig und freundlich und interessiert und inspirierend Faith an jenem Abend gewesen war. Sie schwelgte immer wieder in der Vorstellung, Faith Folgendes zu schreiben:
»Sie sollten wissen, dass Ihr Besuch vieles verändert hat. Ich kann das nicht ganz erklären, aber so ist es. Ich habe mich verändert. Ich engagiere mich. Ich bin offener, habe weniger Berührungsängste. Genau genommen bin ich (um den Fachbegriff zu verwenden) glücklich.«
»Warum schreibst du ihr nicht?«, hatte Zee vor Kurzem gefragt. »Sie hat dir ihre Visitenkarte gegeben. Darauf steht ihre E-Mail-Adresse. Schick ihr doch eine kurze Nachricht.«
»Klar, das ist genau das, was sich Faith Frank heiß ersehnt – mit einer Studienanfängerin an einem lausigen College, das sie längst vergessen hat, eine Brieffreundschaft zu beginnen.«
»Vielleicht freut sie sich ja, wenn sie hört, dass es dir gut geht.«
»Nein, ich kann ihr nicht schreiben«, sagte Greer. »Sie würde sich sowieso nicht an mich erinnern, und außerdem wäre es ein Missbrauch des Privilegs, ihre E-Mail-Adresse zu haben.«
»›Das Privileg, ihre E-Mail-Adresse zu haben‹«, sagte Zee. »Du müsstest dich mal hören. Das ist kein Privileg, Greer. Sie hat dir die Karte gegeben, das ist doch super. Du musst Gebrauch davon machen, finde ich.«
Greer schrieb aber nie. Gelegentlich schenkten ihr Professoren Aufmerksamkeit, aber das war nicht dasselbe. Einer von ihnen, Donald Malick, leitete das Anfänger-Kolloquium in englischer Literatur, und er notierte die Worte »Kommen Sie mal vorbei« auf der letzten Seite des Aufsatzes, in dem sie Becky Sharp aus Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeiten als Antiheldin analysierte. Der Lehrplan hatte die Studenten mit den unterschiedlichsten Romanen konfrontiert, aber dieser hatte Greer besonders gut gefallen. Becky Sharp ging in ihrem Ehrgeiz zwar über Leichen, doch man musste ihr hoch anrechnen, dass sie zielstrebig war. Viele andere Menschen verzettelten sich in ihren Wünschen. Sie wussten nicht, was sie wollten. Becky Sharp wusste es genau. Nachdem sie ihren Aufsatz zurückbekommen hatte, suchte Greer Professor Malick in dessen Büro auf, einem Chaos gefährlich schief in den Regalen stehender Bücher.
»Exzellenter Aufsatz«, sagte er. »Das Konzept des Antihelden oder, im Falle Ihres Aufsatzes, der Antiheldin, kann nicht jeder intuitiv nachvollziehen.«
»Ich finde es interessant, dass man gern über sie liest. Denn sie ist so gar nicht liebenswert«, meinte Greer. »Die Frage, ob man liebenswert sein sollte, ist seit Neuestem ein wichtiges Thema für die Frauen«, fügte sie etwas wichtigtuerisch hinzu. Sie hatte einen Artikel darüber in Bloomer gelesen. Sie hatte die Zeitschrift abonniert und wünschte sich, diese öfter interessant zu finden; sie wollte sie toll finden, vor allem wegen Faith.
»Ich habe ein Buch über den Antihelden geschrieben«, erklärte Professor Malick, »und möchte es Ihnen leihen.« Er reckte einen Arm und ließ den Zeigefinger über die Buchrücken gleiten; das Geräusch, das dabei entstand, glich dem leisen Klimpern eines Xylofons. »Wo verbirgst du dich, Antiheld?«, fragte er. »Komme zum Vorschein und zeige dein unheroisches Gesicht. Ah! Da bist du ja.« Er riss das Buch aus dem Regal und drückte es Greer mit den Worten in die Hand: »Ihre Aufsätze, die Sie offenbar tatsächlich selbst schreiben – es geschehen noch Zeichen und Wunder –, zeugen von einem scharfen Verstand. Also dachte ich, dass Sie vielleicht für zusätzliche Lektüre offen sind.«
Doch er war ein mürrischer Mann, dessen Atem nach Lauch stank. Seine Art zu lehren und zu schreiben war kompliziert und selbstreferenziell und nicht wirklich sympathisch. Während des Unterrichts ließ sie sich zwar manchmal von Bildern aus den Romanen davontragen, nur leider oft über die Grenzen der Literatur hinaus in ganz andere Bereiche. Dann dachte sie daran, mit Cory im Bett zu sein, oder an diese oder jene abendliche Aktion mit Zee und Chloe auf dem Campus.
Greer las das Buch ihres Professors dann doch. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, weil er es ihr gegeben hatte, so war sie nun mal gestrickt. Unglücklicherweise war es akademisches Schwarzbrot, und als sie in der Danksagung blätterte, stellte sie genervt fest, dass er seiner Frau, Melanie, dafür dankte, »das lange Manuskript klaglos für ihren hoffnungslos ungeschickten Mann abgetippt zu haben«. Er fügte hinzu: »Melanie, du bist eine Heilige, und ich stehe voller Demut vor dem Geschenk deiner Liebe.« Greer las das Buch im Eiltempo, gelangweilt von dem widerspenstigen Text, der sie fast in den Wahnsinn trieb. Sie wusste nicht, was sie dem Professor dazu sagen sollte, also schwieg sie, was sich als unproblematisch erwies, weil er es nie zurückforderte.
Greer hatte sich in letzter Zeit viel mit Zee und Chloe, Kelvin Yang, einem über ihr wohnenden koreanisch-amerikanischen Drummer, und dessen Zimmergenossen Dog herumgetrieben – von seiner Familie liebevoll so genannt, weil es sein allererstes Wort gewesen war. Dog, ein großer, gut aussehender, überschwänglicher Typ im Parka, sagte oft: »Ich liebe euch alle so sehr, Leute«, und schloss seine Freundinnen dann in einer Gefühlsaufwallung in die Arme. Sie gingen zusammen auf Partys, allerdings nie wieder auf solche der Verbindungen. Wenn sie auf Achse waren, drängten sie sich zusammen wie mehrere Kinder in einem Kamel-Kostüm. Sie unternahmen Schneewanderungen und fuhren in einem Chinatown-Bus nach Washington, D.C., um dort an einer Demo gegen den Klimawandel teilzunehmen, schickten einander Artikel über Umweltverschmutzung, die Verstrickung der Vereinigten Staaten in endlose Kriege, Gewalt gegen Frauen oder die klammheimliche Beschneidung des Rechtes, frei darüber zu entscheiden, ob man ein Kind bekommen wollte oder nicht.
In diesem Semester hatten Greer und Zee freiwillig für die Frauen-Hotline Talk 2 Us gearbeitet. Sie verbrachten lange Abende im Zentrum von Ryland, saßen im Hotline-Büro und spielten Boggle, während sie darauf warteten, dass das Telefon klingelte. Wenn es klingelte, lauschten sie Geschichten über vage Traurigkeit und Selbsthass, manchmal auch über eine konkretere Form der Verzweiflung. Sie sprachen so beruhigend, wie sie es gelernt hatten, blieben so lange wie nötig am Apparat und verbanden die Anruferin dann mit der passenden sozialen Institution. Zee musste einmal die 911 wählen, weil ein Mädchen am Telefon behauptet hatte, aus Kummer über die von seinem Freund vollzogene Trennung eine ganze Flasche mit einem Tylenol-Generikum geschluckt zu haben.
Greer wurde wie Zee Vegetarierin. Das war am College, wo Tofu und Tempeh auf den Bäumen wuchsen, kein Problem. Sie saßen in der Mensa vor Tellern mit hellbraunem Protein. Am späteren Abend führten sie in einem ihrer Wohnheimzimmer lange und tiefgründige Gespräche, die bemerkenswert offen und emotional zu sein schienen, rückblickend aber vor allem bewiesen, wie jung und unreif und blauäugig sie damals noch gewesen waren.
»Erklär mir doch mal, was dich an Männern sexuell reizt«, hatte Zee gebeten. Es war schon nach Mitternacht, und sie hatten die Bude für sich allein, weil Zees Mitbewohnerin mit ihrem Freund, einem Hockeyspieler, unterwegs war. Ihre Seite des Zimmers war mit Postern tapeziert, die Hockey spielende Kerle zeigten, markig und kräftig, einen Mundschutz zwischen den Zähnen. Zees Seite war eine Hymne auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, die alles beherrschenden Themen waren Tiere und Frauen.
Sie hatten die Wörter »Männer« und »Frauen«, die wie nebenbei in das Gespräch einflossen, erst vor Kurzem in ihren Wortschatz aufgenommen. Nach einer Weile klangen sie nicht mehr ganz so befremdlich, obwohl sie »Mädchen« im Laufe ihres ganzen Lebens immer wieder benutzen sollten, weil es ein nützliches und strapazierfähiges Wort war, das sie mit einem stabilen, Halt gebenden Zustand verbanden.
»Denn ich kapiere nicht, wieso Menschen so unterschiedlich sind«, fuhr Zee fort. »Warum jeder etwas völlig anderes will.«
»Tja, das sind die Gene, oder?«
»Es geht mir gar nicht um die Frage, warum ich lesbisch bin. Ich meine die Gefühlsebene. Liegt es nur am Äußeren, dass wir an bestimmten Menschen dieses mögen und jenes nicht?«
»Nein, nicht nur. Die Emotionen spielen auch eine Rolle. Faulkner hat irgendwo geschrieben, man liebe nicht, weil. Sondern man liebe, obwohl.«
»Ja, ist mein Lieblingszitat. War nur ein Witz – ich kenne es gar nicht! Ich habe Faulkner nie gelesen und werde das wohl auch nie tun. Aber was lädt unsere Gefühle sexuell auf?«, fragte Zee. »Magst du den Penis, ganz objektiv gesehen, meine ich? ›Der Penis‹. Das klingt so förmlich. Als gäbe es auf der ganzen Welt nur einen einzigen. Darf ich dir diese Frage stellen oder ist sie zu intim? Nervt dich das?«
»Ich mag Cory«, antwortete Greer, aber das klang etwas zu billig, zu spröde und verkürzt. Wie konnte sie jemand anderem erklären, warum sie mochte, was sie mochte? Das war alles so befremdlich. Sexuelle Vorlieben. Ja, selbst ganz normale Vorlieben oder Abneigungen – für Karamell, gegen Pfefferminz. Sie war eine heterosexuelle Frau, aber deshalb war es ja nicht garantiert, dass sie ausgerechnet Cory Pinto attraktiv fand, sich sogar in ihn verliebte, und doch war es ihr so ergangen. Also genügte die Antwort vielleicht doch. An jedem Wochenende suchte sich jeder auf dem Campus jemanden, das war ebenso zwanghaft wie das Daddeln auf dem Handy, nur wusste Greer nicht, wie es sich anfühlte, mit jemandem ins Bett zu gehen, den sie kaum kannte, mit dem sie nicht aufgewachsen war.
Und nun lag sie neben Cory in dessen College-Bett, das genauso aussah wie ihr eigenes. Beide Betten hatte extralange Bezüge, ein bizarres Detail des College-Lebens. Nach dem College würden die Bezüge sofort auf ihre normale Länge schrumpfen.
Sie kuschelten sich aneinander, küssten sich lange, und gerade, als er ihr Shirt hochschieben und sie anfassen wollte, hörten sie einen Schlüssel im Schloss knirschen und fuhren auseinander. Steers, Corys Mitbewohner, trat ein, aus seinen Ohrstöpseln drang eine leise, gedämpfte Flut rhythmischer Wut. Er nickte Greer zu, ohne die Stöpsel herauszunehmen, und setzte sich dann an seinen Schreibtisch, dessen Lampe den ganzen Tag über brannte (»Er knipst sie nie aus«, hatte Cory gesagt. »Ich glaube, er ist ein KGB-Agent, der versucht, meinen Willen zu brechen«), wo er mit dem Versuch fortfuhr, ein Kapitel seines Maschinenbau-Lehrbuches zu meistern. Als Reaktion darauf holten auch Greer und Cory ihre Bücher aus den Rucksäcken, und kurz darauf glich das Zimmer einem Lesesaal. Cory las ein dickes Buch für sein Ökonometrie-Seminar; Greer las Tess von den d’Urbervilles und unterstrich so viel, dass auf manchen Seiten alles markiert war.
»Was streichst du da an?«, fragte Cory neugierig.
»Sätze, die mich bewegen«, antwortete sie ganz unbefangen.
Sobald Steers das Zimmer wieder verließ, würden sie den wie mit einem Textmarker angestrichenen Kuss fortsetzen und zu einer anderen, eventuell auch verwandten Art innerer Bewegtheit fortschreiten, das wusste sie. Alles, was Greer las, war mit Liebe gesättigt – Liebe zur Sprache, zu einem Protagonisten, zum Lesen –, ebenso wie alles, was mit Cory zusammenhing. Während ihrer Kindheit waren Bücher ihre Rettung gewesen, und Cory hatte sie dann ein zweites Mal gerettet. Natürlich gab es einen Zusammenhang zwischen Cory und Büchern.
Sobald Steers weg wäre, würde man ihre Abercrombie-Jeans öffnen und hinunterschieben, Bluse und BH ausziehen, und all das würde Cory tun, der es nicht müde wurde, sie zu entkleiden. Er würde sie nackt ausziehen, sich danach seufzend auf die Ellbogen stützen und im Bett zurücklehnen, um sie zu betrachten, und diesen Augenblick würde sie so tief genießen, dass es ihr die Sprache verschlagen würde.
All das konnte sie Zee nicht erklären. Jeder Mensch, ob Frau oder Mann, war hilflos, wenn es um die Eigenarten des eigenen Körpers ging. Corys Penis bog sich manchmal leicht nach links. »Wäre das Ding aus einem Laden«, hatte er einmal zu ihr gesagt, »dann würde man es reklamieren. Man würde sagen: ›Das Teil ist krumm. Es sieht aus wie … ein Schäferstab. Ich will ein besseres.‹« »Ich würde es bestimmt nicht reklamieren«, hatte Greer erwidert. Sie hätte es nicht getan, weil es zu ihm gehörte. Weil er es war. Sie fand es rührend, dass er dieses Thema anschnitt, weil er sicher lieber gestorben wäre, als mit jemand anderem darüber zu reden. Was wiederum hieß, dass sie für ihn nicht nur »jemand anderer« war; dass sie untrennbar verbunden waren.
Bevor es im letzten Highschool-Jahr zu dieser Beziehung gekommen war, war Greer mit dem Gefühl durch die Tage geschlichen, vollkommen isoliert zu sein. Sie hatte während ihrer Kindheit eine weiche, hellblaue Plastikfedermappe mit dem Bild eines Schlumpfes besessen, als wollte sie dadurch beweisen, wie ihre Mitschüler zu sein, obwohl sie, hätte man sie auch nur um eine einzige Information über die Schlümpfe gebeten, komplett auf dem Schlauch gestanden hätte. Sie fand die Schlümpfe total uninteressant, außer als soziale Währung, über die sie, wie ihr langsam bewusst geworden war, nur zum Teil verfügte.
Ihre Eltern hatten sich nie groß darum bemüht, sich in die Kleinstadt im westlichen Massachusetts zu integrieren. Sie verkauften ComSell-Nutricle-Eiweißriegel und präsentierten ihre magere Produktpalette in privaten Wohnzimmern. Greers Vater, Rob, strich außerdem Häuser im Pioneer Valley, war aber schlampig und ließ oft Farbdosen auf den Veranden stehen. Es konnte auch passieren, dass man Monate später einen verkrusteten Farbroller zwischen den Azaleen fand. Greers Mutter, Laurel, arbeitete überall im Pioneer Valley als sogenannter Bücherei-Clown, hatte Greer aber nie zu einem Auftritt mitgenommen, und Greer hatte sie nie bedrängt. Vielleicht war es besser, dass sie nie einen Auftritt gesehen hatte, dachte Greer, als sie etwas älter war, denn es hätte sicher wehgetan, ihre übertrieben komische Mutter mit roter Perücke und dem Make-up eines Clowns zu erleben.
Ihre Eltern hatten sich zu Beginn der 1980er-Jahre kennengelernt, als sich beide einer Kommune angeschlossen hatten, die im Pazifischen Nordwesten in einem umgebauten Schulbus lebte. Die Bewohner des Busses wollten ein anderes Leben führen als jenes, das ihrer Meinung nach für sie vorgesehen gewesen war. Alle fanden die Vorstellung ätzend, allein loszuziehen und ein konventionelles, geregeltes Leben zu führen. Rob Kadetsky war »an Bord gekommen«, wie es bei diesen Aussteigern hieß, weil er nach seinem Ingenieursdiplom am Rochester Institute of Technology mit anfangs vielversprechenden Investitionen im Solarbereich auf die Nase gefallen war. Laurel Blanken war an Bord gekommen, weil sie zu viel Angst davor hatte, ihren Eltern zu beichten, dass sie ihr Studium am Barnard College abgebrochen hatte. Sie schrieb ihnen jede Woche pflichtschuldig eine Schwindel-Postkarte und hoffte, sie würden den Poststempel nicht bemerken:
Liebe Mutter, lieber Vater,
meine Seminare sind toll. Meine Mitbewohnerin hat einen Gecko!
In Liebe
Laurel
In dem ständig umherfahrenden Bus verliebten sich Rob und Laurel rasch ineinander. Sie blieben so lange wie möglich an Bord, nahmen befristete Saison-Jobs an, duschten in örtlichen YMCA-Einrichtungen und aßen manchmal kalte Konserven. Anfangs hatten sie das Gefühl von Freiheit, aber nach einer Weile konnten sie die Beschränkungen des Buslebens nicht mehr ignorieren. Sie hassten es, morgens mit Rost im Gesicht aufzuwachen, weil die Wange über Nacht auf dem Nothebel eines Fensters gelegen hatte, oder mit Hautausschlag, weil ein Bein auf einem Kunststoffsitz festgeklebt war. Sie sehnten sich nach Privatsphäre, nach Liebe, Sex und einem Badezimmer.
Das Leben im Bus wurde unerträglich, aber das herkömmliche Dasein kam ihnen genauso unerträglich vor. Zwischen einem konventionellen und einem alternativen Leben in der Falle sitzend, zogen Rob und Laurel nach Osten und gingen einen Kompromiss ein. Das Haus im Arbeiterstädtchen Macopee, Massachusetts, das sie mit etwas Geld aus Laurels Familie erwarben, war dem Schulbus am Ende nicht unähnlich. Es wurde nie komplett eingerichtet und blieb immer etwas ungemütlich, und manchmal meinte man, es wäre ebenfalls in Bewegung und nicht fest im Boden verankert. Immerhin gab es Bäder und fließendes Wasser, und die Fenster waren nicht mit Strafzetteln tapeziert.
Rob unternahm einen neuen, wenn auch erfolglosen Anlauf, Firmen für seine Erfindungen zu erwärmen, arbeitete als Anstreicher, verkaufte gemeinsam mit Laurel die Eiweißriegel, und dann kam Greer, und Laurel wurde Gelegenheits-Bücherei-Clown. Sie hatten im Laufe der Jahre sowohl in finanzieller als auch in anderer Hinsicht zu kämpfen, fassten nie richtig Fuß in der Welt und rauchten zu viele Joints, deren Qualm durch das ganze Haus zog. Falls Greer Erinnerungen daran hatte, beließ sie diese in dem nebulösen Bereich, in dem sich auch das mehr oder weniger deutliche Wissen um die Sexualität ihrer Eltern bewegte.
Andererseits war es mehr als das. Sie hatte das Gefühl, dass das Leben, das sie mit ihren Eltern führte, nicht normal, nicht richtig war; das nahm sie ebenso deutlich wahr wie den Rauch der Joints. Aber wenn sie jemandem davon erzählen würde, wenn jemand Bescheid wüsste, dann wäre das noch schlimmer. Nicht, dass das Jugendamt sie ihren Eltern wegnehmen würde, nein, so war es nicht. Aber eine Familie aß doch gemeinsam, oder? Eltern stellten doch eigentlich das Essen auf den Tisch und fragten so etwas wie: »Na, wie war dein Tag?«
Die Kadetskys besaßen einen Küchentisch, der jedoch oft mit Kartons voller Eiweißriegel und Stapeln von Bestellformularen übersät war. Ihre Eltern erwiderten, sie seien nicht »gesellig«, als Greer wissen wollte, warum sie so selten gemeinsam aßen. »Außerdem liest du gern beim Essen«, hatte ihre Mutter gesagt. Greer meinte, sich deutlich an diese Worte zu erinnern, wusste aber nicht mehr, was am Anfang gestanden hatte: die Bemerkung ihrer Mutter oder die Tatsache, dass sie gern beim Essen las. Auf jeden Fall bildete sie sich danach ein, beim Essen gern zu lesen. Beide Aktivitäten waren untrennbar miteinander verbunden. Meist bereitete Greer das Abendessen zu, nichts Besonderes: ein Chili, eine Suppe oder Hühnchen in Cornflakes. Ihre Eltern schneiten irgendwann herein, schnappten sich einen Teller und verzogen sich damit nach oben. Greer konnte sie manchmal kichern hören. Sie stand brav am Herd, die Ofenhitze im Gesicht. Am Ende tat sie sich auch etwas auf und setzte sich allein an den Tisch oder im Schneidersitz auf ihr Bett, hinter dem Teller ein aufgeschlagenes Buch.
Der Preis des Lesens. Für Greer war es schließlich genauso unverzichtbar wie andere Bedürfnisse. Sich in einem Roman zu verlieren bedeutete, sich im eigenen Leben nicht zu verlieren, in diesem zugigen, chaotischen, einem dahinschnaufenden Bus gleichenden Haus mit gleichgültigen Eltern.
Abends im Bett las Greer im Schein einer rasant schwächer werdenden Taschenlampe. Sie las bis zur allerletzten Minute, verschlang im immer gelberen Lichtkreis Geschichten und Konzepte, die sie in ihrer Einsamkeit trösteten und bezauberten, einer Einsamkeit, die Jahr für Jahr anhielt.
In der Mitte der vierten Klasse kam ein neuer Junge an die Schule. Greer wurde bewusst, dass sie ihn schon am Wochenende in ihrem Viertel gesehen hatte. Cory Pinto, ein großer, magerer Junge mit olivfarbenem Teint, war in das Haus schräg gegenüber gezogen. Greer begriff schon wenige Tage nach seinem Auftauchen in der Schule, dass er ebenso intelligent war wie sie, im Gegensatz zu ihr aber keine Angst hatte, den Mund aufzumachen. Beide ließen ihre Mitschüler weit hinter sich, die oft den Anschein erweckten, als hätte man ihnen die Augen verbunden, sie mehrmals um die eigene Achse gedreht und danach aufgefordert, sich durch den Lernstoff zu arbeiten.
Wenn die Klasse früher in Lesegruppen aufgeteilt worden war, hatte Miss Berger für Greer wenig mehr tun können, als sie in die einsame Spitzengruppe der Pumas zu stecken. Besser gesagt: des einzigen Pumas. Nun saß Cory plötzlich mit ihr in der Ecke, und sie waren ein Paar, zwei Pumas. Greer konnte die ein paar Meter entfernte Kristin Vells hören, Mitglied der extrem rangniederen Koalas – ein merkwürdig aussehendes Tier mit Stummelbeinchen, vom dichten Fell zu Boden gedrückt –, die im roten Lesebuch, Wege voller Wunder, eine Zeile zu lesen versuchte. »Billy woll-te zum Ro…, zum Ro…«, stammelte sie.
»Zum Rodeo«, warf Nick Fuchs schließlich genervt ein. »Mann, geht das nicht schneller?«
In der Ecke, in der Greer mit dem lebhaften und viel zu großen neuen Jungen saß, lagen goldrautengelbe Lesebücher mit dem Titel Wege der Fantasie aufgeschlagen auf den Schößen. Darüber stand in schlichter Garamont-Schrift »Buch 5«. Die Plots der Geschichten in Wege der Fantasie waren unfassbar öde, und Greer übte sich in dieser Einöde wie ein Soldat, der trainieren musste, Entbehrungen zu ertragen, denn sie wusste, dass dies irgendwann nützlich sein würde. Cory Pinto sah die Sache offenbar ähnlich, denn auch er las geduldig und aufmerksam die wahre Geschichte von Taryn, dem Recycling-Mädchen aus Toledo, das schon in der dritten Klasse mehr Flaschen gesammelt hatte als jedes andere Kind zuvor, so in das Guinness-Buch der Rekorde gekommen war und gewissermaßen die Welt gerettet hatte.
Als Neuankömmling war Cory Pinto immer noch eine Neuigkeit, aber er war noch viel mehr als das. Seine Stimme, kräftig, aber nicht nervtötend, wurde zwischen den anderen Jungs laut, deren Stimmen zum Teil sowohl kräftig als auch nervtötend waren und Miss Berger mehrmals dazu veranlassten, von ihrem Platz aufzustehen, auf die Jungs hinabzuschauen und sie streng daran zu erinnern: »Ihr sollt im Stillen lesen!«
Greer hatte nur diese Stille. In den Pausen saß sie unter der weißen Tafel auf dem Fußboden und futterte mit Elise Bosniak, ihrer einzigen ebenso unglaublich stillen Mitschülerin, die sich durch eine etwas verstörende und unheimliche Persönlichkeit auszeichnete, Pringles aus einer Dose. »Hast du jemals daran gedacht, unsere Lehrerin zu vergiften?«, fragte Elise eines Tages wie nebenbei.
»Nein«, antwortete Greer.
»Ich auch nicht«, sagte Elise.
Cory, dieser Strich in der Landschaft, erhob jedoch ohne Scheu seine Stimme, war selbstbewusst und beliebt. Noch schlimmer war, dass er niemals richtig aufzupassen schien, sondern eine verträumte Sorglosigkeit ausstrahlte. Das fiel Greer jedes Mal auf, wenn er morgens an der Bushaltestelle in der Woburn Road stand. Mit seinen neun Jahren erinnerte er an eine dünne, lässige, unaufdringlich gut aussehende Vogelscheuche. Das war ihm auch anzusehen, wenn er an der Fontäne trank, und zwar daran, wie er die Augen schloss und die Lippen spitzte, bevor er auf den Metallknopf drückte.
Greer, mit ihren gebügelten Nylonshirts und ihrer Federmappe mit dem Schlumpf darauf, fühlte sich von ihm eingeschüchtert. Er war nicht nur klug, sondern auch fröhlich und unabhängig. Wegen ihrer Intelligenz und ihrer guten Zensuren bildeten sie immer wieder ein Paar, redeten aber nur miteinander, wenn es gar nicht anders ging. Sie wollte ihn nicht kennenlernen, und sie wollte auch nicht, dass er sie kennenlernte. Oder ihre Eltern. Greer schämte sich sowohl für ihre Eltern als auch für ihr Haus in Grund und Boden. Das Haus der Familie Pinto dagegen war sauber und adrett, und die Tür ihres Kühlschranks glich einem Strauch, dessen Blätter aus Corys Zeugnissen, Urkunden und Dokumenten mit goldenen Sternchen bestanden. All das hatte Greer in Augenschein nehmen dürfen, weil sie einen Monat nach seinem Einzug gemeinsam ein Referat über die Bräuche der Navajo-Indianer hatten schreiben müssen.
Beim Betreten seines Hauses hatte sie bemerkt, wie ordentlich es war, hatte auch den Cory gewidmeten Kühlschrank-Schrein betrübt zur Kenntnis genommen. »Du wirst hier verehrt wie ein Gott«, sagte sie zu ihm.
»Sag das ja nicht. Mein Mom würde durchdrehen. Sie ist sehr fromm.«
Auch in dieser Hinsicht unterschieden sich beide Familien. Die Kadetskys waren Atheisten – »Und zwar mit kleinem a«, wie ihr Vater stets sagte, als befürchtete er, allein der Großbuchstabe wäre so etwas wie eine Vergöttlichung.
Corys sehr kleine, emsige Mutter Benedita kam in die Küche, während sie an dem Referat arbeiteten, und servierte ihnen mehrmals blaue Schälchen mit aletria, einem warmen portugiesischen Dessert, das verrückterweise Nudeln enthielt. Eine Mutter zu sehen, die damit beschäftigt war, am Herd ein Essen für ihren Sohn und dessen Klassenkameradin zuzubereiten – die so lange dort verharrte, bis es fertig war, und ihnen im Anschluss beim Essen zuschaute –, das tat weh. Greer hatte manchmal von gegenüber beobachtet, wie sich die Familie Pinto zum Abendessen bereit machte. Wenn alle saßen, konnte sie sehen, wie ihre Köpfe beim Essen aus dem Blickfeld verschwanden und wieder auftauchten, und das wühlte sie innerlich auf. Dieser Gegensatz. Dieser Unterschied. Wie normal die auf der anderen Straßenseite wohnende Familie war, verglichen mit der unbehaglichen Verschrobenheit ihrer eigenen. Und nun auch noch dieses schockierend köstliche aletria, das bewies, dass eine kochende Mutter zaubern konnte. Mrs Pinto sah ihnen anerkennend beim Essen zu, stolz auf ihre Kochkünste, froh darüber, dass sie das Gericht mit Freude aßen. Jedenfalls Cory.
Es war offensichtlich, wie sehr sie ihren Sohn liebte. Als die neunjährige Greer diese unverhüllte Mutterliebe wahrnahm, hatte sie das Gefühl, nackt und hilflos dazusitzen, weil ihr diese Liebe fehlte. Nackt und bloß und wohl auch lächerlich. Mrs Pinto betrachtete sie sicher traurig und voller Mitgefühl: das vernachlässigte Mädchen von gegenüber. Vielleicht stellte sie ihr deshalb ein Schälchen mit Ambrosia hin; das wenigstens konnte sie tun. Als Greer dieser Gedanke kam, schob sie das Schälchen von sich fort. Es enthielt noch einen kleinen Rest, aber sie hatte keinen Appetit mehr. Das Navajo-Referat war rasch geschrieben, und Greer kehrte heim, tat so, als wären ihr dieser Junge und seine Familie gleichgültig. Trotzdem hatte sie eine neue Erfahrung gemacht. Sie hatte gesehen, was Liebe war. Sie hatte festgestellt, dass man nicht nur in Romanen, sondern auch im wahren Leben so geliebt werden konnte.
Es dauerte acht Jahre, bis sie das Haus der Pintos ein zweites Mal betrat, und als sie dies tat, gab es kein aletria; sie sehnte sich nicht danach, wünschte sich auch nicht mehr, dort bessere Eltern zu finden. Denn sie war endlich ein ausgewachsener Teenager, und es gehöre, wie sie zu Cory sagte, zum Berufsbild, dass man sich von den Eltern abnabele. Es war ihr ziemlich egal, zu Hause übersehen und bis zur Volljährigkeit sich selbst überlassen worden zu sein. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, hatte dies als ihr Leben akzeptiert. Doch bei ihrem zweiten Besuch im Haus der Pintos war Cory anwesend – ein anderer Cory, ein älterer, emotional und sexuell attraktiver Cory, der nicht nur ebenso intelligent war wie sie, sondern auch interessant, mit ernstem Gesicht, langen Fingern und haarloser Brust, und die Art, wie er mit ihr umging, war für sie absolut neu.
Zu jenem Zeitpunkt, mit siebzehn Jahren, waren beide schwer damit beschäftigt, ihre individuelle Persönlichkeit auszubilden. Er spielte Basketball und war zu den Macopee Magpies geholt worden, deren Coach nicht von ihm verlangte, besonders gut zu spielen, sondern einfach nur groß zu sein. Wenn er nicht auf dem Basketballfeld oder schwer dabei war zu büffeln, ertappte ihn Greer vor dem uralten Ms.-Pac-Man-Spielautomaten im Pie Land Pizza. Ein Vierteldollar nach dem anderen verschwand im Schlitz und erhielt den schmierigen, gewölbten Bildschirm am flackernden Leben. Cory avancierte auch in dieser Welt zum Meister, sein Name erschien ganz oben auf der Liste der Spieler, die von der Pie-Land-Pizza-Leitung an eine Wand geheftet worden war. Die Leute trugen ihre Ergebnisse ein, und am Ende der Woche wurde ein Champion gekürt. Und da stand »PINTO«, geschrieben mit grünem Filzstift.
Irgendwie unfair, dass er auch in dieser Welt dominierte, denn Ms. Pac-Man war immerhin weiblich. Andererseits fehlten Ms. Pac-Man mit ihrem kugelrunden Sonnenkopf und den roten Stiefeletten jene körperlichen Attribute, die sie von ihrem männlichen Pendant unterschieden hätten. Sie besaß weder Brüste noch einen Unterleib, der die sexuellen Geheimnisse barg, die Pac-Man erregt hätten. Dieser kam übrigens ohne die Anrede »Mr« aus.
Während ihrer Highschool-Zeit hatte Greer am Wochenende manchmal mit zwei oder drei Freundinnen im Pie Land Pizza gesessen, alle auf der biederen Brave-Mädchen-Spur, die sie durch eine leicht schräge Ästhetik wettzumachen versuchten. Die blaue Strähne, die Greer in ihre Haare gefärbt hatte, glich einem Neonlicht, das ihre feinen Züge erhellte. Vielleicht fiel sie Cory Pinto auf, vielleicht auch nicht. Doch er fiel Greer und ihren Freundinnen auf, sie beobachteten ihn sogar von der Seite oder von hinten, wenn er am Automaten stand. Seine Schulterblätter spielten, und er biss die Zähne zusammen; er war hochkonzentriert.
»Was ist so faszinierend an dem Spiel?«, wollte Marisa Claypool wissen.
»Vielleicht kann er dabei alles andere ausblenden«, meinte Greer, obwohl die Frage eigentlich hätte lauten müssen: Was ist so faszinierend an Cory Pinto?
Sie beobachtete ihn eindringlich, während die kugelrunde Ms. Pac-Man alles fraß, was in Sichtweite kam. Spielte es eine Rolle, dass sie weiblich war? Greer versuchte, ihrer eigenen Weiblichkeit nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, das würde die Welt für sie übernehmen. Inzwischen existierten jedoch ihre Brüste – die Zeit, als sie, so der Kommentar vor dem KwikStop, nichts im Hemd gehabt hatte, war vorüber –, dazu eine schmale Taille und eine Vagina, die auf ihre herrlich geheimnisvolle Art allmonatlich menstruierte, und das für sie ganz allein. Niemand wusste, was in einem vorging, niemand interessierte sich dafür.
Eines Tages, zu Beginn des Winters ihres letzten Highschool-Jahres, stiegen Greer Kadetsky, Cory Pinto und Kristin Vells in der Woburn Road aus dem Bus, wie gewohnt einer nach dem anderen, aber sobald Kristin abgezwitschert war, setzte Cory den riesigen Rucksack auf, drehte sich um, sah Greer in die Augen und fragte: »Fandest du den Test in Vandenburgs Stunde fair?« Aus der Nähe bemerkte sie den pastellfarbenen Schnurrbart, der sich dezent über seiner Lippe bog, und den halbmondförmigen, kleinen Rest eines Schorfs auf dem Wangenknochen, Resultat irgendeines Herumalberns unter Kumpeln. Sie erinnerte sich daran, dass vor Kurzem noch ein Pflaster darauf geklebt hatte.
»In welcher Hinsicht fair?«, fragte sie, verwirrt, dass er sie plötzlich und obendrein so nachdrücklich ansprach.
»Das ganze Material über elektrisches Potenzial und so weiter. Nichts davon kam im Test vor.«
»Du hast mehr gelernt als nötig, hm?«, meinte sie.
»Ich brauche nur das Nötigste«, sagte Cory, und sie begriff, dass ihn das überflüssige Wissen belastete. Das war wie bei Schwimmern, die ihren Körper rasierten, um mit dem Wasser in unmittelbarer Berührung zu stehen.
Er begleitete sie unaufgefordert bis zu ihrer Haustür. »Du willst mit reinkommen«, sagte sie und betonte die Worte nicht als Frage, obwohl sie nicht wusste, warum sie ihn hineinbat oder was sie im Haus vorfinden würden. Nach dem Öffnen der Tür wurden sie sofort von einem schwachen Geruch begrüßt, der aus dem Keller aufstieg.
»Wow«, sagte Cory, und dann lachte er.
»Was?«, erwiderte sie tonlos.
»Superweed, die Eltern-Variante«, sagte er, und sie zuckte nur mit den Schultern, als wäre es ihr egal.
Ihre Eltern rauchten einen noch stärkeren Cannabis als die Kiffer an der Macopee Highschool. Rob und Laurel Kadetsky bezogen ihr Marihuana von einem befreundeten Farmer-Ehepaar oben in Vermont. Als Kind hatte Greer ihre Eltern manchmal im Auto dorthin begleitet. Einmal hatte sie auf dem Sofa gesessen, während Farmer John Stairway to Heaven mühsam auf dem Banjo gezupft und dazu leise gesungen hatte: »Ooh, it makes me wonder …« Seine neben ihm sitzende Frau Claudette hatte Greer und ihrer Mutter derweil ihre »Noobies« genannten Babypuppen gezeigt, gebastelt aus Socken und Stoffresten, über die sie Strumpfhosen zog. Die Noobies waren zum Verkauf gedacht, und sie schauten so benebelt und benommen drein wie Leute, die sich mit Farmer Johns erstklassigem Stoff zugedröhnt hatten.
An dem Tag, als Cory das Haus betrat, war Marihuana die Titelmelodie. Es war eine Weile her, seit Greer dieser Geruch tagsüber in die Nase gestiegen war, und es ärgerte sie, dass er ihr ausgerechnet an einem Nachmittag entgegenschlug, an dem sie Cory Pinto, ihre langjährige, geheime Nemesis, mit nach Hause brachte.
»Nichts für ungut, ich finde es einfach nur lustig«, sagte Cory, der die Luft schnupperte. »Hier werde ich sicher schon durch Passivrauchen high. Ich brauche gleich Cheetos und M&M’s, also hol sie schon mal raus.«
»Halt die Klappe! Warum ist das so lustig?«
»Ach, komm schon. Deine Eltern sind Kiffer, und du bist dieses ehrgeizige, brave Mädchen. Ich finde das lustig.«
»Nette Beschreibung meiner Person. Ich fühle mich geehrt.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich sehe dich ständig mit College-Broschüren. Du bewirbst dich auch bei den Ivies, oder?« Sie nickte. »Ich glaube, wir sind die Einzigen in unserer Jahrgangsstufe«, sagte er. »Ich glaube, es sind nur wir beide.«
»Ja«, sagte sie, milder gestimmt. »Glaube ich auch.« Sie hatten eine Zielstrebigkeit gemeinsam, die man niemandem beibringen konnte; sie war neurologischer Natur. Niemand wusste, wie es kam, dass man diesen konzentrierten Ehrgeiz in sich trug. Er glich einer Fliege, die heimlich ins Haus eindrang, und da war sie dann: deine Stubenfliege.
Als Greers Mutter mit Clownskragen, aber ohne Schuhe und Perücke erschien, wirkte sie verlegen. »Oh«, sagte Laurel. »Ich wusste nicht, dass du jemanden mit nach Hause bringst. Hallo, Cory. Tja, ich muss zu einem Auftritt.« Sie öffnete die Haustür. »Dad sitzt unten an seiner Werkbank.« Rob Kadetsky werkelte manchmal im Keller herum, hörte auf einem alten Walkman Kassetten mit Achtzigerjahre-Musik und arbeitete dabei an irgendetwas, das mit Funkwellen zu tun hatte. Greer und Cory sahen Laurel nach, die in einer abgewandelten Form des Clownskostüms zum Auto ging, das sie bei ihren gelegentlichen Auftritten trug.
»Was macht deine Mutter noch mal genau?«, fragte Cory.
»Drei Mal darfst du raten.«
»Buchhaltung.«
»Ha, ha, du bist ja so witzig.«
»Na ja, ich habe sie schon mal im Kostüm gesehen«, sagte er. »Ich ahne also, worum es grundsätzlich geht, aber sie tritt ja nicht unter einer Zeltkuppel auf, oder? Elefanten, Zirkusdirektor und Akrobaten-Familie?«
»Bücherei-Clown«, sagte Greer.
»Ah.« Cory schwieg kurz. »Mir war nicht klar, dass Bücherei-Clown ein Beruf ist.«
»Ist er auch nicht wirklich, aber sie hat einen daraus gemacht. Ist auf ihrem Mist gewachsen.«
»Tja, das ist findig. Und was macht man so als Bücherei-Clown?«
»Sie tingelt als Clown verkleidet durch die Büchereien, und dort erzählt sie den Kindern vermutlich Witze und liest ihnen etwas vor oder so.«
»Ist sie lustig?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht.«
»Aber sie ist ein Clown«, sagte Cory nachdenklich. »Ich dachte, lustig zu sein wäre die Grundvoraussetzung.«
Während des gesamten Nachmittags, den sie gemeinsam im Haus verbrachten, tauchte Greers Vater kein einziges Mal aus dem Keller auf. Die beiden saßen angespannt auf dem alten karierten Sofa, und Cory spielte mit einem Feuerzeug, das Greers Eltern auf dem Couchtisch vergessen hatten, entfachte es durch einen Ruck des Daumens und hielt es an den Docht einer der Kerzen, die in kleinen Gläsern auf der Fensterbank standen und reichlich Staub angesetzt hatten. Dann drehte er die brennende Kerze um und ließ eine Wachsträne auf seinen Handrücken tropfen, wo sie sofort opak wurde.
»Irre«, sagte er.
»Du klingst high. Was ist irre?«
»Dass man heißes Wachs kurz auf der Haut erträgt. Warum erträgt man das? Erträgt man es auch, wenn einem ein Auto kurz über den Fuß fährt?«
»Weiß nicht, aber ich an deiner Stelle würde das lieber nicht im Haus ausprobieren.«
»Würde es wehtun, wenn du mir Wachs auf die Haut tropfst? So wie man sich nicht selbst kitzeln kann?«, fragte Cory. »Ob das so ähnlich ist?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Greer. »Über diese Dinge habe ich noch nie nachgedacht.«
Cory riss sein Shirt hoch und entblößte seinen langen Oberkörper. Cory und Greer waren die zwei Gehirne der Jahrgangsstufe, aber hier war er überwiegend Körper, ein Torso – echt sonderbares Wort. Eines der Wörter, die sich in nichts auflösten, wenn man sie mehrmals nacheinander murmelte: Torso Torso Torso.
Cory legte sich auf den hölzernen Couchtisch, der unter seinem Gewicht ächzte, und stellte die Füße auf den Boden. »Okay, leg los«, sagte er. »Das Wachs.«
»Du bringst den Tisch meiner Eltern zum Einsturz.«
»Na los, mach einfach.«
»Du bist ja verrückt. Ich tropfe kein Wachs auf deinen Bauch, Cory. Ich bin doch keine Domina auf einer Website.«
»Woher weißt du, dass es Dominä auf Websites gibt? Du hast dich gerade verraten.«
»Woher weißt du, dass der Plural ›Dominä‹ lautet?«
»Touché«, sagte er grinsend.
»Halt die Klappe«, sagte sie zum zweiten Mal an diesem Tag zu ihm. »Halt die Klappe«, sagten Mädchen zu Jungs, und die Jungs waren hin und weg.
»Na los, ich will nur wissen, wie es sich anfühlt«, sagte Cory. »Du bringst mich ja nicht um.«
Also senkte sie am Ende eine brennende Kerze über Cory Pintos Bauch, sah zu, wie die Flamme das Wachs schmelzen ließ, wie sich eine transparente, flüssige Perle bildete, wie die Flüssigkeit schließlich mit einem fast lautlosen Plopp auf der Haut landete. Er zog die Bauchmuskeln zusammen, bleckte die Zähne und sagte: »Scheiße!«
»Alles okay?«, fragte sie. Er nickte. Das erhärtende Wachs bildete oberhalb der Mulde seines Bauchnabels ein weißes Oval. Greer glaubte, sie wären fertig, doch er stand nicht auf, sondern bat sie, es noch einmal zu machen. Sie fragte sich nicht mehr, ob es ihm wehtat; das tat es offenbar, wenn auch nur ein bisschen. Stattdessen kam ihr der Gedanke, dass es ein absolut neues und irgendwie tolles Gefühl war, Macht über Cory Pinto zu haben, ihn zu beherrschen, keine Rücksicht zu nehmen.
Am folgenden Samstag fuhren ihre Eltern zu der Farm in Vermont, und nachmittags kam Cory vorbei, einfach so, nicht einmal unter dem Vorwand, lernen zu müssen oder über die Schule reden zu wollen. Er brachte weder Schulbücher noch Schreibhefte, weder Millimeterpapier noch Laptop mit. Greer wusste später nicht mehr so genau, wie sie von der Plauderei über die Schule zu dem übergegangen waren, was als Nächstes geschehen war. Aber nachdem sie eine Weile am Küchentisch gesessen hatten, zeigte sie ihm oben ihr Zimmer. Innerhalb von dreißig Sekunden hatte Cory ihre Sachen in Augenschein genommen – ihre Schneekugel-Sammlung, den Siegerpokal des Buchstabier-Wettbewerbs, die vielen, vielen Bücher, von Anne auf Green Gables über Anne in Avonlea bis Elie Wiesels Die Nacht –, sagte Cory: »Greer.« Und sie sagte: »Was?« Und er sagte: »Du weißt, was.« Er lächelte sie auf eine ganz neue, listige Art an, die sie halb schockierte und halb nicht, und dann umschloss er ihr Gesicht mit den Händen und küsste sie so stürmisch, dass ihre Zähne kollidierten. Als sie seine Zungenspitze spürte, hörte sie ihn aufstöhnen, ein Laut, bei dem sie ein Gefühl hatte, als würde man ihre inneren Organe mit einem Löffel umrühren. Dann wurde sie von Cory bei den Schultern zurückgeschoben, und dann lag sie, und er lag auf ihr, und ihre Herzen pochten um die Wette. Greer war in ihrer Aufregung vollkommen verwirrt.
»Ist das okay?«, fragte er, und sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Wie konnte das okay sein? Das war nicht das passende Wort. Er berührte ihre Brüste unter dem BH, und das Gefühl war so intensiv, dass beide schlagartig verstummten. Als er ihren BH öffnete und ihre Brüste küsste, glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Kann man auch im Liegen ohnmächtig werden?, fragte sie sich. Kurz darauf, nach viel Streicheln, öffnete er ihre Jeans mit einem Geräusch, laut wie ein im Kamin platzendes Holzscheit.
Dann schwebten seine Finger tantrisch im ungewissen Bereich zwischen Jeans und Slip, und er wurde sowohl unerklärlich als auch befremdlich geschwätzig. »Ich lasse dich jetzt kommen«, sagte er mit fremder Stimme. »Ich werde dafür sorgen, dass du es willst«, fuhr er fort. Dann fragte er etwas unsicher: »Willst du das?«
»Warum redest du so komisch?«, fragte sie verwirrt.
»Ich habe nur ausgedrückt, was ich fühle«, erwiderte er, wirkte aber ertappt.
Und obwohl er auch später manchmal so komisch redete, wenn sie miteinander im Bett waren, konnte sie ihn meist rasch dazu bringen, wieder er selbst zu sein. Wenngleich es weder seine noch ihre Verwirrung minderte, ganz sie selbst zu sein. Denn die Freiheit, die damit einherging, die Vorstellung, man könnte Vorlieben haben, ganz eigene Vorlieben, und dass man selbst herausfinden musste, worin diese bestanden – man selbst und der Mensch, mit dem man zusammen war –, erfüllte sie mit Entsetzen.
Als sie zum zweiten Mal miteinander schliefen, flüsterte er forsch: »Wo ist eigentlich deine Klitoris?« Aus seinem Mund klang dieses Wort, das sich ja auf einen Körperteil von Greer bezog, fast alarmierend.
»Was?«, fragte sie, denn etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie stellte sich dumm.
»Wo genau ist sie? Zeig sie mir mal.« Seine Forschheit verflog, seine Stimme klang wieder gedämpfter.
»Irgendwo da«, sagte sie und wedelte vage und verdrossen mit einer Hand. Die Wahrheit lautete, dass sie es nicht wusste. Sie war siebzehn, und sie war bis jetzt zu verklemmt gewesen, um sich mit ihrer eigenen Anatomie zu beschäftigen. Allein im Bett liegend, hatte sie Hunderte Orgasmen gehabt, konnte ihm aber nicht die Stelle zeigen, wo sie ihren Ursprung hatten.
Als Cory an jenem Abend in sein gegenüberliegendes Haus zurückkehrte, und Greer in stiller Verwunderung darüber, was sich abgespielt hatte, allein blieb, ging sie online und gab bei Google die Wörter »Klitoris« und »Lageplan« ein, damit sie endlich Bescheid wusste – und er beim nächsten Mal auch. Wenn man ein genaues Bild der eigenen Person erhalten wollte, dachte Greer Jahre später, dann musste man einfach nur schauen, was man während der letzten vierundzwanzig Stunden gegoogelt hatte. Vermutlich würde es die meisten Menschen mit Entsetzen erfüllen, sich selbst in dieser Deutlichkeit zu sehen.
Von da an waren sie unzertrennlich. Cory erzählte ihr von seinen Eltern und gestand, sich früher für ihren Akzent und ihre einfachen Jobs geschämt zu haben. Sie erzählte ihm, wie es war, ein Einzelkind zu sein und Eltern zu haben, denen man absolut gleichgültig war. »Du wirst mir nie gleichgültig sein«, sagte er, und sie begriff, dass er auf ihrer Seite stand, dass sie nicht mehr allein war. Sie wuchsen immer enger zusammen, und ihr Sex war eine Mischung aus atemberaubenden Räuschen und quälenden Patzern. Manchmal tat er ihr versehentlich weh, und manchmal wurden ihr Mund und ihre Hände zu fehlgeleiteten Kolibris. Sie probierten es immer wieder. Sie führten alberne Diskussionen darüber, ob sie zueinander passten.
»Vielleicht bist du nicht der richtige Mensch für mich«, sagte er einmal vorsichtig.
»Schön. Vielleicht solltest du mit Kristin Vells gehen«, sagte sie. »Du könntest ihr beim Lesen helfen. Ich wette, das fände sie ganz toll.«
»Wir würden ganz sicher nichts lesen, glaub mir.«
Greer wandte sich verletzt ab und umschlang sich mit ihren Armen, eine Geste, die sie in Fernsehshows und Kinofilmen gesehen hatte, wie sie begriff: das emotional fragile Mädchen, das schützend die Arme vor der Brust überkreuzte oder sogar die Pulloverärmel über seine Hände zog. Sie fragte sich, warum sie dieses schablonenhafte weibliche Verhalten so gedankenlos nachahmte. Dann dämmerte ihr, dass es ihr eigentlich ganz gut gefiel, weil sie sich so in eine lange Kette von Frauen einreihte, die sich ebenso verhalten hatten.
Manchmal bedurfte es nur einer Ablenkung, damit beide zu sich selbst zurückfanden. Dann spielten sie ein, zwei Stunden lang eines der Videospiele von Corys dreieinhalbjährigem Bruder Alby oder schickten einander Nachrichten, die mit privaten Witzen gespickt waren – erstaunlich, wie schnell sich private Witze entwickelten –, und dann fiel ihnen wieder ein, dass sie zueinander passten. »Ich weiß noch nicht, ob ich dich liebe«, sagte Greer eines Nachmittags – sie lagen schamlos im Bett, während ihre Eltern unten rumorten – warnend zu Cory. Allerdings hatte sie das nur gesagt, weil sie es doch wusste.
»Macht nichts«, erwiderte Cory nur. Beiden war jedoch bewusst, dass es sowohl Liebe als auch Verlangen war und dass diese zwei Kräfte eine starke, tragfähige Strömung bildeten.
Eine Woche später meinte Greer dann: »Weißt du noch, was ich über die Liebe gesagt habe? Kann ich das korrigieren, oder ist es zu spät?«
»Ist ja keine Antwort in einem Test.«
»Gut, okay. Dann liebe ich dich«, sagte sie leise und zögernd. »Wirklich.«
»Ich liebe dich auch«, sagte er. »Wir sind quitt.«
Da sie jetzt nachweislich verliebt und quitt waren, hatten sie nachmittags bei ihr zu Hause zum ersten Mal echten Sex. Dieser war etwas peinlich und sicher nicht perfekt – Cory biss für einen langen, angespannten Moment auf der Hülle des Kondoms herum –, aber mit der Zeit erreichten sie manchmal so etwas wie Vollkommenheit. Sie führten diese Experimente bei ihr zu Hause durch; bei den Pintos durften sie nicht einmal zusammen in sein Zimmer gehen, sondern saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa mit der Plastikschutzhülle. Stets hing ein würziger Kochgeruch in der Luft, und manchmal wanderte eine Tante herein oder hinaus.
Der größte Vorzug von Corys Haus bestand nach Greers Ansicht darin, dass Alby da war und auf ihnen herumturnte, wenn sie auf dem Sofa saßen. Alby war ein Nachkömmling in der Familie Pinto, bei seiner Geburt war Cory schon vierzehn gewesen. Seine eingedellten, leeren Saftdosen sammelten sich hinten im Wagen der Pintos, verstreut zwischen seinen Action-Figuren, die auf dem Gesicht oder auf dem Rücken lagen, mit geraden oder angewinkelten Armen, mitten im Tritt oder in einem Karateschlag erstarrt, und darauf warteten, dass er ins Auto zurückkehrte und sie wiederbelebte. Alby war wie Cory in klein, ein lustiger, altkluger Wirbelwind, bestimmt auch hochintelligent. Er liebte seinen großen Bruder, und er schien auch Greer zu lieben.
Alby hatte oft seine Dosenschildkröte dabei, die er so zärtlich hielt, als wäre sie ein neugeborenes Lamm. Vor einigen Monaten hatte sich die Schildkröte eines Tages unbemerkt auf den Hof der Pintos verirrt, lange im dürren Gras in der Sonne verharrt und dabei wie ein Stein oder ein alter juristischer Wälzer ausgesehen, staubig, braun, golden und grün. Alby hatte sie als das erkannt, was sie war, und mit den Worten »Das ist meine Schildkröte« sofort in Besitz genommen und auf den Namen Slowy getauft. »Weil sie nun mal langsam sind«, wie er seiner Familie erklärte.
Alby hatte die Schildkröte problemlos als männlich identifiziert. »Schildkrötenjungs haben rote Augen«, sagte er, weil er das in einem Naturkundebuch für Kinder gelesen hatte – er hatte mit zweieinhalb Lesen gelernt. Alby setzte die ein Kilo schwere Dosenschildkröte gern auf das Sofa und wuchtete seine eigenen neunzehn Kilo dann auf Cory, der ihn festhielt. Alby bat Greer, Videospiele mit ihm zu spielen; er war ein Experte für fortgeschrittene Koordination von Augen und Hand. Er wollte sich auch oft Bücher mit ihr anschauen – beide waren in Bücher vernarrt –, und Greer stellte fest, dass sie sich, einander abwechselnd vorlesend, bald durch ganze Serien arbeiteten. Er fand die Encyclopedia-Brown-Reihe am besten, Detektivgeschichten, die auch Greer früher geliebt hatte.
»Warum haben die Meanys ihren Sohn Bugs genannt?«, wollte Alby besorgt wissen.
»Ausgezeichnete Frage.«
»Vielleicht hat das ja auch der Autor getan, Donald J. Sobol. Bugs Meany hat schon einen schlimmen Nachnamen. Nun hat er auch noch einen schlimmen Vornamen. Das finde ich nicht fair.«
»Du fühlst sogar mit dem Grobian«, sagte sie. Alby schmiegte sich ganz fest an sie.
Menschen sind wirklich findig, dachte Greer, als sie mit Cory in dessen Bett im Wohnheim lag. Corys kleiner Bruder hatte sich an sie gedrückt und so dafür gesorgt, dass sie ihn auch liebte und nicht vergaß, wenn sie weit weg war. Sie selbst schmiegte sich an Cory und – in einem abstrakten oder metaphorischen Sinn – an die Erscheinung Faith Franks, die so unvermittelt in ihrem anbrechenden Erwachsenendasein erschienen war und ein Bedürfnis in ihr geweckt hatte. Wir machen Druck, und wir dringen vor, wagen uns auf einen geheimen Pfad. Und das tun wir voller List, dachte Greer, auch wenn wir das nie zugeben würden. Steers’ Lampe, vor der gegenüberliegenden Wand des Wohnheimzimmers stehend, brannte die ganze Nacht über.
Mitten in der College-Zeit kam der Moment, in dem bisherige Gesprächsthemen wie Seminare oder Hauptfächer, Partys oder literarischer Symbolismus dem Thema der Berufswahl wichen. Dieser Moment kam unbemerkt, aber danach drehten sich die Gespräche hauptsächlich um Jobs, und Seminare, Hauptfächer, Romane und akademische Debatten wirkten plötzlich süß und drollig und wie Schnee von gestern. Bei dem Gedanken an Jobs setzte man sich aufrecht hin und begann zu planen, versuchte, sich an Kontakte zu erinnern, die man früher einmal geknüpft hatte und nun vielleicht aktivieren konnte. Jeder dachte etwas beunruhigt über die fernere Zukunft nach, über den abstrakten Weg, der theoretisch zum Glück führen konnte, bevor er am Ende zum Tod führte.
Diejenigen mit naturwissenschaftlichen Hauptfächern erwogen, in einem Labor zu arbeiten, falls sie nicht noch Medizin studieren wollten, während jene, die in den Sieben Freien Künsten unterwegs waren, an Karrieren im Bereich der frühkindlichen Bildung oder im Verkauf dachten. Oder sie stellten sich vor, wie ein paar Bekannte, die bereits ihren Abschluss hatten, im Verlagswesen tätig zu werden, ein Dutzend Mal pro Tag heiter ins Telefon zu sagen: »Büro von Magda Stromberg, hier spricht Becca!«, obwohl sie natürlich Magda Stromberg sein wollten und nicht Becca. Einige würden auch Jobs in Bereichen suchen, die allein durch ihre Namen ein gewisses Gewicht hatten: Marketing. Wirtschaft. Finanzen.
Keiner wollte es den Ryland-Absolventen gleichtun, die vor Ort strandeten und weiter auf dem Campus herumspukten. Einer von diesen Gestrandeten, er hatte vor drei Jahren seinen Abschluss gemacht, arbeitete jetzt als Barista im Main Bean im Stadtzentrum und legte jedes Buch, das er gerade las, demonstrativ offen und mit dem Cover nach oben neben die Sirup-Spender und Kannen mit aufgeschäumter Milch, versuchte auch, den Blick eines jeden Studierenden aufzufangen, der einen Kaffee bestellte. Der Student nahm den Becher entgegen, lud sich ein Päckchen Rohrzucker nach dem anderen auf, um sich für den Aufsatz fit zu machen, an dem er bis in die Nacht sitzen würde, während sich der Barista nur noch für einen weiteren Tag hinter dem Tresen fit machen musste. Schon verrückt, dass eine Institution, die ihre Studierenden vier Jahre lang fest im Griff hatte, diese am Ende einfach losließ und für nichts mehr verantwortlich war.
Greer stellte sich inzwischen vor, Schriftstellerin zu werden. Sie malte sich aus, Essays und Artikel, irgendwann vielleicht sogar Bücher mit feministischem Schwerpunkt zu schreiben, obwohl sie anfangs sicher am späten Abend würde schreiben müssen. Sie bräuchte ein Einkommen, mit dem sie das Schreiben finanzieren konnte. Sie wollte kein Leben wie ihre Eltern führen. Aber wenn sie einen richtigen Job hätte, also nicht in Armut abrutschen würde, könnte sie versuchen, in ihrer freien Zeit zu schreiben, und vielleicht hätte sie ja ein Quäntchen Glück.
Zee war eher der Typ für eine Non-Profit-Organisation als Greer, aber auch diese konnte sich inzwischen vorstellen, eine Weile in der Kommunikationsabteilung irgendeiner guten Organisation zu arbeiten. Sie stellte sich auch vor, Faith Frank zu schreiben und ihr davon zu berichten: »Während ich überlege, was ich mit meinem Leben anfange, schreibe ich bei Planet Concerns den hausinternen Newsletter. Auch das hängt mit dem Gespräch zusammen, das wir damals in der Damentoilette geführt haben. Ich versuche, einen Sinn zu finden, wie von Ihnen nahegelegt.«
Schon bald sagte Greer ungefragt zu Cory: »Eine Non-Profit-Organisation. Das könnte für den Anfang funktionieren, denn ich würde ja abends schreiben. Oder was meinst du?«
»Klar«, antwortete er leichthin, ohne genau zu wissen, wovon er sprach; das wusste keiner von beiden.
»Chloe Shanahans Freundin arbeitet für eine Organisation, die behinderten Menschen Kunst zugänglich macht. Ihr Bruder ist blind«, ergänzte Greer und fühlte sich gedrängt, hinzuzufügen: »Aber sie hätte das vielleicht auch so getan.«
»Wohl eher nicht«, meinte Cory.
»Stimmt.«
Offenbar gab es zig Möglichkeiten, das zu finden, was man schließlich machte, und zu der Person zu werden, die man am Ende war. Das Dasein als Schriftstellerin kam ihr wie ein unerfüllbarer Traum vor, aber sie malte es sich trotzdem gern aus. Sie freundete sich immer mehr mit der Vorstellung an, einen ordentlichen, ehrbaren Job zu haben und nebenbei zu schreiben. »Bestimmt nicht im Marketing«, verkündete sie Cory. »Oder in der Mode. Bestimmt nicht«, fügte sie unaufgefordert hinzu, »als Bücherei-Clown.«
Cory hatte sich in Princeton mit zwei Kommilitonen angefreundet, die er in einem Seminar über ökonomisches Wachstum kennengelernt hatte, und nachdem sie im Rahmen des Seminars heftig über Armut diskutiert und das Gespräch danach fortgesetzt hatten, überlegten sie nun, nach dem College zu dritt eine Mikrofinanz-App zu entwickeln. Sowohl Lionel als auch Will stammten aus wohlhabenden Familien, die erwogen, in die App ihrer Söhne zu investieren. Die Vorstellung elektrisierte inzwischen alle drei, und sie sprudelten über von Plänen.
»Ich glaube, das kann wirklich klappen«, sagte Cory zu Greer. »Ist echt aufregend, muss aber richtig angepackt werden. Es gibt Leute, die ständig Begriffe wie ›Mikrofinanzierung‹ und ›Mikrokredite‹ im Mund führen, in Wahrheit aber andere Leute abzocken. Sollte es funktionieren, dann wäre das eine große Hilfe für die Inhaber kleiner Firmen. Die Zinsen sind halt oft irre hoch. Deshalb wollen wir es so einrichten, dass die Zinsen niedrig sind. Wir zocken niemanden ab. Übrigens bewerben sich viele Frauen für diese Kredite«, fügte er hinzu, und obwohl dies eine etwas aufgesetzte Würdigung des Feminismus und auch Greers war, machte es ihr nichts aus.
Greer stellte sich Cory in Hemdsärmeln in einem kleinen Büro irgendwo in Brooklyn vor, wo sein Telefon, an dem er am laufenden Band Kredite vermittelte, ständig klingelte wie eine Ladenkasse. Wenn sie das vor Augen hatte, stellte sie sich aber vor allem vor, dass er glücklich wäre. Nach einem arbeitsreichen Tag würde er dann von seinem Mikrokreditgeschäft heimkehren und sie von ihrer Non-Profit-Organisation. Sie würden über Politik und Greers Probleme beim Schreiben reden und auf der Feuerleiter Bier trinken, und von dieser Feuerleiter aus würden sie die Feuerwerke beobachten, die am Himmel über New York gelegentlich zu sehen waren und keinen konkreten Anlass hatten, von einer allgemeinen Begeisterung über die Stadt einmal abgesehen – man war jung und lebte dort und wollte sehen, wie Farben in den Himmel schossen. Am späten Abend, Cory schliefe schon, würde sie mit ihrem Laptop neben ihm im Bett sitzen und Prosa und Essays und Notizen zu Artikeln schreiben, die sie zu veröffentlichen hoffte. Sie sammelte schon jetzt Ideen in einem Notizbuch.
Sie wollten nach dem College in Brooklyn zusammenziehen und hofften, eine Möglichkeit zu finden, dies zu finanzieren; so der derzeitige Plan. Sie hätten ein kleines, einfaches Apartment. Greer sah einen Juteteppich auf dem Fußboden und stellte sich vor, seine borstige Oberfläche und ein paar Schritte weiter den kalten Boden unter den Füßen zu spüren, wenn sie abends nach dem Sex oder morgens vor der Arbeit zum Bad ginge.
»Wir können beide nicht gut kochen«, merkte Greer an. »Wenn wir zusammenwohnen, können wir aber nicht nur aus der Mikrowelle leben.«
»Das lernen wir schon noch«, meinte er. »Würdest du es denn ertragen, wenn ich Fleisch brate und die Wohnung in einen Fleisch-Palast verwandele?«
»Getrennte Pfannen und gute Entlüftung«, erwiderte sie. »Dann geht das schon.« Sie war weiter Vegetarierin und hatte nicht vor, das jemals wieder zu ändern.
Wenn Greer nicht einschlafen konnte, malte sie sich ihre Zukunft mit Cory in ebenso schillernden wie dezenten Details aus. Sie hatte vor Augen, wie sein Schuhgröße-47-Fuß hinten im Bett aufragte, stellte sich vor, dass sie endlich jeden Abend Sex hätten, und das nicht mehr in einem Kinder- oder College-Bett, sondern in einem, in dem sie beide bequem Platz fänden.
Wenn man ein junges Paar sah, das frisch zusammengezogen war, wusste man immer sofort, dass etwas Entscheidendes im Gange war. All die Liebe, all der Sex, all das Durchblättern von Katalogen auf der Jagd nach Schätzen wie Wäsche und Möbeln und hübschen Haushaltsgeräten, die extra für diese speziellen Kunden entworfen worden zu sein schienen. Die Preise waren natürlich immer etwas zu hoch, aber nein, bei genauerem Nachdenken doch nicht! Wir kriegen das hin, versicherte man einander. Wir schaffen das. Die Preise verdeutlichten, wie groß der Schritt wäre, der Kauf dieses Tisches oder jenes Stuhls oder Pürierstabs; doch im Gegensatz zu früheren Zeiten, als die Frauen ganz allein für die Einrichtung von Wohnung und Küche zuständig gewesen waren, packte man dies heutzutage gemeinsam an. Man konnte sich sogar im Bett eine Website oder einen Katalog anschauen – die fesselnde Lektüre der ersten Blütezeit des Erwachsenendaseins –, zwei warme Körper, die sich im Rausch der Fantasie aneinanderkuschelten. Wenn man sich auf Dinge aus Holz, Metall und Stoff festlegte, wurde die Liebe, sonst vage und ungreifbar, plötzlich konkret.
Bis jetzt hielten sie es noch ganz gut aus, an unterschiedlichen Colleges zu sein. Sie hatten volle Stundenpläne, und nach einer aufregenden Wahl hatten sie jetzt einen neuen Präsidenten, und sie besuchten einander am Wochenende. Greer erhaschte aber manchmal kurze und flüchtige Blicke auf Facetten von Corys Leben, die mit ihr nichts zu tun hatten, und das lag ihr schwer im Magen. So sagte er etwa: »Steers, Mackey und Clove Wilberson zwingen mich, beim Frisbee-Team mitzumachen.«
»Zwingen? Meinst du körperlich?«
»Ja. Sie verlangen, dass ich mich füge.«
Sie dachte zwangsläufig über Clove Wilberson nach, deren Name viel zu oft fiel. Greer googelte sie und entdeckte dabei ein komplettes Clove-Wilberson-Dossier, meist im Zusammenhang mit Feldhockey, ein Sport, den Clove an der St. Paul’s School betrieben hatte und dem sie auch in Princeton nachging. Ein Foto, bei einem Sprint geknipst, zeigte ein ovales Gesicht mit markanter Knochenstruktur, gerötet durch die sportliche Anstrengung. Ihr Pferdeschwanz flog durch die Luft. Sie hatte wirklich beneidenswerte Oberarme. Sie sah eindeutig besser aus als Greer, die das Foto betrachtete und sich fragte: Clove Wilberson, warst du mit meinem Freund im Bett?
Aber sie war nicht wirklich scharf auf eine Antwort. Greer und Cory hatten anfangs so getan, als wäre es eine ganz natürliche Sache, auf unterschiedliche Colleges zu gehen, obwohl sich alle Paare, die sie kannten – selbst solche, die an einem Ort waren –, nach geraumer Zeit getrennt hatten, dies als Folge einer Kette fataler Ereignisse, wie man sie aus Krimis von Agatha Christie kannte.
Vielleicht, dachte Greer, sorgte die Sehnsucht dafür, dass sie und Cory zusammenblieben. Es hatte Momente gegeben, da wäre auch sie fast untreu geworden. Auf einer Party außerhalb des Campus, im Herbst ihres ersten College-Jahres, hatte ihr Freund Kelvin Yang plötzlich ihr Haar gestreichelt. Sie hatten dagesessen und zusammen den Song Hallelujah mit seinen drei Millionen Strophen gesungen, von Dog auf der Ukulele begleitet. Sie saßen in einem dämmerigen Zimmer auf einem Teppich und intonierten den schönen, an ein Klagelied erinnernden Song, der sie an junge Liebe und all das erinnerte, was so rasch verloren gehen konnte, und neben ihr saß Kelvin, dieser große, athletische Drummer. Sie ließ ihn weiter ihr Haar streicheln, lehnte sich an ihn und nahm seinen fremden Duft mit fast klinischer Distanziertheit zur Kenntnis, entschied dann, diesen zu mögen, legte ihren Kopf am Ende sogar in seinen Schoß. Er bückte sich und gab ihr einen Kuss, mehrere Küsse auf verschiedene Stellen, wie es Eltern tun – oder auch nicht. Greer fiel ein, dass sie während ihrer Kindheit so gut wie nie einen Kuss von ihrem Vater bekommen hatte. Ob sie dadurch eine der Frauen geworden war, die sich verzweifelt nach einem Mann sehnten, als Schutzschild und Mittelpunkt ihres Daseins, die ohne Mann nicht zurechtkamen?
War es okay, dass sie Cory so sehr brauchte? Was würde Faith Frank dazu sagen? Alle schienen sich nach Liebe zu sehnen, ob sie es nun zugaben oder nicht. Das war Greer bewusst, als sie Kelvin ein paar flüchtige Küsse gestattete. Sie mochte es nicht, wenn Freunde so taten, als wäre es eine Meisterleistung, so lange zusammen zu sein. »Ihr beiden seid schon irre«, sagte Zee. »Meine Beziehungen haben nie länger als zwei Monate gehalten.«
Cory war der Einzige, den sie morgens sehen wollte, nicht diese Heerschar torkelnder Wohnheim-Insassen oder eine Person, mit der sie eine winzige Eisenbahnabteil-Bude teilen musste. Die Mitbewohner-Kultur boomte. Inzwischen konnte man auf Webseiten oder am Schwarzen Brett problemlos Leute finden, und dann zog man zusammen, markierte seine Milchtüte im Kühlschrank, und wenn der Mitbewohner etwas getan hatte, was einen nervte, schrieb man einen Zettel. Eine Freundin, die ein Jahr früher ihren Abschluss gemacht hatte, erzählte, sie habe wie versteinert dagestanden, als sie einen Zettel folgenden Wortlauts vorgefunden habe: »Schmeiß die Sushi-Boxen bitte schön noch am GLEICHEN ABEND weg. Am nächsten Tag stinkt es hier wie in einer Fischfabrik, SCHEISSE NOCH MAL.«
Die Wörtchen »bitte schön« waren tödlich. Greer und Cory würden sie niemals verwenden. Sie würden die Boxen seines Sushis mit Thunfisch und Aal und die ihrer Inside-Out-Roll mit Avocado entsorgen oder auch nicht, und wenn ihr kleines Fantasie-Apartment wie eine Fischfabrik stinken würde, dann wäre das egal. Die Liebe glich einer Fischfabrik – die Liebe mit all ihren stinkenden und finsteren Seiten. Man musste einen Menschen wirklich lieben, um mit ihm oder ihr zusammenzuleben.
»Bald«, sagte Cory, »bald«, und versuchte wie als Kind, die Zeit durch Willenskraft rascher verstreichen zu lassen. Später, wenn sie tatsächlich eine Wohnung teilen und die Details eines hautnahen Zusammenlebens in einer gemeinsamen DNA-Suppe für normal halten würden, das verwüstete Bettzeug, das Chaos der Tage und Nächte, dann, so wusste Greer, würden sie sich wünschen, die Zeit möge langsamer verstreichen. Aber nun, am College, auf dem Weg zu einem eigenen Leben, dachten beide: schneller, schneller.