Drei

Cory war als Duarte Junior auf die Welt gekommen, aber da sein Name ausländisch klang und seine Eltern Einwanderer waren, die mit Akzent sprachen, hatte er mit neun Jahren, kurz vor ihrem Fortgang aus Fall River, verkündet, Duarte Jr. gegen einen anderen Namen eintauschen zu wollen. Der Name, für den er sich entschied, war so amerikanisch wie nur irgendwas. Cory war die Hauptperson in Das Leben und ich, eine Serie, die Duarte Jr. jahrelang wie besessen verfolgt hatte. Cory war ein unglaublich beliebter und beruhigender und normaler Name. Er flehte seine Eltern an, ihn damit anzureden, doch sein Vater weigerte sich. »Ich heiße selbst Duarte«, sagte er. Corys Mutter hatte sich auch gesträubt, dann aber aus Liebe nachgegeben.

»Ist dir das wichtig?«, fragte sie, und als er nickte, meinte sie: »Na gut.«

Sein neuer Name war noch nicht lange etabliert, da dämmerte ihm, wie peinlich es war, sich nach einer Figur aus einer Sitcom benannt zu haben. Aber Duarte Jr. wäre nun für immer Cory, ein amerikanischer Junge wie alle anderen amerikanischen Jungen an der Schule. Und er passte gut nach Macopee – denn er war offen, pfiffig und ungewöhnlich groß. In Fall River hatte es einen relativ großen portugiesischen Bevölkerungsanteil gegeben. Das war hier anders. Als Duarte Senior und Benedita in Macopee die Forschungsausstellung besuchten, stand Corys Mutter vor einem Experiment, das mit Kondensation zu tun hatte, und fragte laut und unbefangen: »Was macht das Ding da?«

Am nächsten Tag bekam Cory mit, wie der Kondensations-Schüler mit künstlichem Akzent zu jemandem sagte: »Was macht das Ding da?«, und damit johlendes Gelächter erntete.

Cory schämte sich in Grund und Boden. Er schämte sich und wand sich innerlich, ging aber mit wütender Entschlossenheit darüber hinweg, lenkte die Aufmerksamkeit von seinen Eltern ab, indem er klug und stark und witzig und findig blieb. Diese fast verbissen demonstrierten Eigenschaften verhinderten, dass man ihn als anders wahrnahm. Er hatte erst das Gefühl, sich nicht mehr beweisen zu müssen, wenn er nach der Schule wieder zu Hause war, die Riemen seines Rucksacks abstreifte und diesen vorn im Flur auf den Boden fallen ließ. Er wusste, zu Hause konnte er ganz er selbst sein, das wurde begrüßt.

Seine Mutter hatte ihn von Geburt an nicht nur geliebt, sondern geradezu vergöttert und sich im Gegensatz zu seinem Vater niemals beherrscht, sondern ihren Sohn von Kopf bis Fuß mit Küssen bedeckt, als würde sie Rosenblätter auf ihn herabregnen lassen. Cory glaubte allmählich, diese Zärtlichkeiten verdient zu haben, ging irgendwann davon aus, ein Mädchen werde ihn später genauso lieben. Davon war er während seiner gesamten Kindheit, ja bis in jene Phase überzeugt, in der er so mager und so lang war, dass er einer handgeschnitzten Marionette glich. Die Gewissheit verflog selbst dann nicht, als sich auf seiner Oberlippe ein Bartflaum wie Schimmel ausbreitete, obwohl er in jeder anderen Hinsicht kindlich blieb, die Brust konkav. Statt einer Marionette war er nun ein mythisches Mischwesen, nichts Halbes und nichts Ganzes. Nur dass er nicht halb Mensch und halb Pferd war, sondern halb Junge und halb Mann, in einem quälenden Zwischenstadium festsaß.

Trotzdem behielt er seine Gewissheiten, denn er war von seinen Eltern immer nur gelobt und als Genie Nummer eins oder Génio Um gepriesen worden. Sein Bruder Alby war das Genie Nummer zwei oder Génio Dois. Beide Jungen waren auf die gleiche Art gesalbt worden und mussten eigentlich nur weiter brillant und fleißig sein. Sie wurden nie angehalten, im Haushalt zu helfen; das war Frauensache. Sie mussten einfach nur büffeln und sich akademisch beweisen, und am Ende würde sich die Belohnung von selbst einstellen.

An Weihnachten besuchten sie immer Verwandte in Fall River. Einmal, Cory war in der siebten Klasse, wurde er von seinem Cousin Sabio Pereira, genannt Sab, der im Kindesalter sein bester Freund gewesen war, nach oben in dessen Zimmer gebeten. Dort angelte Sab voller Stolz eine Zeitschrift namens Beaverama aus den Abgründen seines Kleiderschranks. »Woher hast du die?«, fragte Cory schockiert, aber Sab zuckte nur mit den Schultern und ergötzte sich an seinem geheimen Hardcoreporno-Schatz. Die Frauen auf den Fotos waren zu allem bereit und sowohl im übertragenen als auch im konkreten Sinn offen.

»Die da ficke ich bis zur Besinnungslosigkeit«, erklärte Cousin Sab fröhlich, während sie im Schneidersitz auf dem Bett saßen, die Zeitschrift zwischen sich wie ein kleines, wärmendes Lagerfeuer. »Ich spritze in ihr Gesicht ab, ehrlich. Sie wird mich anflehen, es immer wieder zu tun. Sie wird nicht mehr leben können, ohne dass ich es ihr besorge.«

»Du bist dreizehn«, glaubte Cory anmerken zu müssen.

Wenn Corys Familie zu Besuch kam, schauten sich die Jungen jedes Mal Sabs Porno-Karussell an, und mit der Zeit waren die Bilder weniger neu und schockierend. Sie glotzten die Fotos an, studierten sie gründlich, denn vielleicht konnten sie für die Zukunft etwas daraus lernen. Einmal gab es eine Foto-Story mit dem Titel Sie ist heiß auf dich – du wirst brutzeln!, in der ein Mädchen heißes Wachs auf den nackten Oberkörper eines Mannes tropfte. Bei anderen Gelegenheiten lasen Cory und Sab die zwischen die Fotos gestreuten spärlichen Texte. Hard Harry, Autor der Ratgeber-Kolumne in Beaverama, schrieb:

Ihr müsst lernen, ihre Klitoris rasch zu finden. Bittet sie, euch zu zeigen, wo sie ist – das wird sie mögen! Jungs, wenn ihr sie zum Orgasmus bringt, wird sie sooooo dankbar sein, dass sie alles für euch tut. Und ich meine alles. Ohne Übertreibung, ehrlich!!

»Weißt du, was ›alles‹ heißt?«, wollte Cory von Sab wissen. Sein Cousin zuckte mit den Schultern. Was dies betraf, hatten beide noch so wenig Fantasie, dass sie nicht mal ansatzweise ahnten, was ein Mädchen alles für sie tun konnte, über welche Fähigkeiten es verfügte, welche seiner Urgewalten es entfesseln und auf den nackten männlichen Körper loslassen würde. Als beide begannen, ihren täglichen Porno-Bedarf im Internet zu stillen, lernten sie aber dazu. In diesen Filmen brüllten die Männer, und die Frauen brüllten auch. »Ich lasse dich kommen!«, schrien die Männer. »Ja, ja!«, schrien die Frauen. »Jetzt, sofort!«

Die Mitschülerinnen, die Cory kannte, besaßen keine dieser Fähigkeiten. Dafür konnten sie über den Schwebebalken balancieren und mit Lichtgeschwindigkeit SMS tippen. Im Laufe der Zeit ging er mit einigen aus, küsste sie ungestüm und fasste sie auch an, und später ging er bei zwei Mädchen etwas weiter und probierte die Sprache aus, die er während des jahrelangen, beflissenen Porno-Studiums gelernt hatte.

Im letzten Jahr an der Highschool spielten viele Jungen seines Jahrgangs ein Spiel namens Bewerte sie. Cory, inzwischen im Vollbesitz seines guten Aussehens wie auch seines Körpers, der nicht mehr den Anschein erweckte, in irgendeinem schäbigen Laden geliehen worden zu sein, ging durch den Flur, als Justin Kotlin ihn am Arm packte und fragte: »Machst du mit, Pinto? ›Bewerte sie‹-Zeit.«

Als Cory sich umdrehte, sah er mehrere Jungen an der Wand lehnen. Jedes Mal, wenn sich ein Mädchen näherte, steckten sie die Köpfe zusammen und vergaben eine Note, und dann addierte Brandon Monahan die Zahlen mit seinem Texas-Instruments-Taschenrechner und errechnete den Durchschnitt, der hastig auf einem Zettel notiert und allen vor die Nase gehalten wurde. Kristin Vells erhielt die Note 8 (ihr wurden ein paar Punkte abgezogen, weil sie eine Schlampe war), und die super religiöse Jessica Robbins, stets im schlichten Pullover und mit langem Rock und schwarzen Schnallenschuhen wie das Eheweib eines Pilgervaters, erhielt die Note 2.

»Klar, wieso nicht?«, meinte Cory. Dann sah er Greer Kadetsky in der Ferne, sie schlenderte in ihre Richtung. Er hatte seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen, obwohl sie noch zusammen in den Hochbegabten-Kursen saßen, hatte sie aber gelegentlich gesehen, denn sie jobbte nach der Schule in der Mall in Skatefest, wo die Angestellten grässliche Klamotten und entsprechende Mützen trugen. Eines prüfenden Blickes hatte er sie aber noch nie gewürdigt. Und das tat er jetzt. Sie hatte ein hübsches, wenn auch nicht ganz makelloses Gesicht und eine eisblaue Strähne im braunen Haar, trug eine schwarze Jeans und ein Aéropostale-T-Shirt, das sich über ihre relativ kleinen Brüste spannte. Trotzdem begriff er nach all den Jahren zum ersten Mal, dass Greer nicht nur still und verbissen fleißig, sondern auch knackig und reif, ernst und besonders, ja vielleicht sogar ein klein wenig hübsch war. Nach all der Zeit haute ihn diese Erkenntnis fast aus den Socken.

Neben ihm beugten sich die Jungen über den Taschenrechner wie Angestellte von H&R Block während der heißen Phase der Steuererklärungen, und dann erschien eine Zahl, die schwungvoll auf einen Zettel geschrieben wurde: »6«.

Greer Kadetsky erhielt die Note 6. Nein, nein, das war total falsch, dachte Cory, das war viel zu wenig, und selbst wenn es zuträfe, würde ihr diese Note ein mieses Gefühl geben. Er riss Nick Fuchs, der gern »Nick Fucks« genannt wurde, wenn er nicht gerade »Nick Kotzt« hieß, ohne nachzudenken den Zettel aus der Hand.

»Was soll das, Pinto?«, fragte Fuchs, als Cory den Zettel umdrehte und die 6 dadurch in eine 9 verwandelte.

Cory hatte Greer soeben vor einer öffentlichen Demütigung bewahrt, aber sie schaute nicht mal hin. Dreh dich um, Greer Kadetsky, hätte er gern gesagt. Dreh dich um, damit du siehst, was ich für dich getan habe.

Doch sie kehrte der Horde von Jungen den schmalen Rücken zu, und dann ertönte die Klingel, und alle zerstreuten sich. Cory zerknüllte den Zettel und wollte davongehen, doch Nick Fuchs stellte ihm ein Bein. »Scheißhaufen«, flüsterte Nick, als Cory zu Boden ging und sich die Wange an einem Metallstück aufriss, das an der kaputten Kante eines Schrankes vorstand. Ein Hautfetzen hing an seiner Wange, und er wusste, dass die nahe Zukunft eine Krankenschwester und Neosporin für ihn bereithielt. Aber es tat nicht sehr weh, und er konnte sowieso nur daran denken, Greers Ehre gerettet zu haben und auch noch um ihretwillen verletzt worden zu sein, ohne dass sie etwas davon ahnte. Nachmittags setzte er sich im Bus direkt hinter sie und studierte ihren Hinterkopf, wobei seine Wunde leise pochte. Er stellte fest, dass ihr Kopf sehr schön geformt war. Es war ganz sicher nicht der Kopf einer 6.

Greer hatte mit den Frauen in Beaverama und auf all den Webseiten nichts gemeinsam, außer dass sich unter ihren stinknormalen Highschool-Klamotten ein hübscher Körper verbarg, der wie alle Mädchenkörper viele Öffnungen hatte. Konzentrierte man sich ernsthaft auf die Vorstellung, dass Mädchen Öffnungen unter den Klamotten hatten, dann konnte man schon leicht psychotisch werden. Denn Öffnungen zeichneten sich durch eine Leere aus, die gefüllt werden musste, und das natürlich von einem selbst. Er hatte eine 6 in eine 9 verwandelt; zusammen die sexuell konnotierte 69. Der bloße Gedanke war ihm peinlich, aber gleich darauf hatte er das Bild zweier Köpfe vor Augen, die auf einem Bett auf und ab hüpften wie ein Duo von Bojen.

Seine bewusst und gezielt herbeigeführte Sexualisierung Greer Kadetskys intensivierte sich täglich. Schon drei Wochen nachdem Greer Kadetsky benotet und Cory heimtückisch zu Fall gebracht worden war, mit der Folge eines Schnitts in seiner Wange, beschloss er, dass es an der Zeit sei, mit diesem Mädchen, über das er ständig intensiv nachdachte, Kontakt aufzunehmen. Und eines Nachmittags, sie waren gerade aus dem Bus gestiegen, sprach er sie an, ließ irgendeinen Quatsch über den angeblich »unfairen« Physiktest bei Vandenburg vom Stapel. Danach begleitete er Greer ganz selbstverständlich bis zu ihrem Haus, und dort begann alles.

Sein Cousin Sab witterte die Veränderung auf Anhieb, denn bei den letzten Besuchen der Pintos in Fall River hatte Cory die Einladung, Pornos mit ihm zu gucken, jedes Mal abgelehnt. »Ach, komm schon, sei keine Muschi. Schau dir lieber welche an«, sagte Sab. Aber Cory hatte keine Lust mehr, und Sab nannte ihn »eine Schwuchtel«. Sab hatte sich auch verändert, war fies und zornig geworden und stellte mit seinen Kumpels wer weiß was an. Harte Drogen. Üble Sachen. Wenn sie sich begegneten, herrschte tiefes, eisiges Schweigen. Aber Cory wäre bald weit von seinem Cousin entfernt; er verließ ihn, und er verließ auch seine Familie.

»Wenn ihr beide am College seid, besuche ich euch«, sagte der inzwischen vierjährige Alby eines Nachmittags, als sie zu dritt im Wohnzimmer der Pintos saßen. »Ich bringe meinen Superhelden-Schlafsack mit und rolle ihn auf dem Fußboden eures Zimmers aus.«

»Und wen von uns beiden würdest du besuchen, Alby?«, fragte Cory, eine Hand in Greers Haaren und träge ihren Kopf streichelnd. »Außerdem müssten Greer und ich an demselben College sein, was wir sehr hoffen. Vorzugsweise an einem der besten«, fügte er mit lässiger Arroganz hinzu.

»Zuerst besuche ich Greer, danach dich«, sagte Alby. »Und eines Tages könnt ihr mich am College besuchen.«

»Dann kann ich in meinem Superhelden-Schlafsack pennen«, meinte Cory.

»Nein«, sagte Alby ernsthaft. »Das wäre Unsinn. Wenn ich am College bin, bist du … zweiunddreißig. Dann willst du keinen Schlafsack. Dann willst du ein Bett für dich und deine Frau.«

»Ja, Cory«, sagte Greer. »Dann willst du ein Bett für dich und deine Frau.«

»Greer könnte deine Frau sein«, sagte Alby. »Aber dann müsste sie auch katholisch sein, also konvertieren.«

»Was weißt du denn über das Konvertieren?«, fragte Cory.

»Ich habe davon gelesen.«

»Und wo? Im Kleinen goldenen Buch des Konvertierens? Du machst mir Angst, Alby. Schalt mal einen Gang runter, Bruder. Du musst nicht schon jetzt alles wissen.«

»Doch, muss ich. Stell mir eine Frage, und ich beantworte sie.«

»Okay«, sagte Cory. »Wann sind die Dinosaurier ausgestorben?«

Alby schlug sich gegen die Stirn. »Das ist zu einfach«, sagte er. »Vor fünfundsechzig Millionen Jahren.«

»Wege der Fantasie wird ein Spaziergang für ihn sein«, sagte Greer. »Er wird es in null Komma nichts durchhaben.«

»Ja, er wird Taryn, dem Recycling-Mädchen, so richtig in den Arsch treten.«

»Wenn er zur Schule geht«, sagte Greer, »wird Taryn, das Recycling-Mädchen, auf der Veranda sitzen und daran denken, wie es als Kind ins Guinness-Buch der Rekorde kam, denn das war das Highlight seines Lebens.«

»Ach, dann ist Taryn bestimmt längst tot«, sagte Cory. »Durch die giftigen Chemikalien in den zig Flaschen, die sie damals gesammelt hat, hat sie Krebs bekommen, und daran ist sie dann gestorben.«

»Wer stirbt? Stellt mir noch eine Frage«, sagte Alby aufgeregt, wenn auch etwas selbstgefällig.

Cory dachte nach. »Okay, ich habe eine Idee«, sagte er und lächelte Greer an. »Wie definiert man Liebe?«

Alby stellte sich auf die Plastikhülle des Sofas, die unter seinen Füßen knirschte. Er trug ein altes, dünnes, rotes Power-Rangers-Sweatshirt, das noch von Cory stammte. Es war ihm schon zu klein, Bild und Schrift waren halb abgeblättert und reichlich kryptisch. »Liebe ist, wenn man sich fühlt wie ›Oh, oh, mein Herz tut weh‹«, sagte Alby. »Oder wie das Gefühl, den Kopf eines Hundes streicheln zu müssen, dem man begegnet.« Er sah Greer an. »So wie Cory gerade deinen Kopf streichelt.« Cory hielt mitten in der Bewegung inne, ließ seine Hand in ihrem Haar erstarren.

»Wow«, sagte Cory leise und zog die Hand zurück. »Du bist ja ein echter Dalai Lama, Mann. Ich habe fast Angst, dich draußen rumlaufen zu lassen, denn vielleicht wirst du in ein fremdes Land verschleppt und in einen Palast gesperrt.«

»Das wäre super«, meinte Alby. »Das können die Leute gern machen.«

Greer legte Alby plötzlich eine Hand auf den kleinen, schmalen Kopf. Cory sah zu, wie seine Freundin den Schopf seines Bruders streichelte, als wäre dieser ein Cockerspaniel mit glattem Fell und riesengroßen Augen.

Cory und Greer wollten möglichst auf dasselbe College gehen; das hatten sie vereinbart, und sie waren zuversichtlich. An dem Frühlingstag, als die Entscheidungen über die Platzvergabe gegen siebzehn Uhr online bekannt gegeben werden sollten, sprachen sie während der Heimfahrt im Bus kaum ein Wort. Die hydraulischen Türen des Schulbusses ihres Bezirks glitten auf und entließen sie vorn in der Woburn Road mit einem hohlen Ploppen. Kristin Vells folgte ihnen mit großem Abstand. Kristin hatte keine akademischen Ambitionen, und darum hatten sie während all der Jahre nie mit ihr gesprochen; sie hielten Kristin für dumm, und Kristin hielt sie für dumm, da hatte jeder eine eigene Sichtweise. Kristin kehrte nach Hause zurück, vermutlich um zu rauchen und ein Nickerchen zu machen, und Cory und Greer stürmten auf der Woburn zu den Kadetskys. Es war erst halb vier. Sie hingen eine Weile ungestört in Greers Schlafzimmer herum.

»Egal, was heute geschieht, wir bleiben uns treu, oder?«, fragte Cory. »Und genauso im nächsten Jahr.«

»Na klar.« Sie schwieg kurz. »Wieso? Was erwartest du?«

Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ist nur so, dass wir den Leuten in den Zulassungsgremien unbekannt sind. Sie wissen nicht, wie wir ticken. Oder dass wir zur Höchstform auflaufen, wenn wir zusammen sind.«

Sie hatten beschlossen, zuerst ihre Zulassungsergebnisse und danach seine anzuschauen. Um siebzehn Uhr machte Greer den Anfang und checkte, am Küchentisch sitzend, in alphabetischer Reihenfolge alle betreffenden Webseiten. Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihr Passwort eingab und wartete. »Wir haben eine Rekordzahl von Bewerbungen erhalten …«, begann die Flut von Worten. Der Schock der Ablehnung war groß: Harvard, nein. Princeton, nein.

»Oh, Scheiße, oh, Scheiße«, sagte Greer, und Cory ergriff ihre Hand.

»Der Wettbewerb ist mörderisch«, murmelte er. »Aber ehrlich, Greer, scheiß drauf. Diese Leute haben einfach keine Ahnung.«

»Hast du das gemeint, als du gefragt hast, ob wir uns treu bleiben?«, fragte Greer mit anschwellender Stimme. »Du hast erwartet, dass ich keinen Platz bekomme, und wolltest mich im Vorfeld beruhigen.«

»Quatsch, natürlich nicht.«

Die Entscheidungen Yales, alphabetisch das letzte College, standen noch aus, aber inzwischen hatte Cory Mitleid mit Greer und bangte um sich selbst, setzte auch wenig Hoffnung auf Yale, nachdem es bei den anderen Unis nicht geklappt hatte. Greer klickte gleichgültig auf den Link zu Yale und gab ihr Passwort ein, und als plötzlich die Musik ertönte, das Kampflied von Yale – »Bulldog! Bulldog! Bow wow wow!« –, schrien beide auf, und Greer begann zu weinen, und Cory schloss sie mit tiefer Erleichterung in die Arme und sagte: »Gute Arbeit, Weltraum-Kadetsky.«

In diesem Moment schlenderten ihre Eltern herein. Ihr Vater wollte einen Happen essen, und ihre Mutter drückte sich das Klapphandy aufs Ohr und diskutierte über eine neue Lieferung von ComSell-Eiweißriegeln, »die wir jetzt auch als Bananen-Bombe haben«, wie sie sagte.

»Was ist denn los?«, fragte Rob, und Greer erzählte es ihm, und er sagte: »Oh, Scheiße, schon siebzehn Uhr? Wir haben die Zeit vergessen.«

Cory hätte am liebsten erwidert: Die Zeit vergessen? Wollt ihr mich verarschen? Kapiert ihr denn nicht, was für eine Tochter ihr habt? Begreift ihr nicht, wie hart und mit wie viel Freude sie arbeitet? Warum seid ihr nicht stolzer auf sie? Warum wisst ihr sie nicht zu würdigen? Das wäre doch ganz einfach.

»Mom! Dad! Ich wurde in Yale angenommen«, sagte Greer. »Ihr könnt den Brief lesen. Ist noch auf dem Computer.«

Danach rannten beide über die Straße und die Steigung hinauf, und Cory spürte sofort, dass bei ihm zu Hause etwas nicht stimmte. Seine Eltern wussten, dass dies der Tag war, an dem die Entscheidung fiel. Sie hatten so großen Anteil daran genommen, aber wo steckten sie? Sie verhielten sich fast so unbeteiligt wie die Kadetskys. Sie hätten ihn schon in der Tür empfangen müssen, fand er. Doch im nächsten Moment tauchte seine Mutter wie aus dem Nichts auf und umschlang ihn stürmisch mit den Armen. »Sie hat meine Beine umarmt«, behauptete er später leicht übertrieben. Verrückt, dass eine so kleine Frau diese magere, hochgewachsene Bohnenstange zur Welt gebracht hatte, und Corys Vater war auch nur durchschnittlich groß und kräftig. Ihr erster Sohn überragte sie in jeder Hinsicht.

»Was habt ihr denn?«, fragte Cory, und da wurden im Haus weitere Stimmen laut. Er hörte seinen Bruder rufen: »Er ist da!«, gefolgt vom Poltern seiner Sneakers, als er oben durch den Flur rannte und dann mit Slowy in der Hand die Treppe hinuntersprang, genau in dem Moment unten anlangte, als Tante Maria die Küchentür aufdrückte, in den Händen eine große Aluminiumform mit einer Schichttorte. Corys Vater folgte ihr mit einer zweiten Torte. Cory war verwirrt. Die erste Torte hatte einen dicken weiß-blauen Zuckerguss, in dem brennende Kerzen steckten. Im Zimmer roch es wie an einem Geburtstag.

»Schau dir das Bild an«, sagte seine Tante, und zuerst kapierten weder Cory noch Greer, warum die Torte mit dem Bild eines Tieres verziert war.

»Eine Kuh?«, fragte Cory. »Wieso das?« Das Tier sah aus wie eine Comic-Kuh, wenn auch eine mit geschecktem Gesicht und grimmiger Miene. Als niemand antwortete, sagte Cory: »Passt auf, Leute. Ihr wisst doch, dass die Entscheidungen genau in dieser Minute bekannt gegeben werden, oder? Die Torten sind super, aber ich muss jetzt wirklich mal nachschauen.«

»Cory«, sagte Alby und schwenkte die Hand mit der Schildkröte, die halbherzig dagegen protestierte, indem sie mit einem Beinchen wedelte. »Kapierst du denn nicht?«

»Nein.«

»Das ist eine Bulldogge.«

Nachdem Cory zögernd gefragt hatte: »Yale?«, präsentierte ihm sein Vater die zweite Torte. Dieser Zuckerguss war weiß und orange, mit einem großen rostroten Tier darauf. Obwohl auch dieses einem Nutztier glich, begriffen sowohl Cory als auch Greer, dass es der Tiger von Princeton sein sollte.

»Beide Unis haben dich angenommen. Erfolg auf ganzer Linie!«, sagte Alby, als würde er tatsächlich verstehen, was das hieß.

Cory starrte seine Familie an. »Aber wie könnt ihr das schon wissen? Ich habe mich ja noch nicht mal eingeloggt.«

»Verzeih mir«, sagte Benedita. »Ich gebe dein Log-in ein und dann dein Passwort. Ich kenne beides.«

»Greer123«, sagte Alby, und als Cory den Kopf wandte, sah er Greers erfreute Miene. Er hätte stinksauer sein müssen, weil seine Mutter ihm die Spannung geraubt hatte, aber er war nicht sauer. Außerdem war sie gerade so glücklich; ebenso sein Vater. Die Neuigkeit würde noch heute Abend in Fall River, ja in ganz Portugal die Runde machen. »Harvard hat dich abgelehnt«, fuhr Alby unbekümmert fort. »Aber wer braucht den Laden schon?«

Die karmesinrote Torte, für den Fall der Fälle gebacken, stand noch in der Küche und würde später im Müll landen. Benedita hatte den ganzen Tag über zusammen mit Tante Maria gebacken, deren Sohn Sab auf kein College gehen würde. Cory und Alby galten unter den Cousins seit Langem als Universitäts-Kandidaten. Cory hatte sich nun in dieser Hinsicht bewiesen, und Alby würde sicher in seine Fußstapfen treten und seinen großen Bruder wahrscheinlich noch übertrumpfen. Alby war noch ein Kleinkind gewesen, als sie entdeckt hatten, dass er lesen konnte. Damals hatte er während des morgendlichen Rummels in der Küche am Frühstückstisch gesessen und, eine Schachtel Fruity Pebbles betrachtend, leise gemurmelt: »Rot 40, Gelb 6, BHA zur Konservierung des Geschmacks.«

Nun musste sich Cory zwischen Yale und Princeton entscheiden. Bulldogge oder Tiger – was für eine Wahl. Ginge er nach Yale, dann wäre er bei Greer. Die Entscheidung fiel also leicht. Er würde nach Yale gehen. Greer und Cory saßen in der Küche und futterten Torten in unterschiedlichen Farben, aber mit dem gleichen Geschmack. Niemand aß eine Schichttorte wegen des Geschmacks, sondern nur, weil es etwas zu feiern gab. »Greer wurde auch in Yale angenommen«, erzählte Cory seiner Familie, die höflichen Beifall spendete.

»Volles Stipendium?«, fragte Alby.

»Ich habe noch nicht nachgeschaut. Ich war zu aufgeregt.« Greer erhob sich vom Tisch. »Ich muss nach Hause, um das zu checken.«

»Ich komme mit«, sagte Cory.

Im Haus der Kadetskys angelangt, fanden sie Greers Eltern am Computer vor. »Scheiße«, sagte ihr Vater, als sie hereinkamen. »Das wird nicht funktionieren.«

»Wie meinst du das?«, fragte Greer.

»Die Fördergelder.« Er seufzte tief und schüttelte den Kopf.

Plötzlich begriff Cory. Ihm wurde flau im Magen, als er verstand, was los war.

»Was?«, sagte Greer, die noch nichts kapierte.

»Wir können das nicht wuppen«, sagte Rob. »Sie waren in unserem Fall extrem knauserig, Greer.«

»Aber warum denn?«, fragte sie und studierte gemeinsam mit Cory den Absatz zur »Förderstufe«. Darunter hieß es: »Da Ihre Angaben und Unterlagen leider unvollständig waren …« Im Folgenden wurde entschuldigend mitgeteilt, dass Yale nur so und so viel anbieten könne, nicht mehr. Die angebotene Summe hatte rein symbolischen Wert. Offenbar hatte Rob die Antragsformulare für die Fördergelder nicht richtig ausgefüllt, obwohl er diese Aufgabe freiwillig übernommen hatte. Er hatte Punkte ausgelassen, die entweder zu kompliziert oder zu privat gewesen waren. Rob erklärte dies jetzt ruhig, aber stockend.

»Tut mir ehrlich leid, Greer«, sagte er. »Mit dieser Folge hatte ich nicht gerechnet.«

»Damit hast du nicht gerechnet?«

»Ich dachte, sie würden sich noch mal melden – die Leute, die über die Fördergelder entscheiden – und um zusätzliche Informationen bitten. Ich habe ausgefüllt, was ich konnte, aber irgendwann wurde es mir zu viel, und außerdem war ich genervt, weil sie alles Mögliche wissen wollten. Zum Teil kannte ich die Antworten nicht, zum Teil hätte ich erst mal nachschauen müssen, und ich fürchte, ich habe nur die halbe Arbeit gemacht.« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Wie immer«, sagte er dann. »So ist es immer bei mir.«

Laurel griff nach einem Schreiben, das auf dem Tisch lag. »Aber da ist noch etwas. Noch ein Studienplatz. Ich habe gerade die Post reingeholt. Ryland«, sagte sie.

»Was?«

»Du hast einen Platz! Man bietet dir eine wirklich tolle Förderung. Zimmer, Verpflegung, sogar Taschengeld. Ich habe den Brief geöffnet, weil ich befürchtet habe, du könntest dich wegen Yale aufregen. Damit ist das Problem gelöst.«

»Oh, klar – Ryland«, meinte Greer sarkastisch. »Mein Notfall-College. An dem ich mich auf Drängen des Studienberaters beworben habe. Ein College für Idioten.«

»Das stimmt nicht. Willst du das Schreiben denn nicht lesen? Dir wurde das sogenannte Ryland-Stipendium für akademische Exzellenz zuerkannt. Das hat nichts mit dem Einkommen zu tun, sondern ist rein leistungsbezogen.«

»Ist mir scheißegal.«

»Ich weiß, dass du wütend bist«, meinte Laurel. »Dad hat die Sache verbockt«, fügte sie hinzu und warf Rob einen scharfen, zornigen Blick zu. Danach verkrampfte sich ihre Miene, und sie begann zu weinen.

»Laurel – ich dachte, man würde mich auffordern, Informationen nachzureichen«, wiederholte Rob, und er stand auf und stellte sich neben seine Frau, begann auch zu weinen. Greers Eltern, diese glücklosen, etwas struppig aussehenden Menschen, lagen sich weinend in den Armen, während Greer, die Hände zu Fäusten geballt, mit Cory am Tisch saß. Cory dachte daran, dass man von den Eltern auf die Welt gebracht wurde und sich eng an sie halten oder wenigstens in ihrer Nähe bleiben sollte, bis man sich schließlich verabschiedete. Dies war der Moment, in dem sich Greer verabschiedete. Er erlebte mit, wie es geschah. Er griff nach ihren Händen, öffnete ihre Fäuste. Sie entspannte sich und verschränkte ihre Finger mit den seinen. Seine Eltern hatten die Anträge auf Fördermittel korrekt ausgefüllt, eingeschüchtert durch Cory, der sie herumkommandiert, ihnen jeden einzelnen Eintrag vorgegeben hatte. Seine Eltern waren ahnungslos, hatten aber das Richtige getan, Greers Eltern dagegen nicht, obwohl sie es besser hätten wissen müssen.

»Überleg doch mal«, fuhr Laurel schließlich fort. »Wir müssen jetzt nach vorn schauen. Und das Ryland-Stipendium ist doch wirklich großartig. Du wirst deinen Weg schon gehen. Und Cory genauso. Ihr seid beide so unglaublich klug. Wisst ihr, wie ich euch beide sehe? Als Zwillings-Raketen.«

Greer reagierte nicht darauf. Sie sah Cory an und sagte: »Vielleicht kann ich in Yale anrufen.« Also ging sie mit ihm auf ihr Zimmer, um genau das zu tun. Zuerst landete sie in einer Warteschleife, aber dann meldete sich eine gehetzt klingende Frau. Greer rasselte ihre tragische Geschichte in einem Rutsch herunter, während Cory neben ihr auf dem Bett saß. Obwohl die Sache so wichtig war, sprach Greer leise und nuschelnd. Das hatte er nie verstanden. Er hatte natürlich seine Fehler – war manchmal polterig oder auch herablassend –, konnte aber furchtlos den Mund aufmachen und mit fester Stimme sprechen. »Ich … die Formulare waren nicht wirklich … und mein Dad meint …«, hörte er Greer murmeln. Er hätte ihr am liebsten gesagt: Bring es auf den Punkt! Sag es geradeheraus, Mädchen!

»Tut mir leid«, ging die Frau schließlich dazwischen. »Aber die Entscheidungen über die Höhe der Fördermittel wurden schon getroffen.«

»Okay, ich verstehe«, sagte Greer hastig, und dann legte sie auf. »Vielleicht können meine Eltern anrufen«, sagte sie zu Cory.

»Dann frag sie«, erwiderte er. »Mach ihnen klar, wie wichtig dir das ist. Sprich mit fester Stimme, um ihnen zu verdeutlichen, dass es dir ernst ist.«

Also gingen sie wieder nach unten, und sie bat ihre Eltern: »Könnte einer von euch für mich in Yale anrufen?«

Ihre Mutter schaute sie nur ängstlich an. »Das fällt in den Zuständigkeitsbereich deines Vaters«, antwortete sie. »Ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte.«

»Hast du nicht gerade angerufen? Was hat man dir gesagt?«, fragte Rob.

»Dass die Entscheidungen schon getroffen wurden. Aber du könntest es versuchen«, sagte Greer. »Du bist ein Elternteil. Das wäre vielleicht etwas anderes.«

»Ich kann das nicht«, meinte er. »Diese ganze Bürokratie, das ist nichts für mich.« Er sah Greer hilflos an. »Ich kann das nicht gut, ist einfach so«, ergänzte er. Und wiederholte dann, um es noch einmal zu unterstreichen: »Ich kann das nicht.«

Cory begriff zu seinem Erstaunen, dass Rob und Laurel ihrer Tochter tatsächlich nicht beistehen wollten. Er wurde Zeuge einer Szene, die für Greers gesamte Kindheit stand, und das weckte sowohl eine unbändige Wut in ihm als auch den Wunsch, sie zu beschützen und noch tiefer zu lieben.

Greer akzeptierte das volle Stipendium in Ryland, und Cory entschied sich für Princeton; wäre er nach Yale gegangen, dann wäre das für Greer eine ständige schmerzhafte Erinnerung gewesen. Ihre Wege trennten sich jetzt rasant – der Abschied betraf nicht nur sie und ihre Eltern, sondern auch ihn –, sie mussten sich also darum bemühen, möglichst engen Kontakt zu halten.

Im Spätsommer, an ihrem letzten gemeinsamen Abend, der Regen prasselte gegen die Fenster, lag Greer oben in ihrem Zimmer in Corys Armen und weinte. Sie hatte bis dahin keine Tränen wegen des Colleges vergossen, weil ihre Eltern damals in der Küche geheult hatten und weil sie anders reagieren wollte; außerdem wollte sie besser und stärker sein. Aber nun, mit Cory im Bett liegend, weinte sie.

»Ich will nicht dieser beschädigte Mensch sein«, sagte Greer mit erstickter Stimme und abgewandtem Gesicht.

»Bist du auch nicht. Du bist absolut okay.«

»Meinst du? Ich bin so still! Ich bin immer die Stille gewesen.«

»Ich habe mich in deine Stille verliebt«, sagte er zu dem kleinen blauen Farbtupfer in ihren Haaren. »Aber du hast auch viele andere Seiten.«

»Glaubst du wirklich?«

»Aber sicher. Und das werden auch andere Leute erkennen. Ganz bestimmt.«

Es schüttete wie aus Kübeln, und sie lagen still da, und dann, zu später Stunde, standen sie leise seufzend auf und gingen auseinander, um ihre Kinderzimmer auszuräumen und zu entscheiden, was ihnen noch am Herzen lag – was diesen Abschied überstand, weil es ein Teil von ihnen war –, und was endgültig aufgegeben werden musste. Greer packte ihre Schneekugeln und die Romane von Jane Austen ein, sogar Mansfield Park, ein Buch, das sie nie besonders gemocht hatte. Es war, als wären diese Bücher eine Reihe von Stofftieren, die ihr Zimmer während all der Jahre geschmückt hatten; so tiefen Trost hatten sie gespendet. Cory, der am nächsten Morgen nach Princeton aufbrechen wollte, ließ die Wackelkopf-Figuren der National Basketball Association für Alby im Regal stehen. Nach kurzem Zögern packte er jedoch Der Herr der Ringe ein, eine Ausgabe im Schuber. Er war kein besonders literarischer Mensch, doch er liebte diese Bücher, würde sie wahrscheinlich immer lieben. Alby würde sie sicher auch bald lesen wollen, wenn es so weit war, würde er sie ihm leihen.

Am nächsten Tag, nach so vielen leidenschaftlichen Verabschiedungen, als müsste er in den Krieg ziehen, brach Cory im schwer beladenen Familienauto nach New Jersey auf. Greer wollte zwei Tage später nach Ryland fahren. In Princeton bekam Cory einen Job in der Firestone Library und suchte in dem riesigen, prunkvollen Raum Bücher heraus; seine Mahlzeiten nahm er in einem anderen riesigen, prunkvollen Raum ein.

Abends unterhielten sie sich über Skype, und sie versuchten, sich regelmäßig zu besuchen. Er sagte, Princeton schüchtere ihn ein, doch er finde es auch großartig, und erzählte, dass er auf den grünsten Feldern der Welt Ultimate Frisbee spiele. Er erwähnte nicht, dass ihn die Sorge plagte, er könnte ihr untreu werden, wie auch die allgemeinere Sorge, es könnte schwierig werden, sich an die Vereinbarungen zu halten. In Princeton flirteten ständig Mädchen mit ihm – blonde Mädchen, aufgewachsen in Häusern, die einen Namen trugen, eine coole farbige Flötenspielerin aus Los Angeles und ein Boho-Genie, die in den Niederlanden lebte, obwohl sie Amerikanerin war, und auf den Namen Chia hörte.

Und dann hörte er eines Tages in der Mensa, wie ein Mädchen zu einem anderen sagte: »Eines weißt du noch nicht über mich. Ich habe es mal ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft.«

Und das andere Mädchen fragte: »Echt? Und womit?«

»Oh, ich hatte so viele Flaschen für das Recycling gesammelt wie kein anderes Kind zuvor. Ich war berühmt in Toledo. Ich war ein richtiger kleiner Freak.«

Cory hätte fast die Fruchtpastete ausgespuckt, die er gerade aß, und fuhr herum. »Du bist Taryn, das Recycling-Mädchen?«, fragte er entgeistert. »Ich habe im Lesebuch der vierten Klasse über dich gelesen.«

Und das Mädchen, zufälligerweise umwerfend hübsch, mit welligen, dunklen Haaren und dunklen Augen, nickte lachend. Als Cory an jenem Abend mit Greer skypte, ließ er sie raten, wem er begegnet war. »Rate einfach mal«, sagte er, doch sie kam nicht darauf, und er erzählte es ihr. Er verschwieg aber, dass das Recycling-Mädchen aus Toledo inzwischen wirklich heiß war und ihn gefragt hatte, ob er sich mal auf einen Drink mit ihr treffen wolle. »Aus Glas, nicht aus Plastik«, hatte Taryn gesagt und diesen Worten einen vielsagenden James-Bond-Unterton verliehen.

Und dann gab es noch Corys »geheimes Christkind«, Clove Wilberson, aufgewachsen in Tuxedo Park, New York, und dort in einem Haus namens Marbridge. »Verdammt, Cory Pinto, du bist zum Anbeißen und zum Ranschmeißen«, sagte Clove eines Tages aus heiterem Himmel zu ihm.

»Beides?«, fragte er milde.

Er verschwieg Greer auch, dass Clove Wilberson einmal nach einer Party auf ihn zugekommen war und gesagt hatte: »Cory Pinto, du überragst mich um Meilen, es fällt mir also schwer zu tun, was ich gern täte.«

»Und das wäre?«

Sie hatte seinen Kopf zu sich hinuntergezogen und ihn geküsst. Der Kuss war ein Aufeinandertreffen weicher Oberflächen. »Na? Hat dir das gefallen, Cory Pinto?«, fragte sie, nachdem sie ihre Lippen voneinander gelöst hatten. Aus irgendeinem Grund fand sie es amüsant, ihn mit vollem Namen anzureden. Dann fügte sie rasch hinzu: »Du musst nicht antworten. Du hast eine Freundin, ich weiß. Ich habe dich mit ihr gesehen. Aber das ist okay – du brauchst nicht so entsetzt zu gucken.«

»Ich bin nicht entsetzt«, sagte er, fühlte sich aber gleich danach gedrängt, mit einer Hand über seinen Mund zu wischen.

Manchmal sah er zu Cloves Zimmer auf, und wenn Licht an war, stellte er sich vor, zu ihr hinaufzugehen und nichts zu sagen, sondern sie einfach auf ihr Bett zu ziehen, wie er Greer auf das Bett zog, wenn sie in Princeton war oder er in Ryland. Wenn Clove mit ihm sprach, dann stets mit einem neckischen Unterton.

Und jedes Mal, wenn er Taryn, das Recycling-Mädchen, traf, fragte sie: »Wann trinken wir endlich einen zusammen – aus Glas, nicht aus Plastik?«

Wie sollte er vier Jahre am College überstehen, ohne mit einer anderen Frau als Greer ins Bett zu gehen? Er wurde permanent durch unterschiedlichste Mädchen unter Strom gesetzt, seit er nicht mehr täglich mit Greer zusammen war. Er wünschte, ihr sagen zu können: »Vielleicht sollten wir einen Tag in der Woche ansetzen, an dem wir auf unserem jeweiligen Campus mit jemand anderem anbändeln. Mit einem Menschen, der uns nichts bedeutet, aber ein banales hormonelles Bedürfnis befriedigt. Du kannst dir ja deinen Drummer-Freund schnappen, er ist total verknallt in dich, das merke ich.« Aber das hätte Greer schockiert, und er durfte sie nicht verletzen.

In den Frühjahrsferien ihres ersten Jahres – sie waren zu Besuch in Macopee, saßen gemeinsam im Pie Land und büffelten – reckte Greer einen Arm über den Tisch und berührte zerstreut Corys Gesicht. Sie streichelte seine Wange, verharrte kurz auf der kleinen blassen Narbe, inzwischen über ein Jahr alt. Wenn sie älter und in der nächsten Lebensphase angekommen wären und in Greenpoint oder Red Hook zusammenwohnten – oder hieß es Redpoint und Green Hook? –, dann, so hatte er sich immer vorgestellt, wäre der passende Zeitpunkt gekommen, um seine bescheidene Heldentat zu offenbaren, ihr zu erzählen, wie er sie vor der Demütigung bewahrt hatte, von einer Horde Highschool-Jungs mit einer 6 benotet zu werden, und dafür im Gesicht verletzt worden war.

»Ich wusste immer, dass du in Wahrheit eine neun bist«, hatte er ergänzen wollen. Inzwischen war er aber etwas älter, und er veränderte sich; und in letzter Zeit sprach Greer häufig mit gedämpftem Eifer darüber, wie es Frauen auf dieser Welt erging. Schließlich begriff er, wie arrogant es gewesen wäre, von seiner Heldentat zu berichten. Seine kleine Narbe, schmal und weiß und schon fast unsichtbar, war eine Auszeichnung gewesen, verknüpft mit einer Geschichte, die er unbedingt hatte erzählen wollen. Er begriff jetzt, dass er sie für sich behalten würde, und das für immer.

Gegen Ende der College-Zeit, dachte Cory, müsste es ein Buch mit dem Titel Der Alkohol spricht geben, in dem die Leute alles aufschrieben, was sie im besoffenen Zustand angestellt hatten. Das Problem war natürlich, dass sie sich vielleicht nicht mehr erinnern konnten, wenn es ans Aufschreiben ging. In Princeton wurden unzählige Entscheidungen getroffen, wenn die Leute blau waren. Cory hatte im zweiten Jahr am College zwei Mal etwas mit Clove gehabt, ein weiteres Mal im dritten Jahr. Er wusste, es hatte jedes Mal am Alkohol gelegen, und im Nachhinein hatten ihn stets Reue und Schuldgefühle geplagt. Er konnte Clove nicht wirklich die Schuld in die Schuhe schieben, aber eines Abends hatte sie einen regelrechten Lapdance für ihn hingelegt. Corys Beine waren so lang, dass sie fast automatisch auseinanderklappten, wenn er saß. Jahre später kassierte er in der New Yorker U-Bahn immer wieder böse Blicke von Frauen, ohne dass er kapierte, warum, bis er während der Rushhour von einer Frau niedergestarrt wurde, die zu ihm sagte: »Schluss mit der ewigen Breitbeinigkeit.« Er war entsetzt und klappte die Beine zusammen, als wären es Maschinenteile.

Doch im zweiten College-Jahr, nach einer Wodka-Probe, zu der Valentin Semenov, Sohn eines waschechten Oligarchen und Student im letzten Jahr, in seine überladene Suite eingeladen hatte, lehnte sich Cory in der Sitzschaukel zurück und erlaubte Clove, sich über ihn zu ergießen wie Honig. Das Licht wurde gedämpft, und als sie seine Hose öffnete, sagte er: »Oh mein Gott.« Das Öffnen eines Reißverschlusses war stets ein kleiner Schock, vor allem, wenn die Hand, die dies tat, nicht zu Greer gehörte. Greer, deren Abwesenheit plötzlich genauso spürbar war wie ihre Anwesenheit und deren tiefe Liebe ihn sicher reicher machte als den reichsten Oligarchen.

Tut mir leid, dachte er, tut mir wirklich leid, aber noch während er dies dachte, übernahm der Alkohol nicht nur das Denken, sondern auch das Sprechen; und die heißgeliebte Greer mit ihrer blauen Strähne, dem kleinen, sexy Körper und dem wachsenden Bedürfnis, stärker aus sich herauszukommen und auf dieser Welt etwas Sinnvolles zu tun, fiel durch eine Falltür, fiel wie ein Stein in die Tiefe, fort von ihm, weit fort. Clove Wilberson wiederum umging diese Falltür geschickt und setzte sich rittlings auf Cory, zuerst in der Sitzschaukel, danach auf ihrem Bett. Cory sah ihr Zimmer im Wohnheim endlich von innen, nicht mehr nur von unten. Jede Menge Feldhockey-Trophäen und -schleifen. Jede Menge teurer Schnickschnack, wie bei reichen Mädchen üblich. Ihre Eltern riefen zwei Mal an, während sie miteinander schliefen, und sie ging zwei Mal ran. Sie erzählte, sie habe ein Pferd namens Boyfriend Material, das in diesem Sommer in Saratoga an den Start gehe. »Du solltest darauf wetten; ich bin mir sicher, dass er siegt«, flüsterte sie Cory zuckersüß ins Ohr.

Am nächsten Tag sagte er: »Clove, hör mal zu. Ich kann das nicht noch einmal machen.«

»Ich weiß.« Sie wirkte ganz gelassen, und Cory dachte: War ich nicht gut genug? Aber er wusste, dass er gut war. Er war topfit, kräftig, energiegeladen. Er wusste, was er sexuell tat, und das vor allem dank Greer. Clove lächelte ihn an und sagte: »Mach dir keine Gedanken, Cory Pinto.«

Also machte er sich keine Gedanken, hatte während seiner Zeit am College aber noch zwei Mal etwas mit Clove und schlitterte danach todunglücklich durch die automatisch aktivierten Phasen von Scham und Vergebung. Doch es lag stets am Alkohol. Zu diesen Abirrungen kam es, weil Greer weit weg war. Und es waren nicht die einzigen. Während der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfes verzichteten sie an manchen Wochenenden darauf, einander zu besuchen, um getrennt Wahlkampf zu machen. Greer fuhr mit einem Ryland-Bus nach Pennsylvania, Cory mit einem Princeton-Bus nach Michigan. Clove war auch irgendwo in diesem Bus, aber Cory saß bei seinen zukünftigen Mikrofinanz-Start-up-Partnern, Lionel direkt neben sich, Will auf der anderen Seite des Ganges. Der Wahlkampf war extrem aufregend, und sie machten oft die Nacht durch, was man nur in ihrem Alter tun kann, ohne dafür büßen zu müssen.

Cory schwebte noch Wochen nach der Wahl im siebten Himmel. Er schwebte im siebten Himmel, war erleichtert und machte sich keine Sorgen um die Zukunft.

»Hey, Cory, Will und ich müssen was mit dir besprechen«, sagte Lionel, als sie eines Abends zu dritt über den Campus gingen. »Wie es aussieht, können wir das Start-up nicht sofort nach der Uni ankurbeln. Wir brauchen noch ein, zwei Jahre. Danach haben wir mehr Kapital.«

»Die Sache ist die«, meinte Will, »dass unsere Väter wegen der Wirtschaftslage nicht mehr so spendabel sind.«

»Wir sollten also vereinbaren, nach dem Abschluss erst mal in die Welt zu ziehen und einen Haufen Geld zu verdienen, das wir dann später investieren können«, sagte Lionel. »Wie man Nüsse für den Winter hortet. Will und ich wollen uns Jobs im Finanz- oder Beratungswesen suchen. Das solltest du auch tun.«

Diese Neuigkeit bedrückte Cory zunächst, und er weigerte sich, den Vorschlag seiner Freunde zu erwägen. Eine Weile später, als der Abschluss näher rückte, gewöhnte er sich aber immer mehr an die Vorstellung, ein oder zwei Jahre lang als Berater tätig zu sein, obwohl er das nie vorgehabt hatte. In seinem Umfeld gingen jede Menge Leute ins Beratungswesen. Das war neben dem Bankwesen und der Wirtschaft der Weg des geringsten Widerstands. Die wichtigsten Unis wimmelten von Anwerbern der wichtigsten Unternehmen, und viele Studenten akzeptierten die Angebote mit Kusshand.

In Corys letztem Jahr gab es einen bestimmten Zeitraum, in dem Banken, Consulting- und Risikokapitalfirmen ihre Leute nach Princeton schickten. In ihren eleganten Anzügen unterschieden sie sich deutlich von den Studenten mit Rucksack und Freizeitkluft. Sie hoben sich auch von den Dozenten mit ihren hafermehlbraunen Tweedsakkos und den tief sitzenden Cordhosen ab, die ihre schlaffen Professorenhintern erahnen ließen; ebenso von den Dozentinnen in ihren akademisch biederen, etwas ungepflegten Kleidern, die sich immer noch an der Mode zu orientieren schienen, die Stevie Nicks in grauer Vorzeit getragen hatte; Frauen, die in die lange Zielgerade des ihnen verbleibenden Lebens eintraten, und dies (darauf hatte Greer hingewiesen) viel seltener mit einer festen Professur als die Männer.

Nach einem Vorgespräch wurde Cory von einem Mitarbeiter und einer Mitarbeiterin der Consultingfirma Armitage & Rist zum Essen eingeladen. Sie gingen im Zentrum von Princeton in eines der auf alt getrimmten Restaurants, in die weit entfernt lebende Eltern ihre Söhne und Töchter ausführten. Die beiden drängten Cory zu einer Vorspeise; er fragte sich, ob sie ihn für ausgehungert hielten. Ordneten sie ihn aufgrund seines Teints in die Kategorie »Etwas Exotischer Stipendiat, Güteklasse A«, ein?

»Nehmen Sie, was Sie wollen«, sagte der Anwerber, zehn Jahre älter als Cory, mit modischem Anzug und Chelsea-Boots. Seine Kollegin, mit seidiger Haut und ebensolchen Haaren, trug einen roten Lederrock und ein enges, futuristisches Jackett.

»Ich bin sehr gespannt, welchen Weg Sie einschlagen«, sagte die Frau zu Cory, während dieser aß. Die beiden sahen ihm zu und aßen selbst kaum etwas. Bestellen war nicht das Gleiche wie Essen.

»Ich auch. Selbst wenn Sie schon wissen, dass Sie nicht zu uns wollen«, ergänzte der Mann. »Selbst wenn Sie nur die Angebote ausloten, Cory, und eigentlich in eine andere Richtung neigen.«

»Das tue ich nicht«, erwiderte Cory, aber weil er den Mund voller Essen hatte, klangen die Worte wie: »Dahuhinih.«

»Im Moment steht Ihnen die ganze Welt offen«, fuhr der Mann fort. »Sie wandelt sich vor unseren Augen. Wenn Sie sich das Profil unserer Firma anschauen – oder jeder anderen Firma –, werden Sie feststellen, dass es eine großartige Zeit ist, um ins Leben einzusteigen. Ich beneide Sie, Cory. Sie haben alle Möglichkeiten, und das freut mich, ganz ehrlich.«

Aber wen meinten diese Leute mit »Sie«? Hoben sie darauf ab, dass er ein »Millennial« war? Oder steckten sie ihn aufgrund seines Nachnamens doch in die Minderheiten-Schublade? Während seines ersten Jahres in Princeton hatte jemand einen Flyer unter seiner Tür durchgeschoben, der zu einem Treffen einer der Latino-Organisationen der Universität einlud. »Wir servieren chalupas«, hieß es darauf.

Im Kerzenschein am Ecktisch des Restaurants sitzend, wurde Cory von dem Mann und der Frau von Armitage & Rist umworben, als wären die beiden ein Liebespaar, das einen flotten Dreier im Sinn hatte. Also verputzte Cory salzigen Räucherlachs auf knusprigen runden Schwarzbrotscheiben, anschließend einen Berg von Fleisch, der an eine Mahlzeit der Familie Feuerstein erinnerte, und zuletzt eine Crème brûlée; das Gefühl, die harte Kruste mit dem Löffel zu durchstoßen, war so befriedigend, als hätte er den ersten Spatenstich für den Bau seines Traumhauses getan. Die Anwerber umschmeichelten ihn während des ganzen Essens, ließen aber viele Details aus. Sie erzählten, die Firma habe Büros in New York, London, Frankfurt und Manila, aber Cory betonte, er wolle auf jeden Fall nach New York. »Ist registriert«, sagte die Frau.

Nach dem Essen, er war wieder in seinem Zimmer und rülpste noch Fisch- und Senfdünste aus, skypte Cory mit Greer. »Tja, ich schätze, sie haben mich gekauft«, sagte er.

»Ach, ehrlich?«

»Yep. Sie haben mich mit Rindfleisch beworfen, und das hat mich überzeugt. Dieser Abend hätte dich sicher angekotzt, aber ich muss gestehen, dass er mir gefallen hat. Es war natürlich absurd, dass mich Fremde von irgendeiner ›Firma‹ – selbst das Wort klingt schräg – umschwärmt haben, als wäre ich eine große Nummer. Als käme der Kapitalismus persönlich in dem Glauben auf mich zu, ich hätte ihm etwas zu bieten! Wäre nur für ein Jahr – maximal zwei –, und ganz ehrlich, Greer, wenn du nichts dagegen hättest, würde ich das wirklich tun.«

»Du klingst, als wäre das brandgefährlich.«

»Alles hat seine Risiken.«

»Und worin besteht hier das Risiko?«

»Oh, einfach darin, dass ich ein Consulting-Arschloch werde, du aber ein guter Mensch.«

»Keine Ahnung, warum du das sagst«, meinte Greer. »Ich habe ja noch keinen Job.«

»Du wirst aber einen haben.«

»Ich habe tatsächlich etwas Interessantes im Auge, wo ich mich bewerben könnte«, sagte sie überraschend scheu.

»Erzähl mal.«

»Nein. Noch nicht. Wird wahrscheinlich sowieso nichts, und ich muss mich erst mal erkundigen. Aber davon abgesehen«, sagte sie direkt in die Kamera, »selbst wenn du ein Arschloch wärst und selbst wenn ich diese scheinheilige Person wäre, würden wir das nicht voreinander verbergen, und außerdem würden wir es für einander tun. Endlich. Findest du nicht auch, dass das etwas zählt?«

Er antwortete nicht sofort. Sie betrachtete ihn eindringlich, und er hätte schwören können, dass sie über alles informiert war, was er je getan hatte, alles Gute und alles Schlechte. Er wünschte sich kurz, die Skype-Verbindung möge für ein paar Sekunden ausfallen, wie es manchmal in wichtigen Momenten geschah. Doch sie blieb stabil, und Greer lächelte ihn an und berührte den Bildschirm mit einem Finger, vermutlich genau dort, wo sein Mund war.