Sieben
Im großen, mit Efeu bewachsenen Haus im New Yorker Vorort Scarsdale hörte Zee in aller Herrgottsfrühe stets das Röhren des Vitamix TurboBlend 4500, wenn ihre Mutter, Richterin Wendy Eisenstat, wie an jedem Wochentag knallbunte Smoothies aus Blaubeeren, Kiwis, Protein-Pulver, Stevia und Eis mixte. »Mit oder ohne Flachssamen, Dick?«, hörte Zee ihre Mutter rufen, und Richter Richard Eisenstat gab lautstark bekannt, was er an diesem Tag bevorzugte. Danach joggten Richterin und Richter Seite an Seite wie ein Pferdegespann auf den durchgestalteten Straßen der teuren Stadt, bevor sie zu ihrem Arbeitsplatz fuhren, dem Westchester County Supreme Court. Zee hätte sich anschließen können, das Angebot stand, aber sie fand die Vorstellung grauenhaft, gemeinsam mit ihren Eltern durch die Stadt zu traben, in der sie aufgewachsen war. Es war schon schlimm genug, wie ein zu groß geratenes Kind zu Hause zu wohnen und einer verhassten Arbeit nachzugehen. Sie rannte und rannte, kam aber nirgendwo an.
Manchmal mussten Zee und die anderen Anwaltsassistenten bei Schenck-DeVillers, einer riesigen Kanzlei im Finanzdistrikt New Yorks, bis in den späten Abend arbeiten. Auf der ganzen Länge des Flurs saßen Anwälte in Büros und beugten sich über Laptops, Telefone oder schwarze Bento-Boxen aus Plastik. Ganz hinten im Flur befand sich eine Art Zigeunerlager, der improvisierte Bereich der Anwaltsassistenten. Diese betrachteten einander als Angehörige derselben losen Stammesgemeinschaft, waren aber auch einsam, müde und argwöhnisch und hatten überdies komplizierte Vorgeschichten, die Zee milde faszinierten und so ziemlich das Einzige waren, was sie bei der Stange hielt.
Ihr gegenüber saß eine massige Frau, die früher in einem Leichenschauhaus gearbeitet hatte; wenn sie während der Pausen ihre Anekdoten zum Besten gab, wurde sie von allen Kolleginnen und Kollegen umringt. Dann gab es noch den Mann mit den extrem langen Fingern und Handgelenken; Zee hatte neulich diskret »abnormal lange Finger« gegoogelt und sofort den medizinischen Begriff »Arachnodaktylie« gefunden. Finger wie Spinnenbeine. Ja, das traf zu.
Die anderen Anwaltsassistenten hielten Zee sicher auch für eine der speziellen Typen, wie es sie bei der Arbeit halt so gab – in ihrem Fall die androgyne, sexuell attraktive Lesbe. An diesem Winterabend, dessen bittere Kälte sogar in den Büros von Schenck-DeViller zu spüren war, trug sie Kolani-Jacke und Wollkappe wie ein Boy-Group-Mitglied, das nicht erkannt werden wollte.
»Ich frage mich, wer beschlossen hat, die Heizung zu drosseln«, sagte Zee zu dem jungen, bärtigen Slam-Poeten, mit dem sie ihre Ecke im Flur teilte. »Schenck oder DeVillers.«
»Ganz sicher DeVillers«, erwiderte er.
»Ich glaube, es war Schenck. Hier herrscht eine Schenck’sche Kälte.«
Er lachte. Sie versuchten oft, sich gegenseitig zu erheitern, denn das verkürzte die Zeit. Dann wurde eine ganze Weile geschwiegen, weil man mit kalten Fingern auf kalten Tasten tippte. Wenn man die Augen schloss und sich des Tippgeräusches bewusst wurde, hätte man es sicher nicht als solches eingeordnet, denn es klang wie ein plätschernder Gebirgsbach, was auch für andere Technikelemente galt und vielleicht die Illusion schüren sollte, dass man nicht alles, was man an der Natur so geliebt hatte, gegen den fahlen Schein eines Bildschirms eingetauscht hatte.
Zee mochte ihre Arbeit nicht, musste sich aber immerhin nicht kleiden wie eine Affen-Roboter-Frau, sondern durfte eine etwas elegantere Version ihrer normalen Garderobe tragen, und das war eine Erleichterung. Sie hatte im Laufe der Jahre immer wieder beklommen daran gedacht, dass ihre Eltern irgendwann sterben würden, eine Unausweichlichkeit, die aber wenigstens den Vorteil hätte, dass sie dann niemand mehr fragen würde: »Wäre es denn wirklich so furchtbar für dich, einen Rock zu tragen?«
Sie hatte ihren Eltern zuliebe manchmal einen Rock getragen: einen karierten Kilt, einen Wickelrock mit indischem Muster, einen Rock mit Seitenschlitz, einen halblangen, rustikalen Rock mit Rüschensaum, einen grenzwertigen Mikromini, der kaum den Schritt bedeckte, und einen langen, dunklen, gesetzten Rock, den sie »Erste Geige der Bostoner Symphoniker« getauft hatte. Und sie war jedes Mal fast verrückt geworden, weil es sich angefühlt hatte wie eine Verkleidung, und sie hatte befürchtet, die Kleider könnten zur Überprüfung ihres wahren Geschlechts urplötzlich von ihrem Körper fallen und sie nackt und schutzlos zurücklassen.
Während der College-Zeit hatte Zee im Laufe der langen Winterferien, die sie bei ihren Eltern verbracht hatte, mehrere Postkarten an Greer nach Massachusetts geschickt, jede mit dem Titel: »Wäre es denn wirklich so furchtbar für dich, einen Rock zu tragen?« (Greer trug natürlich gern, ja fast immer Röcke, selbst wenn es gar nicht verlangt wurde. Außerdem hatte Cory gesagt, Greer sehe echt scharf darin aus.)
Zee hatte eine Frau auf die erste Postkarte gezeichnet, die über ihren Rocksaum stolperte und von einer Klippe stürzte.
Die zweite Postkarte zeigte eine in einer Blutlache liegende Frau, die einen Rock mit einem Muster aus spitzen Messern trug.
Und die letzte Postkarte zeigte eine Frau, die tot zusammenbrach. Neben dem Pfeil, der auf ihren Rock zeigte, hatte Zee notiert: »Stella McCartneys unbeliebtester Entwurf, der Minirock mit giftigem Futter.«
Nicht, dass sich Zee gewünscht hätte, ein Mann zu sein; sie verabscheute nur bestimmte weibliche Konventionen. Bei ihrer Bat-Mizwa hatte sie ein grünes Minikleid mit einem Muster aus riesigen weißen Wildblumen tragen müssen, darunter stickige Strumpfhosen, und sie hatte während des ganzen Tages nur daran denken können, das Kleid gegen eine Jeans einzutauschen oder wenigstens die Strumpfhosen loszuwerden. Sie schnürten ihre Beine so stark ein, dass sie beschloss, das Leben im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht in Strumpfhosen verbringen zu wollen. Ihre Mutter hätte unter der Richterrobe übrigens problemlos auf die enge Hülle verzichten können. Das hätte kein Mensch bemerkt.
Was Zee betraf, so wurde sie in der Kanzlei durchaus bemerkt. Zuerst von einer Anwältin und Partnerin im ersten Jahr, einer schmallippigen Frau mit getönten Haaren, die kürzlich ihren Abschluss an der Georgetown Law gemacht hatte. Zee hatte aber kein Interesse an ihr, obwohl sie verführerisch nach frisch gemähtem Gras duftete. Zee wollte sich zum jetzigen Zeitpunkt auf niemanden einlassen. Solange sie in Scarsdale wohnte, wäre das zu schwierig. »Ist nicht so, als würde ich wie im Kloster leben«, hatte sie Greer bei ihrer ersten Begegnung in Ryland erzählt, aber die Vorstellung, ihren Eltern jemanden vorzustellen, bereitete ihr Unbehagen. Außerdem wusste sie nicht genau, ob sie wollte, dass die betreffende Person ihre Poster der Spice Girls und der gefährdeten Chinchilla-Babys zu Gesicht bekam.
Ihr Interesse an Tierrechten und später am Vegetarismus war bei einem Schulausflug zu einem Streichelzoo in ihr geweckt worden. Zee hatte zwischen den Küken gehockt, umschwebt von Federdaunen wie von Pollen. Die Laute der kleinen Tiere waren leise, aber eindringlich und erinnerten eher an die von Insekten. Doch als Zee ein winziges, zitterndes Küken in den Händen hielt, war sie geradezu liebestrunken.
Am folgenden Tag lieh sie sich in der öffentlichen Bücherei von Scarsdale ein monumentales Buch mit Tierfotos aus, und später am Abend, sie saß mit dem offenen Buch im Schoß auf ihrem Bett, betrachtete sie die Farbaufnahmen von Küken, kleinen Ottern und Rehkitzen. Und dann tauchte unter diesen Fotos, den süßesten überhaupt, eines auf, das gar nicht dazu passte, das erschütternd und absolut schrecklich war: das Foto eines Heulers, der in eine Falle gegangen war, sein aufgerissenes Maul der Ausdruck puren Schmerzes. Der Blick des kleinen Seehunds war ein direkter Appell an Zee Eisenstat, die zuerst schockiert war, danach in Tränen ausbrach und am Ende innerlich gegen diese Ungerechtigkeit wütete. Diese Tiere waren Leben, dachte sie und presste die Lippen zusammen; sie waren Leben, vor allem aber auch Seelen, und deshalb musste sie handeln.
Während Zees Eltern mit einem anderen Richter-Ehepaar Tennis spielten, saß sie vor ihrem Desktop-Computer und postete unter dem peinlichen Namen »Ich&meineliebentiere« Nachrichten auf einer Plattform für Tierrechte. Nach kurzer Zeit erhielt sie mehrere Reaktionen. DANNYSOMA gab in einer Antwort an Ich&undmeineliebentiere Ratschläge für den Start »in der Community der Tierrechtler«. Wikingerfan22 wollte wissen, ob sie zufällig in Twin Cities wohne, denn wenn ja, könne man sich ja mal auf »ein paar Eisgekühlte« treffen. Niemand wusste, dass sie elf Jahre alt war, und die Anonymität ermutigte sie. Sie war ein Küken und doch kein Küken. Wie alle anderen, die auf diesen Plattformen aktiv waren, wurde auch sie durch das Gefühl motiviert, dass etwas Schutzloses zerstört wurde.
Später war Zees MySpace-Seite sowohl mit energischen Hinweisen auf die Rechte der Tiere als auch mit Fotos gepflastert, die brutale Gewalt gegen Tiere zeigten, und als kleines Gegengewicht gab es Aufnahmen von munteren Welpen und putzigen Kätzchen (die Welpen und Kätzchen anderer Leute, denn ihre Mutter hatte eine Allergie). Sie postete ständig Fotos und verbrachte während der Highschool-Zeit mehrere Samstage damit, vor einem lokalen Pelzgeschäft auf dem Parkplatz zu stehen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie schon viele Erfahrungen in der Welt der Menschen gesammelt und gemerkt, wie diese einander diskriminierten.
Jede Form sozialer Ungerechtigkeit wühlte sie auf, und so wurde sie sowohl in der digitalen als auch in der realen Welt zu einer glühenden Aktivistin. Wenn sie am College Handzettel gegen den Irakkrieg verteilte, stellte sie sich verbissen vor, in Kerbela zu stehen, nicht auf dem Campus des trägen Ryland. Sie verfolgte ihre Interessen, was dazu führte, dass ihre Noten ebenso schlecht waren wie an der Highschool. Sie schnitt bei dem allgemeinen College-Zulassungstest in Mathe lausig ab, und ihr Essay war offenbar so unlesbar, dass ihr Studienberater das Schreiben mit den Ergebnissen endlos lange studierte, die Stirn in Falten gelegt und mit dem Stift auf den Tisch klopfend, ratlos, welches College er empfehlen sollte.
Zee wusste zwar, dass sie immer ein politischer Mensch und am Ende vermutlich eine jener matronenhaften alten Frauen sein würde, jener Schnepfen, die ihre Stimme gegen alle zukünftigen Übel erheben, egal, welche – Luftverschmutzung, verursacht durch Abgase von Jet-Packs; die Unterdrückung der Roboter-Mitbürger –, aber manchmal war man kein politisches, sondern ein sexuelles Wesen. Als solches nahm sie die heiße neue Partnerin bei Schenck-DeVillers zur Kenntnis und entschied sich dagegen, ihr Avancen zu machen oder sich solche machen zu lassen. Zee befand sich in einer Übergangsphase, jedenfalls sah sie das so. Dies war momentan ihr Leben, aber es war nicht das richtige Leben. Sie würde bestimmt noch etwas anderes tun, etwas Besseres, etwas mit mehr Herzblut, etwas wie das, was Greer tat, die bei Loci arbeitete, allein in Brooklyn lebte und mit Cory zusammen war.
Aufgrund ihres unregelmäßigen Arbeitsrhythmus konnte sie manchmal lange schlafen, und wenn sie erwachte, war sie im großen Haus allein. Wenn sie erst später am Tag bei Schenck-DeVillers erscheinen musste, sah sie hin und wieder sogar eine nachmittägliche Talkshow, obwohl sie diese deprimierend fand. »Ich glaube«, hatte sie kürzlich am Telefon zu Greer gesagt, »diese tagsüber laufenden Talkshows sind Teil einer Verschwörung, die dafür sorgen soll, dass Frauen blöd und passiv bleiben. Wenn ich mir eine ansehe, habe ich immer das Gefühl, dass sich meine Gehirnsubstanz auflöst. Das heutige Thema lautete: Mein Sohn ist ein Gang-Mitglied.«
»Dann sieh dir das Zeug nicht an.«
»Ist aber total interessant!«
»Tja, da hast du’s.«
»Ich brauche eine Aufgabe. Etwas Fesselndes«, meinte Zee. »Ich habe meine Jugend verplempert, während du all diese Romane von Jane Eyre gelesen hast …«
»Jane Austen!«
»Genau das meine ich ja. Während du dich gebildet hast, war ich auf der Straße und habe protestiert.«
»Das könntest du jetzt auch machen«, sagte Greer.
»Würde ich gern. Aber wenn ich nach Hause komme, bin ich erledigt. Meine Arbeitszeiten sind verrückt.« Zee seufzte. »Ich wünschte, ich wäre auch in der Stiftung. Das wäre sowohl Arbeit als auch politisches Engagement. Ich spreche das sogar gern aus: ›die Stiftung‹.«
»So toll ist das nun auch wieder nicht«, erwiderte Greer. »Wie du weißt, bin ich im Grunde nur eine Assistentin.«
»Das bezweifele ich«, sagte Zee. »Es kann nur besser sein als mein Job.«
Greer hatte versucht, ihr bei Loci einen Job zu vermitteln. Sie hatte Zees Brief an Faith übergeben, leider vergeblich. »Nur keine Sorge«, hatte Zee daraufhin zu Greer gesagt, eine Wendung, die sie ironisch betont hatte, weil sie ihnen beiden verhasst war. Junge, dünne, uninteressant aussehende Frauen, die in Boutiquen hinter dem Tresen standen, benutzten diese Phrase, im Singsang intoniert, als Antwort auf so gut wie alles: »Nuklearer Holocaust?« – »Nur keine Sorge!« Diese Worte waren absurd, weil jeder Mensch wusste, dass jeder Mensch zu jeder Zeit berechtigte Sorgen hatte. Wie sollte man sich keine Sorgen machen, zumal als frischgebackene College-Absolventin, die in dieser gefährlichen Zeit in die Welt eintrat? Die amerikanische Wirtschaft war vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt worden, aber gegen Ende 2010 stand sie immer noch auf wackeligen Beinen.
Zee wollte gebraucht werden. Gebraucht oder geliebt, eines davon oder beides zugleich. Am liebsten zugleich! Beides war nicht identisch, aber verwandt. Auch sie würde Liebe finden – oder vielleicht auch nicht. Vielleicht würde sie sich nie fest einrichten, nie Wurzeln schlagen, weder beruflich noch in der Liebe. Dennoch: Keine Sorge!
Zees Brief an Faith Frank, in einer Bar in Brooklyn an Greer übergeben, hatte folgendermaßen begonnen:
Liebe Miss Frank,
dieser Brief wird Ihnen von Miss Greer Katdetsky persönlich überbracht, meiner liebsten College-Freundin. Eine bessere, klügere und bienenfleißigere Mitarbeiterin hätten Sie nicht finden können. Sie ist hochkonzentriert, gut organisiert und belesen. Ich bin da anders.
Danach hatte Zee ein paar Auskünfte über sich selbst gegeben, rasch die Höhepunkte ihres politischen Engagements abgehakt und erklärt, sich leidenschaftlich für diverse feministische Themen wie auch für die Rechte Homosexueller zu interessieren, jenes auf Eheschließung eingeschlossen, das nach dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch sicher das nächste große Thema sei. Zee hatte sich kurz gefasst und ihren Brief mit dem Hinweis beschlossen, sie sei die Tochter zweier Richter – »Kein Scherz!«, schrieb sie – und habe während ihrer Jugend miterlebt, wie diese die Gesetze interpretierten, um dann als Sechstklässlerin wegen einer Demonstration vor dem Pelzgeschäft Van Metre in Polizeigewahrsam genommen zu werden.
Zee hatte früh begriffen, dass ihre Eltern, die nun mal Richter waren, dazu neigten, alles zu beurteilen, was ihnen vor die Nase kam. Das hätte für ihren gesamten Nachwuchs gelten können, aber die Eisenstat-Söhne blieben weitgehend davon verschont, weil ihre Mutter glaubte, Jungs könne man sowieso nicht bändigen, allein der Versuch sei sinnlos. Richterin Wendy Eisenstat und Richter Richard Eisenstat ließen Alex und Harry noch im Viertel herumtoben, da waren fast alle anderen Kinder längst zur Mathe-Nachhilfe oder zum Thora-Studium, zum Fagott-Unterricht oder Lacrosse aufgebrochen.
Alex und Harry, anderthalb Jahre auseinander, mittelmäßige Schüler, die weder eine Begabung für das hebräische Alphabet noch ausgeprägte musikalische oder sportliche Talente zeigten, fuhren gern Skateboard auf dem glatten und breiten Asphalt der Heather Lane, in der die Eisenstats in einer 3,5-Millionen-Dollar-Villa im Tudor-Stil wohnten, die über Swimmingpool, Gewächshaus und einen Rasen verfügte, der sich endlos weit ausdehnte, bis er schließlich in den der benachbarten Tudor-Villa überging.
Die Urteile der Eisenstats – meist die von Richterin Wendy – ergingen gegen Zee, obwohl diese eigentlich gar nicht Zee hieß. Sie hieß Franny, Franny Eisenstat, denn als ihre Eltern sich während des Studiums an der Yale Law, oben in New Haven, ineinander verliebt hatten, hatte Richard Eisenstat während einer Vorlesung über Prozessrecht zu Wendy Niederman gesagt: »Eines solltest du über mich wissen – ich bin ein eingefleischter Fan von J. D. Salinger.«
»J. D. wie ›Jura-Doktor‹ Salinger?«, fragte sie.
»Du bist witzig.«
»Ich gebe mir Mühe.«
»Ich kenne mich mit den kleinsten Salinger-Details aus«, sagte er. »Ich weiß alles über die Familie Glass, sogar über entlegene Angehörige, von denen niemand je gehört hat, etwa Walt und Waker.«
Woraufhin Wendy gekräht hatte: »Du weißt, wer Walt und Waker Glass sind? Unfassbar! Ich vergöttere Salinger auch.« Bald darauf, sie verbrachten inzwischen alle Tage und Nächte zusammen, führten im Grunde ein Eheleben, auch wenn sie es nicht so nannten, hatte Richard in einem Antiquariat in New Haven tief in die Tasche gegriffen und eine Erstausgabe von Franny und Zooey erworben, mit Schutzumschlag und leichten Gebrauchsspuren. Es war also keine echte Überraschung, dass sich Zees Eltern nach zwei Söhnen, die eher willkürliche Namen trugen, an diese berührende frühe Begebenheit erinnerten – den Moment, als Richard das Buch in Wendys Hände drückte, als sie es auspackte, das weiße Cover mit der unverkennbaren Type sah und das Buch gegen ihre Brust drückte, tief gerührt, weil dieser Mann wusste, was ihr gefiel. Nach der Geburt ihrer Tochter erinnerten sie sich an diesen Moment und tauften das Säckchen aus rosiger, blumig duftender Haut auf den Namen Franny. Eine Zeit lang war das ein prima Name gewesen, der perfekte Name.
Doch mit zunehmendem Alter empfand Franny Eisenstat den Vornamen als kitschig und banal und konnte damit nichts mehr anfangen. Das rosa Säckchen namens Franny existierte nicht mehr. Sie wollte jetzt das Bild ihrer Person selbst gestalten – sie wollte kantig und verwirrend sein, ein aufregendes menschliches Puzzle. Sie schämte sich dafür, bei ihrer Bat-Mizwa in dem grünen Kleid zu stecken, das sie auf Druck ihrer Mutter bei Saks gekauft hatten. Alle anderen weiblichen Gäste schienen sich in ihrer typisch weiblichen Festtagskleidung wohlzufühlen. Frauen wie Linda Mariani, die blonde, emsige Assistentin von Richterin Wendy, die oft auf High Heels in das Haus der Eisenstats stolperte, das Gesicht hinter einem turmhohen Aktenstapel verborgen. In der Synagoge trug Linda ein quietschgelbes Kleid aus Stretch, das sich über ihrem Busen straffte.
»Herzlichen Glückwunsch, Franny«, sagte Linda an dem Tag, und wie ein Sofapolster beim Daraufsetzen Luft entlässt, entließ sie durch den Druck der Umarmung ein sehr weibliches Parfüm.
Nach der Zeremonie gingen die Erwachsenen in die eine Hälfte eines langen Ballsaals, die Kinder in die andere, und zwischen beiden Gruppen schloss sich eine Falttür. Im Bereich der Kinder stand eine Karaoke-Anlage auf dem goldorangen, mit schwebenden Trompeten gemusterten Teppichboden, und jeder wollte an die Reihe kommen. Weil sie dreizehn waren und weil man das Jahr 2001 schrieb, waren Schwulen-Witze der große Renner, und alle versuchten, die Karaoke-Songs in zweideutige oder witzige Anspielungen darauf zu verwandeln. Zwei Mädchen stimmten einen Uralt-Song des Geschwister-Duos »Donny and Marie« aus den 1970ern an, dachten sich aber einen neuen Text aus und trällerten in Mikros, die man nach der Bat-Mizwa oder Bar-Mizwa oder der Hochzeit des letzten Wochenendes in den Ständern vergessen hatte.
Ein Mädchen sang: »Ich bin ein kleines bisschen schwu-hul …«
Und das andere sang: »Und ich ein kleines bisschen lesbi-hisch …«
Dann taten sie so, als würden sie einander einen Zungenkuss geben, wobei ein Mädchen das andere tief nach unten drückte, was sowohl ekelhaft als auch urkomisch sein sollte. Doch viel später, als die Familie Eisenstat im Wohnzimmer in der Heather Lane letzte Geschenke auswickelte – Acryl-Bilderrahmen und Geschenkgutscheine von Barnes & Noble oder Candles N’Things, die bald verloren gehen und niemals eingelöst werden würden, dazu Schecks, ausgestellt auf unterschiedliche Variationen von achtzehn Dollar, weil achtzehn eine Glückszahl ist und auf Hebräisch chai heißt, was auch »Leben« bedeutet –, erhob sich Franny, watete durch die knöchelhohe Gischt aus Geschenkpapier und ging nach oben in ihr Zimmer, wo sie sich aufs Bett legte und an ihre zwei Klassenkameradinnen dachte, die den grässlichen alten Song gesungen hatten.
Woran sie festhielt, was ihr so deutlich in Erinnerung blieb, als wäre es ein Bild in einem der geschenkten Rahmen, war der Anblick der küssenden Mädchen. Davon abgesehen war der ganze Tag eine Feier der Falschheit gewesen, angefangen mit der Rezitation ihres Thora-Absatzes, die total misslungen war, weil sie nie fleißig gelernt hatte, bis zu dem »Wahrheit oder Pflicht«-Spiel, das sie mit ihren Freunden schließlich in einem anderen Speisesaal gespielt hatte und in dessen Verlauf sie Lyle Hapner einen Zungenkuss hatte geben müssen, Lyle, dessen einziges Ruhmesblatt darin bestand, ihnen vorgespielt zu haben, wie der Präsident der Vereinigten Staaten beim Zahnarzt Lachgas bekam. Lyle hatte einen komisch geformten Mund, der sie zu verschlucken drohte wie eine Schlange ein Mäuschen. Vor ihm stehend, hatte sie das Gefühl gehabt, klein zu sein und ihre Persönlichkeit nicht ganz auszuleben.
Das war der springende Punkt: Warum nur halb leben, wenn man schon mal auf der Welt war? Sie fragte sich, ob es manchen Menschen gelang, ganz zu leben, oder ob alle das Gefühl hatten, Mensch zu sein sei gleichbedeutend mit dem Schicksal, ein Selbst zu haben, das einem Beutel mit leckeren, aber leider halb verputzten Köstlichkeiten glich.
Das heißgeliebte jüngste Kind zweier hoch angesehener Richter, im Dunkeln des prächtigen Elternhauses liegend, trat an jenem Abend den Weg zu seiner Ganzheit an, was vielleicht auch hieß, authentisch zu sein. Andererseits gab es dafür noch kein Wort. Die Wörter kämen später, und es wären viele. Wörter, die sie zu anderen Frauen sagen würde, im Bett liegend oder in einer Gasse an der Mauer lehnend, mit einer ungewohnten Stimme, die sie schockieren würde – schockieren, weil ihre intensiven, langjährigen Gefühle dies bedeuteten. Gleichbedeutend damit waren, lesbisch zu sein. Wer hätte das gedacht? Offenbar alle außer ihr selbst.
Sie trat ihren Weg mit dreizehn an. Mit sechzehn, als es ihr gelang, ins East Village und dort in eine Frauenbar namens Ben-Her vorzustoßen, beschritt sie ihn erneut. Ihre Eltern glaubten, sie würde sich mit zwei Schulfreundinnen Wicked anschauen. Franny hatte sich ein paar glaubwürdige Kommentare zu der Broadway-Show zurechtgelegt. Sollte sie jemand fragen, dann würde sie antworten: »Ich fand den Song For Good am besten. Ein echter Ohrwurm.«
Während sich ihre Freundinnen zum Gershwin Theatre begaben, machte sie sich auf den Weg zu der Bar, über die sie bei Fem Fatale gelesen hatte, genauer gesagt in einem Artikel mit dem Titel »Wo die Mädchen sind: Eine Übersicht über die besten Wasserlöcher der Lesben in den USA«. Eine verwirrende Formulierung – »Wasserlöcher der Lesben« schien irgendwie auf die weibliche Anatomie anzuspielen –, und wie damals, als ihre Freunde und Freundinnen bei der Bat-Mizwa Song um Song gesungen hatten, kam sie sich vor wie eine Außerirdische, die einen Ruf von ihrem Heimatplaneten erhalten hatte, einer, der aufhorchen ließ und Sehnsucht weckte.
Und dann stand sie im Ben-Her, ebenso minderjährig wie minderbemittelt, jedenfalls in diesem fremden Umfeld. Es war ein schmaler Laden, in seiner letzten Inkarnation ein polnischer Piroggen-Imbiss, in dem sich an diesem heißen Frühlingsabend Frauen mit Tanktop und anderen Schönwetterklamotten drängten, Gesicht an Gesicht und Brust an Brust, so eng und intim, wie es nur möglich war, ohne sich zu küssen. Franny trug ein T-Shirt mit Brusttasche, eine abgeschnittene Hose und Doc Martens; sie sah aus wie eine männliche Pfadfinderin oder ein weiblicher Pfadfinder, je nach Sichtweise. Ihre blonden, halblangen Haare standen auf eine Art ab, die sie als verhalten sexy empfand und die sowohl Frauen anlocken sollte, die ähnlich aussahen, als auch solche, die weiblicher wirkten. Diese gefielen ihr auch, sie wurde durch ihre Weiblichkeit und das erregt, was sie für ein versteckteres, chiffriertes Verlangen nach Frauen hielt. In der Bar roch es würzig und holzig. Sie zückte einen Ausweis, der der großen Schwester eines Freundes gehörte, und zeigt ihn einer Barkeeperin, die ein Retro-Bowlingshirt trug und ein kleines Tattoo von Betty und Veronica im Nacken hatte. »Was kann ich dir bringen, meine Hübsche?«, fragte die Barkeeperin, und Franny erschauderte bei dieser Anrede vor Entzücken.
»Ein Bier«, sagte sie, ohne zu ahnen, dass man eine bestimmte Marke bestellen musste. Doch die Barkeeperin wählte eines für sie aus und zementierte dadurch Franny Eisenstats lebenslange Vorliebe für Bier, vor allem Heineken, das sie sich stets in der Hand der Barkeeperin vorstellte. Franny saß auf einem wackeligen Hocker in der Ecke, trank ihr Heineken und nahm das Umfeld in sich auf wie eine Anthropologin. Die Musik stammte aus der Studienzeit ihrer Eltern, gerade lief Sweet Dreams von den Eurythmics, und sie lehnte den Kopf gegen die Wand und beobachtete das Frauengewimmel in dem Schuhkarton von Bar. Bald darauf merkte sie, dass sie angestarrt wurde, und errötete schamhaft, zog den Kopf ein und erwiderte schließlich den Blick. Ihre Scham schlug sofort in Verwirrung um, als sich die Frau, die sie im Visier hatte, als Linda Mariani entpuppte, die große, blonde Assistentin ihrer Mutter. Sie sah Franny weiter an und kämpfte sich dann durch eine Wand aus Frauen zu ihr durch.
»Franny?«, rief sie. »Franny Eisenstat? Du hier?«
Linda nahm Franny bei der Hand und führte sie nach draußen zur Treppe neben der Bar. Beide schwitzten; Lindas Seidenshirt war klitschnass, auf ihrem Gesicht glänzte das schmelzende Makeup. Sie war vierzig und lesbisch, und sie fragte Franny: »Warst du schon mal hier?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Ich habe dich noch nie gesehen. Weiß deine Mutter davon?«
»Nein.« Franny sagte das mit Nachdruck. »Warst du schon mal hier?«
Linda lachte. »Na klar. Hör zu«, sagte sie, »du solltest besser nicht in eine Bar gehen. Du bist noch zu jung.«
»Aber alt genug, um das selbst zu entscheiden.« Trotz dieser großspurigen Worte schämte sich Franny. Sie versuchte, ein vollkommen neues Selbst zu leben, und die Erfahrung wurde allmählich bizarr.
»Sei nicht so frech. Man wird dir wehtun.« Linda wischte sich das Gesicht mit einem Tuch ab, auf dem fleischfarbenes Make-up zurückblieb. Franny hatte die etwas merkwürdige Vorstellung, wie Linda Sex hatte und dabei ihr Make-up auf das Kopfkissen schmierte.
Ein weiterer abendlicher Besuch im Ben-Her führte zum ersten sexuellen Abenteuer, und zwar mit einer Frau, deren Reiz nur in jenem Augenblick wirkte, auf Dauer aber keinen Bestand hatte. Sie hatte ihren Reiz, weil Franny sich von ihr angezogen fühlte. Alana war achtzehn, hatte einen Überbiss und Haare, die aussahen, als wären sie einmal zu oft gebügelt worden. Sie arbeite im Einzelhandel, sagte sie, und obwohl sie gewöhnlich aussah und nicht sehr gesprächig war, reichte es, dass sie weiblich war und Franny begehrte, um diese Begegnung in ein unvergessliches Erlebnis zu verwandeln. Sie nahm Franny mit in das Einzimmer-Apartment ihrer älteren Schwester, das sich um die Ecke der Bar im sechsten Stock eines Mietshauses befand und mit Nippes und Bambusmöbeln dekoriert war. In den Regalen standen keine Bücher, sondern Plüschtiere mit T-Shirts, bedruckt mit Sprüchen. Ein Waschbär trug eines mit der Aufschrift »Ich bin mit Idioten unterwegs«, und daneben stand ein winziges Zebra mit dem Wort »Idiot« auf dem T-Shirt. Die in einem großen, geschmackvoll eingerichteten Haus voller originaler Kunstwerke und Bücher aufgewachsene Franny – sie trug ja sogar den Namen einer literarischen Figur – kam sich vor wie ein Snob.
Doch als Alana sagte: »Leg dich hin«, mit einer Stimme, die – wie Franny erst später begriff – durch die sexuelle Erregung fast erstickt wurde, gehorchte sie. Die über ihr aufragende Alana zog mit überkreuzten Armen ihr Hemd über den Kopf und enthüllte kleine, leicht betrübte Brüste. Dann pellte sie Franny aus T-Shirt und enger Jeans und sagte nicht unfreundlich: »Dein erstes Mal?«
»Yep«, sagte Franny bemüht fröhlich und kokett, klang jedoch überraschend amateurhaft.
»Okay. Vorab vielleicht Folgendes: Es geht darum, dass du dich wohlfühlst, klar? Um nichts anderes. Besser, du denkst gar nicht erst darüber nach, was das bedeutet oder ob wir eine Beziehung führen werden, denn ich sage dir gleich, das werden wir nicht.«
»Verstehe«, sagte Franny, und ehe sie sichs versah, fiel Alana über sie her, drückte den Mund zwischen ihre Beine – huuh, zwischen ihren Schenkeln der Mund einer Frau, die sie erfahren, geduldig und begierig leckte. Sie wurde sofort von ihren Gefühlen überwältigt, es glich dem Moment, in dem einem zwecks Anästhesie eine Maske aufs Gesicht gepresst wurde, nur dass dies das Gegenteil einer Anästhesie war, weil man nicht weniger, sondern mehr empfand. Sie gab sich willig hin.
Franny sah Alana nie wieder, war aber noch drei Mal im Ben-Her, bevor ihre Eltern herausfanden, wo sie sich während ihrer Ausflüge in die Stadt herumtrieb. Im letzten Highschool-Jahr, als sie eines Abends aus Manhattan zurückkehrte und das Haus in der Heather Lane betrat, wurde sie in der Küche von ihrer Mutter erwartet, die einen pfirsichfarbenen Bademantel trug, der aber auch die schwarze Richterinnenrobe hätte sein können. Richterin Wendy Eisenstat betrachtete sie mit ernster Gewissheit und erklärte: »Du warst in keiner Broadway-Show. Es war gelogen, dass du am Ende von Das Phantom der Oper geheult hast. Um das klarzustellen: Ich weiß, dass du in einer Frauenbar warst und dafür einen fremden Ausweis benutzt hast, übrigens eine Straftat.«
»Woher weißt du das?«, fragte Franny leise jaulend.
»Linda Mariani hat Büromaterial aus meinem Büro geklaut. Überwiegend Tintenpatronen für den Hewlett-Packard-Drucker, also nichts Großes, aber es hat sich summiert, und wir mussten sie feuern. Und als sie von den Sicherheitsleuten hinausgebracht wurde, hat sie sich im Beisein aller – hörst du? –, im Beisein aller zu mir umgedreht und gesagt: ›Ach, übrigens, Frau Richterin, Ihre Tochter ist lesbisch. Fragen Sie Franny doch mal, wo sie so hingeht, wenn sie in der Stadt ist.‹«
So kam alles heraus, und sowohl Franny als auch der Richterin war zum Heulen zumute. »Ich wünschte, ich hätte das nicht von meiner Assistentin erfahren.« Schließlich beschloss man, dass Franny eine Therapeutin aufsuchen sollte, um »alles zu klären«. Nach dem Gespräch kam Frannys Vater, der sich im Arbeitszimmer verkrochen hatte, auf leisen Sohlen auf sie zu. »Deine Mutter ist ein harter Knochen«, sagte er. »Falls es dir ein Trost ist«, fügte er leise lachend hinzu, »auf der Richterbank ist sie auch so. Aber trotz dieses Feuerwerks musst du wissen, dass wir beide an dich glauben und dich lieben. Das wird schon.« Und er schloss sie in die Arme.
Ein paar Tage später willigte Franny ein, Dr. Marjorie Albrecht aufzusuchen, die im Souterrain ihres Hauses in Larchmont, also ganz in der Nähe, eine Therapie-Praxis betrieb. Dr. Albrecht, früher Mitglied der Tri-State Modern Dance Troupe, war jetzt als Psychotherapeutin tätig. Sie war eine gertenschlanke Frau mit sonnenversengter Haut, die stets einen Gymnastikanzug trug und, wenn sie intensiv zuhörte, zwecks Dehnübung gern einen Arm über den Kopf reckte. Sie behandelte fast nur Teenager: Mädchen mit Essstörungen; Mädchen, die sich gezielt, wenn auch nur oberflächlich ritzten, um sich besser zu fühlen; Mädchen, die im Sumpf ihres Selbsthasses versanken, die Haare vor das Gesicht geschüttelt; Mädchen mit fiesen Freunden. Außerdem hatte Dr. Albrecht eine stattliche Anzahl von Patienten und Patientinnen, die sich mit dem Problem der sexuellen Identität herumschlugen.
Franny ging anfangs widerwillig hin, fand aber bald Gefallen an den Sitzungen, die am frühen Abend stattfanden. Ihre Mutter setzte sie ab und fuhr weiter zu Starbucks, um dort ein Briefing zu lesen, während Franny in der Praxis Platz nahm und mit der Therapeutin redete, die, wenn sie erörterten, was Franny beschäftigte, an irgendeinem Punkt stets vorschlug, »einen Schritt zu tun«.
»Ich hasse es, Franny genannt zu werden, ehrlich«, gestand sie eines Tages, während sie im Kellerraum mit dem glänzenden Holzfußboden, den Spiegeln und Ballettstangen herumturnten. Oben waren die Schritte der Familie Albrecht zu hören.
»Dann ändere ihn«, sagte die Therapeutin, sprang quer durch den Raum und landete wie eine Katze.
»Das geht nicht. Ich wurde nach Franny und Zooey benannt, ein Buch, das meine Eltern lieben. Das würde sie zu tief verletzen.«
»Ach, das würden sie überleben.«
»Ich könnte mich ja Zooey nennen«, schlug sie schüchtern vor, und Dr. Albrecht ergriff ihre Hand, und sie drehten sich um die eigene Achse. Also Zooey, jedenfalls für eine Woche. Doch der Name erwies sich als zu … zoo-ig, er klang zu sehr nach Tieren und am Ende auch hässlich. Durch Dr. Albrecht fand sie heraus, dass es ihr nicht missfiel, eine Frau zu sein. Stattdessen gefiel es ihr nicht, dass dieser irreführende, belanglose Name für die Weiblichkeit insgesamt stand. Wenn man hörte, dass jemand Franny hieß, konnte man daraus dieses und jenes schließen, dachte sie – zum Beispiel, dass sie total feminin sei, oder auch, dass sie leicht erröte –, und das wäre vielleicht falsch. Also beschloss sie, als sie das nächste Mal durch den Raum tanzten, Zooey zu Zee einzudampfen.
Schon erstaunlich, dass sie ihren Namen den Stunden bei Dr. Albrecht verdankte, aber noch erstaunlicher war, dass diese einen Verrat zur Folge hatten. Das merkte sie erst Jahre später. Sie wollte in der Bibliothek des Ryland College, an dem sie studierte, weil sie eine ziemlich mittelmäßige Highschool-Schülerin gewesen war, ein Buch für ihr Psychologie-Seminar besorgen, da entdeckte sie einen Band, auf dessen Rücken der Name der Autorin in großer, goldener Prägung stand. »Marjorie Albrecht, Dr. Phil.«, las sie schockiert. »Oha!«, sagte Zee laut zu den Regalreihen. Das Buch trug einen langen und langweiligen psychologischen Titel.
Sie schlug es auf und begann, darin zu lesen. Jedes Kapitel war einer anderen Fallstudie gewidmet. Das dritte Kapitel hatte die Überschrift: »Ein Mädchen namens Kew. Lesbisches Wesen als Maske und Spiegel«.
»Oha!«, sagte sie wieder.
»›Kew‹ wurde von einer Workaholic-Mutter großgezogen, die ihren Beruf höher stellte als ihre Mutterrolle und vermutlich selbst mit Zweifeln an ihrer geschlechtlichen Orientierung zu kämpfen hatte, sowie von einem ausweichenden, sanften und passiven Vater, der den zukünftigen Leidenschaften und Fantasien eines jungen Mädchens keine Grundlage bot, sondern stets schwach und distanziert blieb.
Ist es da ein Wunder, dass dieses junge Mädchen im Hinblick auf seine Sexualität und Weiblichkeit so tief verunsichert war, dass es allen Ernstes verkündete, seinen Vornamen gegen einen neuen eintauschen zu wollen, der betrüblicherweise ebenso wenig von Weiblichkeit zeugte wie die von ihm bevorzugte Art, sich zu kleiden?
Diese junge Patientin zu erleben, die sich selbst daran hinderte, die Wunder ihres weiblichen Selbst zu genießen oder sich der Liebe eines Mannes hinzugeben, tat mir im Herzen weh. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich zu spät in Behandlung begeben hatte, dass ihr nur noch die Möglichkeit blieb, einem ›lesbischen‹ Lebensstil zu frönen, sich dabei unbewusst selbst vorenthaltend, was ihr vorenthalten worden war und wonach sie sich mit einer Inbrunst sehnte, die sie nicht einmal mehr in Ansätzen zu spüren verstand.
Wir taten gemeinsam viele Schritte, ›Kew‹ und ich, und in ihren verzweifelten Bewegungen konnte ich manchmal ihr wahres heterosexuelles Selbst erkennen, das gesehen werden wollte, aber betrüblicherweise nicht mehr wusste, wie es sich bemerkbar machen sollte.«
Als Zee zu Ende gelesen hatte, schrie sie im Stillen auf, so ungerecht und beleidigend war das. Und als das Licht im schmalen Gang zwischen den Metallregalreihen mit einen leisen, seufzenden Klacken erlosch, war sie erleichtert. Sie befürchtete, im staubigen Dunkel ohnmächtig zu werden. Sie hatte sich noch nie so missverstanden gefühlt, konnte die Worte aber nicht abschütteln und fragte sich zwangsläufig, ob Marjorie Albrecht nicht doch in Teilen oder gar mit allem recht hatte. Ob ihr Bedürfnis, einen Platz einzunehmen, den sie im Grunde selbst erschaffen hatte – einen Platz, an dem eine Frau »Zee« oder »Kew« heißen und ein Smokinghemd tragen konnte, ohne das Gefühl zu haben, damit Anleihen bei den Männern zu machen oder diese auf lahme Art zu imitieren, sondern auf diese Weise die ihr angemessene, möglichst natürliche und anmutige Daseinsform auf dieser Welt fand –, nicht doch das Resultat einer psychologischen Fehlentwicklung war. Sie erzählte niemandem außer Greer von diesem Buch und stellte es nicht wieder ins Regal. Stattdessen schmuggelte sie es aus der Bibliothek und setzte es dann trotz der strengen Brandschutzvorschriften, die im Wohnheim galten, vor Greers Augen mit einem Feuerzeug in Brand.
»Wir haben zusammen getanzt«, flüsterte Zee, die sich an das herrliche Gefühl erinnerte, durch den Raum zu fliegen. »Darum tanze ich so gut. Unfassbar, dass sie das geschrieben hat.«
»Finde ich auch unfassbar. Das hast du nicht verdient, Zee. Das hat niemand verdient.«
Als die Flammen das Cover aufblähten, gab das Buch sogar ein Geräusch von sich, das an einen leisen menschlichen Schrei erinnerte, aber dieser ging sofort im Feueralarm unter, der in den Fluren des Woolley ertönte. Dr. Albrecht hatte nicht grausam sein wollen; sie glaubte an das, was sie geschrieben hatte. Und vielleicht glaubte Zee in ihrem eigenen Entsetzen auch ein kleines bisschen daran.
Sie meinte immer, man könnte heute so anders sein, wie man wollte, vorausgesetzt, man lebte im richtigen Teil der Erde. Doch obwohl das Buch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war – Zee musste der Metzger Library ein Bußgeld von fünfundsechzig Dollar für ein verschlamptes Buch zahlen – und obwohl sie sich am College mit ein paar japsenden Frauen eingelassen hatte, wurde sie manchmal von dem Gefühl überwältigt, an einem Kampf beteiligt zu sein, der ihr über den Kopf wuchs. Sie war schon von zwei älteren Frauen verraten worden: von Linda Mariani, dieser Fotze; und natürlich von Dr. Albrecht, die, wenn sie zusammen durch den Raum getanzt waren, so vertrauenswürdig und warmherzig gewirkt hatte.
Zee lenkte sich von dem Vorfall mit dem Buch ab, indem sie der grauenhaften Improvisationstheatertruppe des Colleges beitrat und mit einem anderen Mitglied schlief, Heidi Klausen, blond, europäisch, kultiviert. Sie hatte Zee von einem Schweizer Gebäck namens »Schwabenbrötli« erzählt, das sie während ihrer Jugend in Zürich gebacken hatte, und gemeint, sie könnten es ja mal zusammen backen. Also kreuzte Zee eines Tages in ihrem Apartment auf, das sich außerhalb des Campus befand, und sagte: »Zeig mir doch mal, wie man dieses Schwaben-was-auch-immer-Gebäck macht«, und Heidi willigte ein. Sie fütterten sich auf Heidis Futon gegenseitig mit den warmen Keksen. Zee begriff selbst nicht, was sie dazu trieb, sich einige Tage später mit der selbstbewussten Shelly Bray einzulassen, früher ihre Seniorstudentin im Wohnheim. Heidi bekam natürlich Wind davon, weil Shelly Bray ihre Klappe nicht halten konnte, wurde fuchsteufelswild und brüllte Zee mitten auf dem Hof ins Gesicht: »Scheiß auf dich, Eisenstat, ich habe mich dir gegenüber total geöffnet. Ich habe dir sogar gezeigt, wie man Schwabenbrötli backt!« Worauf Zee böse erwidert hatte: »Ach ja, richtig, deine Nazi-Kekse.« Nur war Heidi Schweizerin, keine Deutsche, und sie hatte auch nichts Falsches getan.
Zee schlief sich durch die Frauen oder diese schliefen sich durch sie. »Ich bin eine Schlampe«, sagte sie einmal leichthin zu Greer, als sie über den Campus zu einer späten Verabredung mit einem Mädchen ging, das sie in einem Anthropologie-Seminar kennengelernt hatte. Sie war noch nie verliebt gewesen, sondern nur kurz entflammt. Sie hatte lustvolle Räusche erlebt, rasch erlöschende Strohfeuer.
Ihr guter Freund Dog schmachtete sie während der ganzen College-Zeit an, obwohl sie ausschließlich in weiblichen Gefilden wilderte. Zee hatte bemerkt, dass er alle Frauen anschmachtete, aber für sie hatte er besonders viel übrig. Er lümmelte in ihrem Zimmer oft auf ihrem Bett. Nüchtern betrachtet sah er extrem gut aus, trug allerdings einen Bart, der eines Amischen würdig gewesen wäre. Warum steckte niemand den Männern, dass Frauen diese Haartracht nicht gefiel? Man könnte ihnen ja anonyme Nachrichten hinterlassen, etwa: »Echte Freunde lassen ihre Freunde nicht Bärte ohne Schnauzer tragen.«
Dog war einer der nettesten Menschen, denen Zee je begegnet war, und er hörte sich die Geschichten über ihre Affären eselsgeduldig an, nickte und hörte zu, war sehr verständnisvoll und einfühlsam – er hatte seit seiner Ankunft in Ryland selbst mit ziemlich vielen Frauen geschlafen, sprach jedoch nicht gern darüber, sondern überließ Zee das Feld –, aber wenn sie mit ihrem Endlosmonolog fertig war, fragte er: »Und? Versuchst du es jetzt mal mit mir?«
»Mit dir versuchen? Nein.«
»Liegt es an meinen roten Locken?«, fragte er mit einem spitzbübischen Lächeln.
»Meinst du das ernst, Dog? Ich habe dir gerade ausführlich von meinem Lesbenleben erzählt, und du willst, dass ich es mit dir versuche?«
»Würde ja reichen, wenn wir nur ein paar Sachen machen«, sagte er schüchtern und schlug die langen Wimpern nieder.
»Nein«, sagte sie. »Nichts für ungut.«
Aber dann, an einem Freitagabend nach dem Debakel mit Heidi – Greer besuchte Cory in Princeton, und Chloe war auf einer Party, und es wurde richtig spät –, legte sich Zee neben Dog, der auf ihrem Bett dämmerte, denn sie war erledigt und gelangweilt und außerdem mochte sie ihn. Er nahm sie hocherfreut in den Arm.
»Siehst du?«, meinte er. »Ist gar nicht so schlimm.«
Sie glaubte, sie würden einfach pennen, vorausgesetzt, das wäre unter diesen Umständen möglich, doch er sagte: »Darf ich?«, ergriff ihre Hand und umschloss sie kurz mit seiner viel größeren, und dann, als sie sich nicht sträubte, legte er sie auf seine Brust, dorthin, wo sich Haare aus dem Kragen seines T-Shirts schlängelten. Sie spürte sein Herz. Schließlich, nach einer Weile, legte er ihre Hand auf den härtesten und heißesten Schwanz der Welt. Ein mächtiger, glühender Brocken. Zee riss sich los.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich verzehre mich nach dir. So laufe ich die ganze Zeit auf dem Campus rum. Ist fast eine Behinderung. Man müsste mir bei Tests eigentlich mehr Zeit einräumen.«
Sie legte ihre Hand wieder darauf, aus reiner Freundschaft, sah aber nicht hin, stellte sich vor, dass sich unter seiner Hose ein haariges Nest verbarg, ebenso rot und plüschig wie sein Bart. Er war wirklich der netteste Typ auf Erden, dachte sie, während sie ihre Hand so ungelenk auf und ab bewegte wie einer der Automaten in den Arkaden den Greifarm. Er war jetzt viel zu erregt, und sie war viel zu ernüchtert. Sie wusste sofort, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf ihn einzulassen.
»Dir ist klar, dass du hier nicht pennen kannst, oder?«, sagte sie zu ihm, nachdem er lautstark gekommen war. Sie lagen immer noch nebeneinander, und seine Brust hob und senkte sich, während er sich erholte.
»Wieso? Wir könnten die ganze Nacht lang quatschen. Du könntest mir noch mehr erzählen. Fände ich super.«
»Ich will aber nicht die ganze Nacht lang quatschen, Dog. Du bist der Beste, ehrlich. Aber ich stehe nur auf Frauen. So hat Gott mich nun mal erschaffen«, ergänzte sie unsicher, weil sie Gott seit ihrer Bat-Mizwa stark vernachlässigt hatte.
Schließlich trottete er über den Flur davon und ging nach oben in sein Zimmer, das er mit Kelvin teilte, und Zee lag verwirrt und ein bisschen beschämt im Bett. Im Laufe der Zeit hatte Dog mit zig Mädchen auf dem Campus Affären, aber seine Freundschaft mit Zee hatte Bestand, und beide sprachen das, was zwischen ihnen vorgefallen war, nie wieder an. Manchmal fragte sich Zee, ob sie geträumt hatte. Sie stand auf Frauen, hatte aber trotzdem Probleme mit ihnen; es wurde oft schwierig, ohne dass sie gewusst hätte, wieso und warum.
Nach dem College hatte sie gedacht, es wäre toll, gemeinsam mit Greer für die Stiftung von Faith Frank zu arbeiten, aber das sollte offenbar nicht sein. Bei Schenck-DeVillers, ihrem ersten Job nach dem Abschluss, fühlte sie sich verloren und fehl am Platz. Als der Winter anbrach, wusste sie, dass sie einen Job finden musste, der ihr das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Und dann, eines späten Abends in der Kanzlei, erzählte ihr der Arachnodaktylie-Typ, er hieß Ronnie, dass seine Schwester bei Teach and Reach arbeite, der Non-Profit-Organisation, die College-Absolventen ausbildete und danach überall im Land als Lehrer und Lehrerinnen an staatlichen und unabhängigen Highschools unterbrachte. Die letzte Ausbildungseinheit habe im Sommer stattgefunden – ein sechswöchiger Crashkurs –, und das Schuljahr laufe natürlich schon, erzählte Ronnie, nur seien einige Leute abgesprungen, und in der Organisation sei man ratlos und werde langsam panisch. Ob Zee vielleicht an der E-Mail-Adresse seiner Schwester Interesse habe?
Zee fand es verrückt, wie leicht es war, von Teach and Reach angestellt zu werden. »Ich will ganz ehrlich sein. Wir brauchen Begeisterung für die Sache – mehr als alles andere«, sagte die Frau, mit der sie telefonierte. Und so kam es, dass Zee im späten Winter nach Chicago zog. »Ich finde es schrecklich, nicht in derselben Stadt zu leben wie du«, hatte sie zu Greer gesagt, obwohl sich die zwei Freundinnen nicht so oft gesehen hatten wie erhofft. Zee hatte ab und zu in Brooklyn übernachtet, doch ihre Arbeitszeiten hatten nur eine kleine Schnittmenge. Zee dachte nicht lange darüber nach, wieso es gerade so viele freie Lehrerstellen gab oder warum ihr der Einstieg so leicht gemacht wurde. Sie wollte ihren Job als Anwaltsassistentin endlich, endlich an den Nagel hängen und fühlte sich sogar geschmeichelt, als man ihr den Job anbot, ein Gefühl, das sich im Nachhinein als absolut unbegründet erwies.
Die Ausbildung wurde von sechs auf zweieinhalb Wochen verkürzt. »Wir glauben, dass du rasch lernst«, meinte ein Typ namens Tim, der für das Training zuständig war.
»Könntest du das aufschreiben und an meine Eltern schicken?«, erwiderte Zee. »Sie würden sich köstlich amüsieren.«
In Chicago bezog Zee eine Wohnung in einem Haus mit sechs Parteien, und ihre Eltern kamen zähneknirschend für die Miete auf, weil die Gehälter bei Teach and Reach lächerlich gering waren. »Um dir diesen Job leisten zu können, müsstest du auf einem Hausboot in China leben«, sagte Richterin Wendy.
»Aber dann könnte ich unmöglich pendeln, Richterin.«
»Mach so viele Witze, wie du willst, Franny.«
»Zee.«
»Schön, dann eben Zee. Aber ich sage dir ganz offen, dass ich mir wünsche, du würdest den Job ausschlagen«, sagte ihre Mutter, die hartnäckig Front gegen diese Veränderung machte, obwohl sie durchaus einsah, dass die Arbeit wichtig, ja sogar lobenswert war.
Nach der zweieinhalbwöchigen Blitzausbildung in einem Schulungszentrum begann Zee, an einer der unabhängigen Learning-OctagonTM-Schulen Geschichte zu unterrichten. Die Lehrerin von Teach and Reach, die sie ersetzte, hatte mitten an einem Schultag die Arme hochgerissen und gerufen: »Wer will hier schon was lernen? Und wo ist das Oktagon?«, den Job also hochdramatisch hingeworfen. Sie war eine Weile vertreten worden, aber der Lehrer kannte den methodischen Ansatz nicht, und alle sieben Schulen des Learning-OctagonTM-Netzwerks (sonderbar, dass es nur sieben waren, aber ein Gebäude hatte ein Problem mit bleihaltiger Farbe und war kurz vor Schulbeginn bis auf Weiteres geschlossen worden) waren vertraglich mit Teach and Reach verbunden. Also trat Zee ihren Job in der Schule in der South Side an, bewaffnet mit einem amtlichen Lehrplan.
Sie betrat den Klassenraum der Neunten mit der Vorstellung, dort würde das blanke Chaos herrschen, aber man schien den Schülern einen Schlaftrunk verabreicht zu haben: Um 8:20 Uhr, also am Morgen, waren sie in dem zugigen Raum im dritten Stock auf ihre Tische gesunken. Die meisten waren Afroamerikaner, mehrere hatten hispanische Wurzeln, ein paar waren weiß. Die Schüler schienen sich weder darüber zu freuen, sie zu sehen, noch darüber, in diesem Klassenraum zu sitzen, und schon gar nicht darüber, wach zu sein. Zee nahm ihnen das nicht krumm. Sie wusste noch, dass sie an der Highschool genauso empfunden hatte. Sie hätten also wenigstens eine einfühlsame Lehrerin.
»Guten Morgen«, sagte sie, schob die paar Habseligkeiten auf ihrem Tisch überflüssigerweise gerade hin und setzte sich auf den grünen, gnadenlos knarrenden Stuhl. Keine Reaktion. »Tja, vielleicht ist dieser Morgen gar nicht so besonders gut«, meinte sie. »Vielleicht ist es ja ein nerviger Morgen.«
»Ach, echt?«, sagte ein Junge. Unsicheres Lachen, danach leise Überraschung, weil Zee in das Lachen einstimmte, obwohl sie die Bemerkung nicht witzig fand. Andere Länder, andere Sitten, dachte sie. Und dann: Was mache ich hier eigentlich?
»Du wirst dich im Klassenraum manchmal unsicher fühlen, zu Anfang vermutlich sehr oft«, hatte Tim zu ihr gesagt. »Das ist absolut normal.« Daran dachte sie jetzt, als sie ihren Blick über die Klasse schweifen ließ. »Ich bin Miss Eisenstat, und ich bin heute Abend eure Lehrerin«, sagte Zee spontan. »Darf ich euch erzählen, was wir heute anzubieten haben?«
Die Schüler betrachteten sie unbeeindruckt.
»Wie meinen Sie das – ›heute Abend‹?«, fragte ein Mädchen.
»Und was meinen Sie mit ›anzubieten haben‹?«, fragte ein Mädchen weiter hinten.
Zee war entsetzt über ihren eigenen Scherz; was hatte sie sich dabei gedacht? Diese Kids gingen nicht in teure Restaurants, aßen vielleicht nie im Restaurant. Die meisten erhielten sicher kostenlose Mittagessen. Sie begriff, dass sie keine Verbindung zu ihnen herstellen konnte, indem sie absurde Witze riss oder versuchte, sich deutlich von ihrer Vorgängerin abzusetzen, die die Klasse im Stich gelassen hatte. Sie wollte, dass die Schüler sie brauchten oder wenigstens tolerierten. Sie wollte nicht, dass sie über sie herfielen und ihr das Gefühl gaben, den Job ebenfalls mitten im Schuljahr, mitten an einem Schultag hinschmeißen zu müssen.
Sich als Erwachsener in der Welt zu bewegen hieß, dass man nicht so schnell das Handtuch warf. Man konnte nicht mehr einfach ausweichen. In Ryland hatte Zee zu Beginn ein Zimmer mit einem Mädchen namens Claudia geteilt, das einen starken Körpergeruch und keine Vorstellung von der Bedeutung gründlicher Hygiene hatte. Richter Richard Eisenstat rief den Dean an, nachdem dessen Sekretärin kurz und knapp erwidert hatte, Zee müsse damit klarkommen; es gebe absolut keine Möglichkeit, jetzt noch das Zimmer zu wechseln. Nach dem Anruf des Richters trieb man dann doch noch ein Zimmer auf. Man konnte also ausweichen – offenbar vielen Dingen, den meisten Dingen. Aber dieser Sache wollte Zee nicht ausweichen, denn ihre Schüler brauchten sie. Zee ließ einen Blick über ihre unergründlichen Mienen gleiten und begann mit dem vorbereiteten Unterricht über den Zweiten Weltkrieg. Der Klassenraum verwandelte sich sofort in einen Ort der Gleichgültigkeit, gelegentlich gestört von anarchischen Ausbrüchen. An manchen Tagen waren alle taub. Sie ertappte sich dabei, die Schüler anzuflehen, ihr zuzuhören, ja sogar dabei, sie zu bestechen. Einige Kids waren regelrecht bedrohlich, etwa ein massiges Mädchen, das mit unpassend kleinkindlicher Stimme sagte: »Ich mach dich fertig«, nachdem sie von Zee aufgefordert worden war, am Ende einer Klausur den Stift wegzulegen, nur um sich gleich darauf heulend zu entschuldigen. Ständig ging es zum Schuldirektor, und manchmal musste Big Dave vom Sicherheitspersonal kommen, was die Sache stets verschlimmerte und jeden Klassenraum-Krawall weiter eskalieren ließ.
Greer rief an und sagte: »Kündige! Kündige!«, aber Zee erwiderte fast unter Tränen: »Das kann ich ihnen nicht antun. Das mache ich nicht.« An den meisten Tagen war es nicht die Angst, die ihr zu schaffen machte, sondern tiefe Frustration, teils auch Wut – ihre eigene. Trotzdem tat es ihr so leid, wenn sie daran dachte, was ihre Kids nicht hatten, nicht wussten und nicht tun konnten, dass ihr manchmal schlecht wurde. Ein Junge hatte schlimmen Mundgeruch und gestand schließlich schüchtern, keine Zahnbürste oder Zahncreme und auch kein Geld dafür zu haben; also kaufte sie ihm die Sachen. Auf Zees Bitte hin schickte Greer paketweise die Eiweißriegel ihrer Eltern, und Zee zog los und kaufte Stapel dicker Socken und Handschuhe, immer wieder Handschuhe. Sie hatte das Gefühl, trotz allem nichts bewirken zu können, nur eine weitere ahnungslose Person zu sein, die Versorgungsgüter in den Schlund eines Vulkans warf.
Und dann, eines Frühlingsmorgens, Zee wartete gerade auf den Zug, bekam sie eine SMS von Greer: »Hast du Zeit? Ist ein Notfall.« Gleich darauf telefonierten sie, und Greer teilte ihr in einer gutturalen Explosion eine furchtbare Neuigkeit mit: Corys kleiner Bruder war gestorben, nachdem er von seiner Mutter mit dem Auto überfahren worden war. Man musste ein Kind nicht unbedingt kennen, um zu begreifen, dass sein Tod das Schlimmste überhaupt war. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren konnte sich Zee diesen Tod aus der Perspektive des Kindes, der Mutter und des Bruders vorstellen, alles zugleich. Greer schluchzte, und Zee hätte gern etwas Tröstendes, etwas Beruhigendes gesagt. Aber sie führten jetzt unterschiedliche Leben in unterschiedlichen Städten, und das Sinnvollste, was Zee während der nächsten paar Wochen tun konnte, bestand darin, Greer regelmäßig SMS mit der Frage zu schicken: »Wie geht’s dir?«, obwohl sie die Antwort im Voraus kannte.
Nach einem Vormittag, der hart oder gar zum Verrücktwerden gewesen war, saß Zee einsam im Lehrerzimmer und lauschte den Erlebnissen anderer: kleine Tragödien oder haarscharf überstandene riskante Situationen, teils auch Anekdoten über bürokratischen Stillstand sowie aus dem Zusammenhang gerissene Bemerkungen über Wochenendaktivitäten wie Online-Dating oder Bowling.
Der Beratungslehrerin, Noelle Williams, die vom ersten Tag an extrem unfreundlich gewesen war, schenkte Zee besondere Aufmerksamkeit. Sie sprach Zee während des Mittagessens nie an, sondern saß in absurd kerzengerader Haltung mit ein paar Leuten aus der Verwaltung zusammen und aß geziert einen Joghurt, kratzte mit dem Plastiklöffel über den Boden und die Seiten des Bechers. Nach dem Essen bündelte sie akkurat ihren Müll, presste ihn zwischen ihren Händen zusammen. Sie hinterließ keine Spuren, niemals. Noelle Williams war neunundzwanzig, ihr kurz geschnittenes Haar enthüllte ihre wunderbar makellose Kopfform. Auf ihren zarten Ohren sprossen viele winzige Ringe, und ihre Kleidung war stets untadelig und absolut faltenlos. Zee hatte immer geglaubt, auf ihre Art stilvoll zu sein, aber Noelles Perfektion war fast ein Vorwurf.
Eines Mittags ließ sich Zee auf der durchgesessenen Couch nervös neben der Beratungslehrerin nieder, deren überdeutliches Desinteresse den Wunsch in ihr weckte, sie für sich zu gewinnen. Was hatte sie Noelle Williams getan? Zee fragte: »Wie lange arbeiten Sie schon in Chicago?«
Die Frau sah ihr direkt ins Gesicht, taxierte sie. »Seit drei Jahren«, antwortete sie. »Ich habe an der Gründung dieser Schule mitgewirkt.«
»Ah, toll!«
»Zuvor habe ich meinen Master gemacht. Und dann an einer Schule im Vorort gearbeitet.«
»Muss ganz anders gewesen sein als hier.«
»Ja«, sagte Noelle, lächelte aber nicht sarkastisch, fügte auch keine Details hinzu, um Zee zu signalisieren, dass man hier zwar unmöglich arbeiten könne, aber im gleichen Boot sitze und die Sache nur mit Ironie überstehen könne. Nein, sie war nicht ironisch, aber sie war auch nicht herzlich.
»Ich bin immer noch blutige Anfängerin«, fuhr Zee fort. »Haben Sie vielleicht ein paar Tipps für den Unterricht? Ist nicht gerade einfach, den Stoff ungestört durchzuziehen.«
»Ob ich Ihnen Tipps für Ihren Unterricht geben kann?«, fragte Noelle. »Erstens bin ich keine aktive Lehrerin. Zweitens schätze ich, dass Sie alle Tipps bekommen haben, die Sie brauchen, nicht wahr?«
Nicht wahr? Zee hätte die Worte beinahe nachgeäfft. Was für eine Fotze, dachte sie. »Na ja, ich habe an einem Crashkurs zum Geschichtsunterricht teilgenommen«, sagte Zee, »aber tatsächlich Highschool-Schüler zu unterrichten, ist natürlich etwas anderes. Und den Kids etwas beizubringen – das ist fast unmöglich. Zu viele Krisen, zu häufiges Abschalten. Manchmal bin ich ziemlich verzweifelt.«
»Ich verstehe.« Mehr sagte Noelle dazu nicht.
Es trat ein kurzes, unterkühltes Schweigen ein, das Zee nutzte, um in das Sandwich zu beißen, das sie morgens in ihrer winzigen Küche zusammengeklatscht hatte. Nun fiel der Belag aus dem weichen, pappigen Brot, ein Sturzbach von Zutaten, die man nie hätte kombinieren dürfen: Apfelscheiben, ein paar vorzeitig abgehende Babykarotten und ein Kohlstück wie eine Halskrause aus elisabethanischer Zeit, alles lose durch einen Klecks Miso und einen Spritzer fettarmer Mayonnaise aus einer Tube zusammengehalten, die sie an ihrem ersten einsamen Abend in der Bodega um die Ecke gekauft hatte.
Noelle sah zu, wie Obst und Gemüse in Zees Schoß purzelten, und war das etwa ein Lächeln? Lächelte sie angewidert, während sie zuschaute, wie Zee sich mit ihrem eigenen Essen bekleckerte? Zee tupfte ihr Shirt mit einem groben, braunen Papierhandtuch aus dem Spender ab, wobei eine fettige Spur zurückblieb, und als sie wieder aufblickte, um noch etwas zu Noelle zu sagen, sah sie, dass sich die Tür des Lehrerzimmers pneumatisch schloss und Noelle schon unterwegs war, um sich einem anderen Problem zu widmen.
So hätte es noch eine ganze Weile weitergehen können – die Beratungslehrerin grob und unfreundlich, und Zee bemüht, endlich zu ihr durchzudringen, und vielleicht hätte Noelle eines Tages zu ihr gesagt: »Was soll das, Zee? Warum hörst du nicht endlich damit auf? Kapierst du nicht, dass ich dich schlicht und einfach nicht mag?«
Aber dann, eines Nachmittags, Zee unterrichtete seit einem Monat, sagte ihre Schülerin Shara Pick: »Miss Eisenstat?«
Zee stand vor der weißen Tafel und zeichnete eine Zeitleiste, die von 1939 bis 1945 reichte. Ein paar Schüler zeigten echtes Interesse, insbesondere einer, Derek Johnson, der schon alles über den Krieg wusste und mündlich sehr aktiv war. »Ja?«, sagte Zee.
»Darf ich kurz zur Toilette?«, fragte Shara, und dann stand sie auf, schwankte vor ihrem Tisch hin und her. Sie musste aufs Klo, und zwar sofort. Sie war ein weißes Mädchen mit der Figur einer Hummel und hinterließ eine Spur der Verwüstung, egal, wohin sie ging. Zerknüllte Zettel, klecksende Stifte, winzige Plastikperlen unbekannter Herkunft. Sie wurde in der Klasse meist ignoriert, als bemitleidenswert und asozial abgestempelt und gehörte nirgendwo dazu. In der Mittagspause aß sie einsam eine Tüte Doritos, die sie als Mahlzeit bezeichnete, und starrte ins Leere. Die stellvertretende Direktorin hatte Zee darüber informiert, dass Shara als »Risiko« eingestuft wurde. Ihre Eltern waren Meth-Süchtige, die sich in der Entzugsklinik die Klinke in die Hand gaben, und sie war mit ihren Schwestern kürzlich zu ihrer liebevollen, aber halb blinden Großmutter gezogen.
Im Vorjahr waren ihre Eltern vollkommen zugedröhnt zum Elternabend erschienen. »Eine Katastrophe«, hatte man Zee erzählt, und sie hatte daraufhin genauer auf Shara geachtet, die im Unterricht stets einen Mantel mit einer Eskimokapuze trug, wie sie auf dem Cover eines alten Albums von Paul Simon abgebildet war, das ihre Eltern früher oft gehört hatten. Shara döste gelegentlich ein, und Zee fragte sich beunruhigt, ob das Mädchen Drogen nahm. Wenn im Unterricht ein Aufsatz geschrieben wurde, saß sie jedoch in einer Pose rührend kindlicher Konzentration da, tief über den Tisch gebeugt, die Ellbogen nach vorn geschoben, die Zungenspitze zwischen den Lippen, und schrieb verblüffend leidenschaftliche Texte. Vielleicht hatte sie ein verstecktes Interesse, eine verborgene Begabung.
»Ja, geh nur«, sagte Zee, die eine Reihe von Kriegsursachen auf der weißen Tafel notierte. Sie schrieb und schrieb, und das mit so winziger Handschrift, dass es aussah, als wäre die Tafel von Maschendraht bedeckt. Es gab nur wenige Schüler, die das Geschriebene in ihr Schulheft kopierten. Andere sahen sie aufmerksam oder verständnislos oder wie in einem Tagtraum an, und ein ganz vorn sitzender Junge namens Anthony zeichnete Schädel und Teufel in sein Schulheft, alles sehr detailliert und durchaus beeindruckend, aber vielleicht Ausdruck eines Interesses am Satanismus, das man der Schulleitung melden musste.
Ein Mädchen in der letzten Reihe bearbeitete seine künstlichen Fingernägel, wobei es sein Schulheft als Unterlage benutzte, und der beißende Geruch drang bis nach vorn. Er breitete sich immer weiter aus, der Filzstift, mit dem Zee schrieb, quietschte ab und zu auf der Tafel, und die Teenager rutschten auf ihren Stühlen herum. Einer jaulte lange wie ein Wolf, um Lacher zu ernten. Dieser Nachmittag hatte eine unterzuckerte Qualität, und in dreizehn Minuten wäre die Stunde zu Ende. Zee würde sie noch kurz etwas ins Schulheft schreiben lassen, vielleicht erlauben, dass einer einen Song auf dem Handy spielte, denn das sorgte für eine allgemeine Bündelung der Konzentration. Plötzlich wurde ihr mit der Schärfe des Geruchs bewusst, dass Shara noch nicht von der Toilette zurückgekehrt war. Sie bat Taylor Clayton, nach ihr zu schauen, und obwohl diese sehr zurückhaltend war, stürmte sie kurz darauf wieder in den Klassenraum, schlug gegen den Türrahmen und sagte: »Mit Shara stimmt was nicht!«
Shara lag in einer Klokabine zusammengekrümmt auf dem Fußboden. Mithilfe des zum Dienst gepressten Anthony gelang es Zee, sie zur Krankenstation zu schaffen. »Es tut so weh«, heulte Shara, die ihren Bauch umklammerte und sich vor und zurück wiegte.
Die Krankenschwester zeigte in einer anderen Klasse gerade einen Film über Drogen, und in dem kleinen, grünen Raum saß nur ihre Helferin, die Zungenspatel einzeln in ein Glas tat – Plong, Plong, Plong – und ein entsetztes Gesicht zog, als Shara halb hereingetragen und halb hereingeschleppt und dann auf die Liege gelegt wurde.
»Ich hole Jean«, sagte die Helferin der Krankenschwester und flitzte los, wobei sie Zungenspatel verstreute.
»Er soll auch verschwinden«, sagte Shara und zeigte auf Anthony.
Der Junge rannte erleichtert hinaus. Zee setzte sich neben Shara, streichelte ihre Arme und sagte, was ihr gerade so einfiel. »Sicher eine Blinddarmentzündung. Mein Bruder hatte mal eine. Er hat die ganze Nacht geschrien.« Sie redete schnell und zerstreut. »Aber nachdem man ihn entfernt hatte, ging es ihm besser, und so wird es auch bei dir sein. Wusstest du, dass der Blinddarm überhaupt keine Funktion mehr hat?«, fügte sie hinzu, denn ihr fiel nichts anderes ein, und sie wollte Shara von ihren Schmerzen ablenken.
»Nein«, wimmerte das Mädchen.
»Tja, stimmt aber.«
Dann wurde ihr bewusst, dass jemand hinter ihr stand, und als sie aufsah, erblickte sie Noelle Williams. »Was hast du, Shara?«, fragte die Beratungslehrerin mit ihrer ruhigen Stimme.
»Ich bin krank.«
»Sicher eine Blinddarmentzündung«, meinte Zee.
»Und das wissen Sie woher? Aus Ihrem Medizinstudium in Harvard?«, erwiderte Noelle.
»Na ja …«
»Oder lernt man das bei Teach and Reach?«
Zee brodelte innerlich, schwieg aber. So etwas gehörte sich nicht; das Mädchen litt. Noelle bückte sich und zog vorsichtig den Reißverschluss von Sharas Mantel auf, eine Maßnahme, an die Zee nicht gedacht hatte. Dann teilte sie den Mantel, und beide sahen, dass sich Sharas Bauch verblüffend rund unter dem Pullover wölbte.
»Darf ich deinen Pullover hochziehen?«, fragte Noelle, und Shara nickte. Die Haut ihres Bauches war straff gespannt und glänzte, der Bauchnabel war nach außen gestülpt und groß wie ein Radiergummi, darunter verlief ein senkrechter, dunkler Streifen, linea nigra genannt, wie Zee erfuhr, als sie später am Computer alles nachlas, jeden einzelnen Moment Revue passieren ließ, auf eine Art in die Recherche vertieft, die eher für Greer typisch war.
Doch in jenem Moment, im Büro der Krankenschwester, waren Zee und die Beratungslehrerin absolut ahnungslos und sahen einander über Shara Pick hinweg erschrocken an. Dann sagte Noelle zärtlich zu Shara: »Hast du gewusst, dass du ein Baby bekommst, Süße?«
»Vielleicht, ja, irgendwie schon.«
»Tja, so ist es, und Miss Eisenhower und ich werden dir helfen.«
Zee berichtigte sie nicht. Von da an ging alles ganz schnell. Sie riefen 911, Shara stöhnte tief in der Kehle, spreizte die Beine und bog den Rücken durch.
»Ich schaue mal, was zu tun ist«, sagte Noelle und setzte sich an den Tisch der Krankenschwester, während Zee auf Shara einredete, sie aufforderte, nicht zu pressen, noch zu warten, die Beine zusammenzuhalten. Warum war Krankenschwester Jean noch nicht da? Noelle gab ein Passwort in den alten, beigefarbenen Desktop-PC von Dell ein, mit Erfolg. Sie tippte bei Google die sparsamsten Stichworte ein, die ihr einfielen. Wie sich zeigte, konnte sie hervorragend googeln.
Noelle fand rasch eine bebilderte Unterweisung für den Fall, dass man als Laie ohne Ausrüstung bei einer Geburt helfen musste. »Okay, hier ist eine Anleitung«, sagte Noelle und las dann ruhig und gelassen vor: »Wie kann ich eine Frau während der Wehen unterstützen?«
Sie schafften es irgendwie, Shara davon abzuhalten, das Baby in ihre Laienhände zu pressen. Schließlich kehrte Jean zurück, unmittelbar gefolgt von einem Sanitäterteam, Mann und Frau, beide jung und kompetent, die die Sache sofort in die Hand nahmen. »Pressen, Shara«, meinten sie, nachdem sie sich ein Bild von der Situation gemacht hatten.
Und dann erschien der Kopf, das Gesicht erschien – und sobald dieser eindeutige Ausweis der Menschlichkeit zu sehen war, schien alles andere zum Stillstand zu kommen. Sobald ein Gesicht da war, staunten alle. Wie beim Tod. Jeder wusste, dass es den Tod gab, dachte Zee, das wussten fast alle von Kindesbeinen an. Die Zeitungen waren voller klein gedruckter Todesanzeigen und Nachrufe, und manchmal blickten Zees Eltern von der Zeitung auf, wenn sie vor dem Aufbruch zum Gericht ihren Frühstücks-Smoothie tranken, und sagten leise zueinander: »Oh, hast du auch gesehen, dass Carl Sagan gestorben ist?«
Zee dachte an Cory Pintos kleinen Bruder – tot. Sie dachte an die Gesichter aller Menschen, die sie kannte, zitternd in der Gelatine ihrer Gegenwärtigkeit. Ja, Gesichter waren überwältigend, jene, die gingen, und jene, die kamen, und nun wurde sie von diesem Gesicht überwältigt.
Plötzlich bemerkte Zee, dass sich irgendetwas um den Hals des Babys gewickelt hatte. Es war die Nabelschnur, sie erinnerte Zee an das Fahrradschloss, mit dem sie ihr Schwinn-Rad auf dem Campus des Ryland abgeschlossen hatte. Sie beobachtete, wie die Sanitäter die Nabelschnur entfernten. Es sah aus, als würden sie Zees Fahrradschloss bei Regen ablösen, das glitschige Ding, dessen Oberfläche etwas sehr Komplexes zu verbergen schien, aus den Speichen fummeln. Der Kopf des Babys kam ganz zum Vorschein.
»Mach weiter, Shara«, sagte der Sanitäter zärtlich.
»Noch mal pressen, Shara«, kam das Echo von Jean, der Krankenschwester.
»Du schaffst das«, sagte Zee.
Und dann sagte Noelle: »Du machst das toll!«
Shara presste heldenhaft, und dann ertönte ein Geräusch wie ein Stiefel, der im Matsch versank, und die Schultern des Babys kamen zum Vorschein. Wie sich zeigte, war das menschliche Gesicht mit einem menschlichen Körper verbunden, die Genitalien waren prall und geschwollen und verkündeten: Mädchen.
Sie mochten einander nicht, hatten aber das verzweifelte Bedürfnis, Druck abzubauen, und so aßen Noelle Williams und Zee Eisenstat in einem nahen Restaurant ein frühes Abendessen. Der Arbeitstag hatte für beide geendet, als Sharas Großmutter eingetroffen und alles im grünen Bereich war, jedenfalls in medizinischer Hinsicht. Zee wollte ihre verängstigte Schülerin ins Krankenhaus begleiten, aber Jean, die Krankenschwester, hielt das für ihre Aufgabe. Zee und Noelle konnten nichts mehr tun.
Noelle entschied sich für ein kleines, holzgetäfeltes Soul-Food-Restaurant namens Miss Marie, wo ausgezeichnete Musik lief, unter anderem Smokey Robinson & the Miracles. Man stellte ein Schälchen mit eingelegten grünen Tomaten auf den Tisch, und als Zee spürte, wie die Haut einer Tomate unter ihrem stumpfen Messer nachgab, wusste sie, dass es ihr gelingen würde, sie zu zerteilen. Immerhin hätte sie heute fast ein Baby auf die Welt gebracht. Das Baby eines Babys.
Arme Shara Pick, dachte sie. Armes kleines Pick-Baby. Sie konnte für ihre Schüler nicht mehr tun, als Zahnbürsten und Socken zu kaufen, bei Entbindungen zu helfen und währenddessen immer wieder traurig, zornig oder verängstigt zu sein. »Und was wird jetzt?«, fragte sie. »Ihre Familie ist ein einziges Chaos.«
»Ja, ich weiß. Ist wirklich traurig«, meinte Noelle. »Ihre Eltern waren mal in der Schule, sie konnten sich damals kaum aufrecht halten. Keine Ahnung, wie es ihnen inzwischen geht. Der Sozialarbeiter fährt heute Abend ins Krankenhaus, und wir sind morgen dort, aber es sieht nicht gut aus.«
»Darf sie wieder zur Schule gehen?«
»Sicher. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Nur weiß ich nicht, was sie selbst vorhat. Wir haben ein Programm für Mütter, aber ganz ehrlich: Das ist doch furchtbar. Warum ist niemandem aufgefallen, dass sie schwanger war? Bei der nächsten Sitzung müssen sich alle diese Frage stellen, ob Lehrkörper oder Verwaltung. Und ich werde eine Krisensitzung einberufen, weil niemand etwas gemerkt hat. Es reicht nicht zu sagen: ›Das Baby war so klein‹, obwohl das natürlich stimmt. Das Kind ist nicht größer als eine Handpuppe. Die Sanitäter meinten aber, es gehe ihm gut. Klein, aber fein. Die Lungen hörten sich gut an.«
»Schrecklich, dass ich nichts bemerkt habe. Aber ich konnte nichts sehen. Shara hat im Unterricht immer einen Parka getragen«, sagte Zee.
»Das allein war schon ein Warnsignal.«
»Das wusste ich nicht.«
»Natürlich nicht.«
Zee fragte sich, wie viel sie von der Beratungslehrerin noch würde einstecken müssen. Warum brachte Noelle ihr eine so tiefe Abneigung entgegen, sogar jetzt, nach allem, was sie an diesem Tag gemeinsam durchgestanden hatten, nach dem ganzen blutigen Drama?
»Was habe ich Ihnen eigentlich getan, Noelle?«, fragte sie.
Das Erscheinen der Kellnerin stoppte die Auseinandersetzung, und sie bestellten verhalten. Hühnchen für Noelle, ein vegetarisches Potpourri für Zee. Als Vegetarierin war man in Restaurants auf Mischmasch abonniert.
Noelle sah sie mit einem Blick an, der überraschenderweise nicht feindselig war. »Zee«, sagte sie, »es liegt nicht an Ihnen persönlich. Na ja, irgendwie doch. Es liegt an Ihrem vertrauensvollen Wesen. Ihrem Idealismus.«
»Und ich dachte immer, das wären gute Eigenschaften.« Zee ließ das Bier im Glas kreisen und hatte plötzlich den Wunsch, es mit Greer zu trinken und nicht mit dieser unfreundlichen Frau. Alle erklärten Chicago für toll. »Das Art Institute«, riefen sie. »Das Nachtleben. Die Musik. Der See.«
Zee hatte bis jetzt sehr wenig unternommen und gesehen, denn es war nicht einfach, sich mit einer Stadt anzufreunden, wenn man ganz allein dort war. Zee fand es jedenfalls nicht einfach. Vielleicht konnte sie Greer zu einem Wochenendbesuch überreden. Sie konnten gemeinsam an das Ufer des glitzernden Sees gehen, Steine ins Wasser werfen und darüber reden, was in ihrem Leben dunkel und was rosig war. Aber diese unfreundliche Frau hatte Befehlsgewalt über Zee. Das war unverdient, aber eine Tatsache. Ihr fiel auf, dass Noelle einen sexy Hals hatte.
»Das sind gute Eigenschaften, jedenfalls in einem luftleeren Raum«, gab Noelle zu. »Aber wenn meine Kids missbraucht werden, halte ich diese Eigenschaften für nutzlos.«
»Ihre Kids?«, fragte Zee. »Sind es nicht auch meine?«
»Sie betrachten die Schüler als Ihre Kinder?«
»Warum denn nicht? Wissen Sie, was? Ich glaube, ich hätte etwas mehr Nachsicht verdient«, sagte Zee. »Ich bin neu, ich wurstele mich durch, und heute habe ich diese Sache durchgemacht. Ich bin bei Teach and Reach eingestiegen, um etwas Positives zu bewirken. Ehrlich. Und wenn das nicht klappt, tja, dann bin ich mit meinem Latein am Ende. Trotzdem hassen Sie mich, seit ich an diese Schule gekommen bin.«
»Glauben Sie wirklich, es ginge um Sie?«, erwiderte Noelle. »Sie sind nur ein Rädchen im Getriebe von Teach and Reach, also überschätzen Sie sich nicht. Wir hatten einen harten Tag, klar, und wir haben ihn gemeinsam erlebt, ja, aber wenn ich Sie hassen würde, dann würde ich hier jetzt nicht mit Ihnen sitzen. Dann wäre ich sofort auf Abstand gegangen.«
»Oh, dann soll das heißen, dass Sie mich mögen? Ganz schön verwirrend. Denn Sie wirken nicht so.«
»Wenn Sie wollen, dass ich Sie mag, müssen Sie noch härter arbeiten. Klingt aber realistischer als Ihr anderes Ziel«, sagte Noelle. »Nämlich die Rettung der Schüler des Learning-Octagon-Netzwerks.«
»Sie brauchen jede Unterstützung.«
»Aber nicht Ihre, Süße.« Sie murmelte dieses Wort. Es war dasselbe, das sie während der Geburt gegenüber Shara benutzt hatte; da war es zärtlich gewesen, nun klang es scharf und lieblos.
»Von wem denn sonst? Wer hilft einem Oktagon aus sieben Schulen, an denen die Schüler mit weniger als nichts beginnen? Mir ist klar, dass ich privilegiert bin. Ich bin in Scarsdale, New York, aufgewachsen. Disqualifiziert mich mein sozialer Hintergrund für diesen Job? Muss ich die gleichen Erfahrungen gemacht haben wie meine Schüler?«
»Meine Mutter ist Büroleiterin bei einem Allergologen, hier in Chicago. Solide Mittelschicht«, sagte Noelle. »Sie hat meine Schwester und mich allein großgezogen, nachdem mein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist, als ich fünf war. Trotzdem hatten auch wir alles, was wir brauchten. Musikunterricht, kieferorthopädische Behandlung, jede Menge Bücher im Regal, ein geregeltes Leben. Das ist die starke Seite meiner Mutter. Ich finde also nicht, dass jeder Lehrer den gleichen Hintergrund haben muss wie die Schüler.«
»Was meinen Sie dann?«
Noelle beugte sich über den Tisch zu ihr hin, und die plötzliche Nähe eröffnete Zee eine neue Perspektive. Es war unnötig, sich von Noelle einschüchtern zu lassen oder ihre Erscheinung zu bewundern. Sie hatte nichts mit älteren Frauen wie Linda Mariani oder Dr. Marjorie Albrecht gemeinsam, die Zee auf üble Art verraten hatten, ja nicht einmal mit Faith Frank, von der sie natürlich nicht verraten worden war, die aber trotz ihres von Herzen kommenden Briefes kein Interesse daran gezeigt hatte, sie einzustellen. Noelle Williams erwartete nichts. Zee musste sich nicht verletzt fühlen. Wenn sie wollte, konnte sie auf Konfrontationskurs gehen.
»Uns wurde weisgemacht«, sagte Noelle, »eine engagierte Schwadron von Lehrern und Lehrerinnen würde auf ihren ebenso engagierten Rössern anpreschen und unsere Schulen retten. In Wahrheit kam eine Truppe blauäugiger Möchtegern-Lehrer, alle frisch vom College und unvorbereitet, abgesehen von einem Crashkurs, der kürzer ist als die Ausbildung eines Klimatechnikers. Und da sagt man uns, dass wir dankbar sein sollen. Man sagt uns, das genüge. Man sagt uns, dass wir Leuten wie Ihnen, die einen schlecht bezahlten Job annehmen, um Gutes zu tun, Achtung entgegenbringen müssen. Obwohl das in Wahrheit nicht reicht, nein, jedenfalls nicht in meinen Augen. Manche Kollegen sehen das anders. Sie finden Teach and Reach gut, halten es für ein lobenswertes Unterfangen, das unsere Unterstützung verdient. Aber man muss wohl darauf hinweisen, dass sich seit dem Auftauchen der Lehrer von Teach and Reach nichts verbessert hat.
Mein einziger Trost ist unser Präsident. Ein Farbiger. Brillant und gütig. Ich liebe ihn wirklich. Aber man wird sehr lange brauchen, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen, und mit Teach and Reach geht es noch weiter bergab. Das Programm verträgt keine Kritik und wird sich deshalb niemals ändern. Es versucht nur, unsere Schulen so umzumodeln, dass sie nach einem ökonomischen Prinzip funktionieren. Erfahrene Lehrer werden rausgekickt, aber Teach and Reach macht weiter. Es entwertet den Lehrerberuf. Und es zielt natürlich auf farbige Communities ab. An einer weißen Schule wäre es undenkbar. Und wissen Sie, was passieren wird? Es gibt Kräfte, die schon auf der Lauer liegen, weil sie wissen, dass ihre Stunde schlagen wird. Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen sind keine schlechten Menschen, schon klar, aber Sie sind weder geschult noch vorbereitet, und Sie machen diesen Job nur vorübergehend. Sie sind nicht auf Dauer hier, damit rechnet auch niemand. Sie möchten nach dem College etwas Gutes bewirken, und sobald Sie diese Erfahrung gehabt haben, werden Sie etwas anderes machen. Wahrscheinlich etwas weniger Gutes, aber finanziell Lukrativeres. Daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf, Zee. Ich würde das auch tun, wenn ich Sie wäre. Aber wir brauchen Leute mit Durchhaltevermögen. Weil alles noch viel schlechter werden wird – und was dann?«
»Sie meinen also, ich soll sofort das Handtuch werfen?«
Noelle sah sie fest an. »Glauben Sie das wirklich? Nein, das meine ich natürlich nicht. Das können Sie den Kids nicht antun, nicht mitten im Schuljahr, nicht wie manch anderer Lehrer. Die Schüler sehnen sich nach Stabilität. Sie bleiben, Sie ziehen das Schuljahr durch, Sie geben Ihr Bestes, und danach treffen Sie eine Entscheidung. Schauen Sie … ich bin mir sicher, dass Sie ein feiner Mensch sind, und ich bin überzeugt, dass Sie sehr bemüht sind – wie drücken Sie das aus? –, sich zu engagieren. Ich kenne das Gefühl. Ich hatte es selbst. Aber manchmal besteht Engagement einfach darin, sein Leben zu führen, man selbst zu sein und an seinen Werten festzuhalten. Engagement kann auch darin bestehen, sich treu zu bleiben. Dabei kommt vielleicht nichts Großes raus, aber irgendetwas erreicht man doch.«
»Das habe ich anders gesehen«, sagte Zee leise. Noelle nickte. »Alles ging ziemlich rasant. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt und als Anwaltsassistentin gearbeitet. Ich habe es gehasst wie die Pest. Meine beste Freundin arbeitet für Faith Frank, die eine Stiftung für Frauen leitet, und ich hatte gehofft, auch dort arbeiten zu können. Aber das hat nicht geklappt. Ich musste raus aus der Anwaltskanzlei, vom Haus meiner Eltern ganz zu schweigen. Richterin Wendy Eisenstat hat mir allerdings überdeutlich verklickert, dass ich genug zum Leben verdienen muss, egal, was ich tue.«
»Wer?«
»Meine Mutter.«
»Sie nennen sie ›Richterin Wendy Eisenstat‹?«
»Ja. Oder ›Richterin Wendy‹. Das macht sie rasend. Sie möchte lieber mit ›Mom‹ angeredet werden. Aber sie war von Anfang an eine extrem richterliche Erscheinung, ehrlich. Wenn sie mir im Traum erscheint, trägt sie manchmal eine Robe. Mein Vater auch, Richter Eisenstat. Er ist allerdings nachsichtiger.«
Noelle lächelte. War das ihr erstes Lächeln? Jedenfalls das erste unzweideutige. »Dann nehme ich mal an«, sagte sie, »dass Sie nicht Eisenhower heißen.«
»Nein.«
»Sie haben mich nicht berichtigt.«
»Ich dachte, Sie wären sonst befangen.«
»Berichtigen Sie Ihre Schüler?«, fragte Noelle.
»Ja. Bei Teach and Reach hieß es, das solle man tun.«
»Tun Sie immer, was Ihnen gesagt wird?«
»Wenn man mich nett bittet.«
»Tja, dann werde ich wohl lernen müssen, Sie nett zu bitten«, sagte Noelle. »Merke ich mir.«
Zee schwieg, während sie versuchte, diese Wendung des Gesprächs nachzuvollziehen. »Ja, gute Idee. So könnten Sie vielleicht sogar Resultate erzielen«, meinte sie schließlich. »Etwas Sinnvolleres als Testergebnisse. ›Wir lassen keine Frau zurück.‹«
Das Gespräch hatte plötzlich etwas Neckisches; sie waren von Reibereien über eine Geburt und einen zornigen Monolog auf diese neue, ungewisse Ebene gelangt. Ich bin total verwirrt!, dachte Zee, die Noelles kleines, reich verziertes Ohr betrachtete. »Ist Ihre Mutter sehr mütterlich?«, wollte sie unvermittelt wissen.
»Mittel. Sie gleicht eher dem Steward auf einem Schiff. Wenn auch auf einem schönen Schiff. Und Ihre?«
»Sie hat ihre Sache gut gemacht. Ich kann mich nicht beklagen. Bei Sharas Anblick musste ich daran denken, dass sie sich jetzt in die Parade einreiht. Oder?«
»Welche Parade?«
»Na, die jener Mütter, die eine weitere potenzielle Mutter zur Welt bringen. Sie wusste ja noch nicht mal genau, ob sie schwanger ist«, sagte Zee und stocherte auf ihrem Teller herum. »Ist unvorstellbar für mich«, ergänzte sie.
»Ein Baby zu bekommen?«
»Ja. Ich habe meinen Körper mitsamt seinen Fortpflanzungsorganen fast nie unter dem Aspekt des Gebärens betrachtet. Als Jugendliche war ich bei einer Bewegungstherapeutin, die offenbar glaubte, ich würde meine Weiblichkeit verleugnen. Habe ich aber nicht! Habe ich nie. Ich mag es, ein Mädchen zu sein. Nur möchte ich selbst definieren, was das bedeutet. Plötzlich zu gebären, ohne zu wissen, wie mir geschieht – das wäre meine ganz persönliche Vorstellung von der Hölle.«
»Das wäre für jede die Hölle.«
Zee fragte plötzlich leidenschaftlich: »Erfahren wir wirklich, was aus Shara und ihrem Baby wird? Können wir sie besuchen? Oder hören wir nie wieder etwas von ihr, wenn sie nicht an die Schule zurückkehrt?«
»Ich sorge dafür, dass wir informiert bleiben. Ich würde Shara gern helfen. Ich möchte nicht, dass sie durch irgendwelche Raster fällt.«
»Sie ist ziemlich verkorkst, aber sie mag Geschichte. Sie ist gut mit Daten«, sagte Zee. Vielleicht war das eine kleine Übertreibung, aber sie wollte es festhalten. Irgendjemand musste seine Stimme erheben und darauf hinweisen, dass Shara mehr war als die Gebärerin eines Babys, das sie vielleicht bald in die Arme einer anderen legte, mehr als eine Ansammlung unkontrollierbarer Einzelteile. »Sie muss schreckliche Angst gehabt haben«, sagte Zee. Der Körper tat nicht immer wie geheißen. Er hatte eigene Vorstellungen, eigene Ziele. Zee hatte zum Beispiel gerade das Gefühl, als wäre ihr Körper eine Stimmgabel, die auf Noelles sehr spezielle Tonhöhe reagierte.
»Sie wirken verängstigt.«
Zee hob den Blick. »Das war ja auch beängstigend. Absolut schockierend.«
»Ich meine nicht durch Shara. Sondern durch mich«, sagte Noelle mit verhaltener, fast amtlicher Stimme.
»Ja, klar«, gestand Zee. »Sie können manchmal beängstigend sein.«
»Ich bin also jemand, die Ihnen Angst macht? Mehr nicht?«
Zee überlegte in aller Ruhe, was hier lief – was die veränderte Stimme Noelles zu bedeuten hatte. Es lag etwas Intimes in der Luft; Noelle spürte das sicher auch. Denk nach, denk nach, dachte Zee und fragte sich, ob sie irgendeine Interpretation übersehen hatte. Doch ihr fiel nichts ein. Nach einer Krise trat meist Ruhe ein, doch auf die Geburt folgte eine neue, andersartige Krise. »Nein«, sagte Zee. »Nicht nur.«
»Was noch?« Das klang nach einer offenen Herausforderung.
Zee war ratlos und sagte nur: »Das ist jetzt echt schräg.«
»Fühlen Sie sich unwohl?«
»Ich weiß nicht, was hier läuft.«
»Wirklich nicht?«
»Na ja, doch. Irgendwie schon«, sagte Zee.
»Ist das okay?«, fragte Noelle, und Zee nickte.
Beide wussten nicht, wie sie das Gespräch fortsetzen sollten. Sie aßen weiter, tranken ihre kalten Biere und teilten sich danach einen Bananenpudding, tauchten ihre Löffel in dieselbe beigefarbene Masse, was Zee daran erinnerte, wie Noelle im Lehrerzimmer einen Joghurt gegessen und dabei das Tock-Tock-Geräusch verursacht hatte, das nach kleinen Hufen klang, die über Plastik galoppierten. Das Geräusch einer Frau, die das aß, was weltweit als typisch weibliches Nahrungsmittel galt: Joghurt. Frauen und ihr Kalziumbedarf. Man würde wohl an jedem beliebigen Ort auf der Welt Frauen finden, die einen Joghurt aßen.
»Die Rechnung?«, fragte Noelle. Sie winkte nach der Kellnerin, war angetrunken, wie Zee mit leiser Sorge bemerkte, denn vielleicht war ihre leichte Betrunkenheit die wahre Ursache für ihr Interesse an Zee. Vielleicht hatte sie das Bier zu diesem Flirt veranlasst, und vielleicht wäre sie später entsetzt über sich selbst, weil sie als Beratungslehrerin an einer unabhängigen Schule eigentlich total normal war.
»Sie sind angetrunken«, sagte Zee. »Sind Sie deshalb so drauf? Wegen der drei Biere?«
»Nein«, antwortete Noelle. »Ich habe das dritte Bier bewusst bestellt, weil ich schon vorher so drauf war.«
»So drauf.«
»Von Ihnen angezogen.«
»Oh.«
Noelle zog mit einem Finger eine senkrechte Schneise durch die Kondensation auf ihrem Bierglas. Wie kam es, dass die Worte »von Ihnen angezogen« einschlugen wie ein Blitz? Es erschlug Zee, dass sich Noelle Williams, diese herrische Beratungslehrerin, eine etwas ältere, afroamerikanische und unfassbar elegante Frau, von ihr angezogen fühlte.
»Na dann«, sagte Zee, und beide lachten.
Schon verrückt, dass vieles, was sie nach diesem Abend taten, von einem solchen Lachen begleitet werden sollte, obwohl es manchmal ein Lachen der Hilflosigkeit angesichts von Dingen war, die sie nicht ändern konnten. An der Schule kam es zu weiteren Katastrophen: Ein Junge wurde auf dem Heimweg so schwer verprügelt, dass er ein Auge verlor; ein anderer Lehrer des Teach-and-Reach-Programms warf das Handtuch; aufgrund eines kaputten Heizungsboilers fiel der gesamte Schulunterricht zwei Tage lang aus.
Doch an dem Abend nach der Geburt von Sharas Baby gerieten sie, aus dem Restaurant auf eine stille Straße tretend, in ein plötzliches Schneegestöber – Frühlingsschnee, denn dies war Chicago – und stiegen in die Bahn, mit der sie schweigend zu Zees Apartment fuhren, weil Noelles Wohnung über vierzig Fahrminuten entfernt war und weil diese vierzig Minuten den Zauber zerstört hätten. Gott sei Dank ist die Bude sauber, dachte Zee, als sie das Licht anknipste.
»Studentisch«, erklärte Noelle, und Zee sah das Zimmer mit ihren Augen: auf dem Sofa die Decke mit dem folkloristischen indischen Muster; an einer Wand der gerahmte Handzettel, der Faith Franks Jahre zurückliegende Rede in der College-Kapelle ankündigte; die Clementinen in der blauen Schüssel; ein Foto, das Zee und eine andere Frau, sicher eine gute Freundin, in Abschlussroben zeigte. Das Dasein in Chicago, in das sich Zee Eisenstat einzuleben versuchte.
»Ich kann nicht anders«, meinte Zee. »Ich war so lange Studentin, dass ich nur diese eine Lebensweise kenne.«
»Ich weiß noch, wie das war«, sagte Noelle. Dann zog sie Zee entschlossen bei den Schultern zu sich heran, was ebenso erleichternd wie berauschend war. Sie küssten sich lange und ohne Eile. Als sie sich auf die schmale Matratze legten, die Zee nach ihrem Umzug auf einem privaten Flohmarkt gekauft und auf dem Heimweg über sieben Blocks wie ein Sherpa auf dem Rücken getragen hatte, musste sie unwillkürlich über Macht nachdenken: Wer hatte sie, die ältere Frau oder die jüngere Frau? Macht konnte ein Rätsel sein. Man konnte sie weder messen noch eichen. Man nahm sie kaum wahr, selbst wenn man sie direkt vor Augen hatte.
»Das war das Thema der ersten Loci-Tagung«, hatte Greer kürzlich am Telefon gesagt, als sie auf das Thema gekommen waren. »Bedeutung und Ausübung von Macht.«
»Die Tagung, die du wegen Corys Bruder verpasst hast.«
»Ja. Aber alle, die dort waren – der Rest des Teams –, meinten, es sei ein Thema, das wir bestimmt wieder aufgreifen, weil es immer einen Reiz hat. Jeder findet es spannend. Macht! Schon das Wort ist mächtig.«
»Stimmt«, sagte Zee. »Und zugleich eine Aufforderung: Macht mal.«
In einer Welt weiblicher Macht zu leben – geteilter Macht – kam Zee vor wie ein langersehnter Traum. Macht zu haben bedeutete, dass die Welt einer Weide mit offenem Tor glich, dass einen nichts aufhielt, dass man laufen, immer weiter laufen konnte.
Noelle sah toll aus, bekleidet oder nackt, obwohl sie die Eindrücke, die Zee von ihr gewann, im unbekleideten Zustand nicht mehr steuern konnte. Sie erkundeten einander mit den Händen – die bewusst jungenhafte Zee und Noelle mit ihrer gepflegten Weiblichkeit, etwas gemildert durch den nahezu kahlen Kopf, die ausgeprägten Hüftknochen und ihre Art, sich zu bewegen, die ihr etwas von einer Schlenkerpuppe verlieh. Arme und Beine konnten nach Belieben arrangiert werden, Glied um Glied, und auch das war Sex, die Macht der Gelenkigkeit. Man konnte sich gegenseitig neu arrangieren.
Inzwischen schneite es stetig, und nach dem langen und intensiven Sex mit einem neuen Menschen richteten sie sich für die Nacht ein. Eben war die Macht noch eine Realität gewesen, nun nicht mehr. Sonderbar, dass Zee gerade erst darüber nachgedacht hatte, denn jetzt spielte die Macht keine Rolle mehr. Der Tag war irre lang und anstrengend gewesen, und sie brauchte dringend Schlaf.
»Süße«, sagte Noelle vor dem Einschlafen zu ihr, und sie betonte dieses Kosewort auf eine dritte, ganz andere Art.