Acht
Auf der roten Markise des Ladens stand »Qigong-Tuina – entspannende, belebende, unvergessliche Massage«, Wörter, die für die meisten New Yorker, die an diesem milden Abend im Herbst 2014 die Straßenecke in den West 90s passierten, nicht besonders interessant waren. Doch Faith Frank wusste, was sie bedeuteten, und sie ließ sich einmal pro Woche nach der Arbeit von ihrem Fahrer dorthin bringen, denn sie liebte eine gute chinesische Massage. Sie hatte schlicht das Gefühl, dass ihr diese forschen, fast verstörend intensiven Massagen dabei halfen, ihre Gedanken zu ordnen, gute Entscheidungen zu treffen, gelassen zu bleiben und allen zu helfen, die sie um Rat baten.
Das hatte sie vor zwei Jahren herausgefunden. Damals hatte sie eines Tages einen schmerzhaft steifen Nacken gehabt und Morris, ihren Fahrer – laut ihres Vertrages bei Loci standen ihr ein Auto und ein Fahrer zur Verfügung –, auf der Heimfahrt in ihrer Verzweiflung gebeten, hier zu halten. Und dann, Faith hatte in dem dämmerigen Laden auf einer Liege gelegen, das Gesicht auf ein Kissen gebettet, während eine kleine Frau den Ellbogen in ihr Kreuz gestemmt hatte, waren die Ideen aus ihr hinausgesprudelt, als wären sie eingesperrt gewesen. Auch an diesem Abend war sie dort, denn sie hatte wieder einen steifen Hals. Ihre Internistin hatte sie gründlich durchgecheckt und für kerngesund erklärt, doch in ihrem Alter brauchte der Körper eine Feinjustierung. Kurz vor der Treppe, die zum Laden hinaufführte, pulsierte ihr Handy sanft vor ihrer Brust wie ein zweites Herz, und sie griff in ihren Mantel.
»Lincoln« stand auf dem Display. »Ah, mein Schatz«, sagte sie, wie üblich belebt durch seinen Anruf.
»Hey, Mom.« Die Stimme ihres Sohnes, Lincoln Frank-Landau, klang seit der Kindheit so verhalten, als befürchtete er, vom Leben zu viel zu verlangen. »Bist du gerade beschäftigt?«, fragte er. Die Antwort lautete stets Ja, auch wenn sie das nicht immer sagte.
»In Kürze. Ich bekomme eine chinesische Massage.«
»Wieder ein steifer Hals?«, meinte er. »Du solltest einen Gang runterschalten, Mom. Das viele Reisen tut dir nicht gut.«
»Oh, mein Terminplan ist gar nicht so wild.«
»Glaube ich dir nicht. In dem Kalender auf deiner Website habe ich gesehen, dass du bald eine Veranstaltung in Hollywood hast. Und ich habe auch gesehen, wer daran teilnimmt. Mein Gott!«
»Nein, Gott ist nicht mit von der Partie, Lincoln. Den konnten wir uns nicht leisten.«
»Trotzdem eine ganz andere Hausnummer als das, was ihr zu Anfang bei Loci hattet. Marine-Kommandantinnen.«
Faith lachte. »ShraderCapital hat von uns verlangt, auf VIPs zu setzen, weil es angeblich wichtig ist, eine Marke zu werden. Eigentlich schrecklich, weil das bedeutet, dass es nur um Profit geht. Aber so ist das im heutigen Amerika. Also haben wir den weiblichen Action-Star von Gravitus 2: The Awakening geholt. Hast du von der feministischen Wahrsagerin gelesen, die engagiert wurde, um zwischen den Reden für Unterhaltung zu sorgen?«
»Nein.«
»Na, ist auch völlig idiotischer Quatsch«, sagte Faith. »Ich stelle mir vor, wie sie vor einer riesigen Gruppe von Frauen steht, die Augen schließt und mit dieser wirklich unheimlichen Stimme sagt: ›Eines … Tages … habt … ihr … keine … Regel … mehr.‹«
Lincoln ließ sich leicht zum Lachen bringen. »Und begleitende Maniküre, stimmt’s? Und erlesenes Essen. Ich habe kürzlich Fotos auf Instagram gesehen. Was serviert ihr?«, fragte er. »Klang echt exotisch. Pelikan-Butter?«
Faith lachte ebenfalls und meinte: »So was in der Art.« Doch in Wahrheit belasteten sie die Exzesse, die sich die Stiftung vier Jahre nach ihrer Gründung leistete. Sie war vor allem während der letzten zwei Jahre durch immer lautere Stimmen bei ShraderCapital in diese Richtung gedrängt worden. »Ich weise Emmett ständig darauf hin, dass es nichts bringt, reiche Frauen zu Konferenzen einzuladen, bei denen es auch Massagen und Delikatessen gibt«, sagte sie zu Lincoln. »Das löst nicht die strukturellen Probleme mit Elternzeit, Kinderfürsorge oder gleicher Bezahlung. So erreicht man nichts. Aber wir wachsen, wie er mir freundlicherweise in Erinnerung gerufen hat. Und sie waren sehr spendabel.«
Während sie sprach, ging sie die Stufen zum schmalen, dunklen Flur hinauf. Sie konnte leise chinesische Hintergrundmusik hören. »Sie haben Projekten zugestimmt, die nicht in ihrem Interesse liegen. Ich habe von der Rettungsmission erzählt, die wir finanziert haben, oder? Eines der Sonderprojekte, die wir gelegentlich starten. Sie finden immer unregelmäßiger statt, und für dieses musste ich kämpfen.«
»Ecuador, richtig?«
»Ja, die jungen Frauen, die wir aus der Zwangsprostitution gerettet haben. Insgesamt hundert. Anschließend wurden sie mit Mentorinnen verkuppelt.«
»Sag nicht ›verkuppelt‹, Mom. Das klingt, als wärst du eine Puffmutter.«
»Ja, stimmt«, erwiderte Faith. »Aber du weißt, was ich meine. Wir haben sie mit Frauen zusammengebracht, bei denen sie in die Lehre gehen. Wir haben also eine Wahrsagerin, Maniküre, Pediküre und edles Essen mit Pelikan-Butter im Programm, aber auch solche Missionen. Vielleicht gleicht sich das aus.«
»Vielleicht«, meinte er.
»Eine der geretteten jungen Frauen kommt zur Tagung in Los Angeles«, sagte Faith. »Und ich soll sie vorstellen.«
»Ist das denn so wichtig? Dein Hals? Deine Erschöpfung?«
»Lincoln – ich liebe dich von ganzem Herzen, aber bitte sag mir nicht, was ich zu tun habe. Umgekehrt versuche ich das auch zu vermeiden.« Ein mürrisches Schweigen, das sie möglichst rasch brechen wollte, also fragte sie: »Und was macht das Steuerrecht?«
»Floriert immer noch.«
»Und ist immer noch schockierend ungerecht?«
»Kommt auf die Steuerklasse an«, sagte er.
Diese letzten Sätze gehörten zu einer Kabarett-Routine, an der sie ihren Spaß hatten, seit er Steueranwalt geworden war. Lincoln war inzwischen achtunddreißig und lebte in Denver. Unverheiratet und fleißig, wie er war, ähnelte er seinem Vater, Gerry Landau, einem Anwalt für Einwanderungsrecht, mit dem Faith nur wenige Jahre verheiratet gewesen war, weil er – als er so alt war wie Lincoln jetzt – unerwartet gestorben war. Gerry war ein blasser, gutmütiger Mann gewesen, der ohne seine Fliegerbrille etwas von einem Hamster gehabt hatte. Mit Brille entsprach er eher seiner wahren Persönlichkeit: umsichtig, intelligent, zerstreut. Sie hatte ihn auf Anhieb gemocht. Als er zum ersten Mal einen Ausflug mit Faith gemacht hatte, hatte er neben einer Tüte mit Bagels so viele Papiere und Bücher vom Beifahrersitz seines alten, gelben Dodge Dart räumen müssen, dass es schon fast lustig gewesen war.
»Hast du dich oft geäußert«, fragte sie Gerry, »wenn du an Veranstaltungen gegen den Krieg teilgenommen hast?«
»Machst du Witze?«, antwortete er. »Diese Typen haben das nicht erlaubt. Und wenn ich mal was gesagt habe, haben sie mir gleich das Maul gestopft.«
»Ging mir genauso«, sagte sie.
Lincoln sah heute aus wie Gerry damals, nur adretter und mit weniger Haaren. Das hochkomplexe Steuerrecht schien die Haare ihres Sohnes komplett von seinem Kopf verscheucht zu haben. Sie hoffte immer noch, dass er sich verlieben würde, ihr zurückhaltender, gutmütiger Sohn. Als Junge war Lincoln stets findig und unabhängig gewesen. Aber nach Gerrys Herzinfarkt und Tod hatte er sich in sich selbst zurückgezogen und nicht darüber reden wollen, lieber so getan, als wäre nie etwas passiert. Faith hatte gelitten, vor allem wegen ihres Sohnes. Sie wusste, dass sie nie wieder heiraten, ihm keinen neuen Vater geben würde. Sie war eine liebevolle, aber vielbeschäftigte Mutter, oft abgelenkt durch ihre strapaziöse Arbeit bei Bloomer, ihr politisches Engagement und die vielen Interviews, die sie damals geben musste. Sie kochte fast nie, von einem gelegentlichen Steak einmal abgesehen.
Lincoln war zehn gewesen, da hatte er geschrien: »Warum kannst du nicht wie andere Mütter sein?«
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Warum immer Mrs Smith?«
»Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du …«
»Warum immer Sara Lee?«, fragte er, nun leicht hysterisch.
Sie sagte: »Wie bitte? Wer sind die Frauen?« Dann begriff sie, dass er Nahrungsmittelhersteller meinte. »Ach, Lincoln, ich bin nun mal, wie ich bin«, erwiderte sie. »Ich bin deine Mutter, und ich gebe mir Mühe.«
»Gib dir noch mehr Mühe!«, brüllte er.
Sie gab sich noch mehr Mühe, aber wie sich mit zunehmendem Alter zeigte, tickte er ganz anders als sie. Lincoln war ernst und methodisch veranlagt, mochte feste Strukturen und tat Dinge gern auf eine bestimmte Art – und nur auf diese. Seine Mutter war eine prominente Feministin, aber er wurde deshalb weder ein Frauenhasser noch dezidiert politisch. Als Jugendlicher war er mal von einem Reporter gefragt worden, ob er Feminist sei, und er hatte fast beleidigt geantwortet: »Ja, ist doch klar.« Aber damit hatte es sich. Er war konventionell und reserviert, doch ihre Liebe füreinander war tief, wurde manchmal erschüttert, aber nie in Zweifel gezogen.
Sie vermisste sein junges, schutzloses, ganz von ihr abhängiges Selbst. Man wusste nie, wann man sein Kind zum letzten Mal auf den Armen trug; man meinte, es sei eine ganz normale Gelegenheit, aber rückblickend stellte sich dann heraus, dass es die letzte gewesen war. Faith konnte schlecht mit Lincolns wachsender Unabhängigkeit umgehen, empfand es aber auch als Erleichterung, dass er so selbstständig war. In dieser Hinsicht glichen sie einander.
»Jetzt erzähl mal, wie es dir so geht«, sagte sie.
»Beim nächsten Mal. Lass dich massieren, Mom.«
Sie sah, wie das Handy dunkel wurde, behielt es noch einige Sekunden in der Hand. Näher kam sie dem Gefühl, Lincoln zu halten, inzwischen nicht mehr.
Faith ging durch die Glastür der Massage-Praxis und betrat ein Vorzimmer, in dem junge Chinesinnen auf einem Sofa saßen und auf Laufkundschaft oder ihren Termin warteten. Eine stand auf und nickte, und Faith erwiderte ihr Nicken. »Sie wollen dreißig, sechzig oder neunzig Minuten?«, fragte die Frau, und Faith antwortete: »Sechzig.« Dann wurde sie ohne ein weiteres Wort in einen langen, dunklen Flur geführt; links und rechts, hinter den Vorhängen der Kabinen, klatschten Hände auf Fleisch.
Die Masseurin, sie hieß Sue, massierte sie anfangs durch ein Handtuch, arbeitete sich längs des Rückgrats zum Nacken hinauf. Oh, der Nacken! Alles musste dringend durchgeknetet werden. Die weit ausholenden, den ganzen Rücken abstreichenden Bewegungen, unterbrochen durch gelegentliche kräftige Stöße, sorgten dafür, dass die benommene Faith das Gefühl hatte, zu versinken, als wäre das Gesichtspolster ein Tunnel, den sie beschritt, um an jenen Ort zu gelangen, an dem alles auf sie wartete, was bisher in ihrem Leben geschehen war.
Sie waren Zwillinge, hatten sich eine Gebärmutter, später auch ein Schlafzimmer geteilt. Das Zimmer in der West Eighth Street in Bensonhurst, Brooklyn, war nur unwesentlich größer als die Gebärmutter, zumal mit zunehmendem Alter. Also installierte man eine Gardinenstange und teilte das Kabuff durch einen roten Gingan-Vorhang, der für das sorgte, was bei ihnen als Privatsphäre galt. Wenn sie abends auf ihrer jeweiligen Seite im Bett lagen, wünschten sie aber keine Privatsphäre. Sie wollten reden. Sie wurden im Winter 1943, während des Krieges, im Abstand von sechs Minuten geboren, zuerst Faith, danach Philip. Ihr unterschiedliches Wesen machte sich rasch bemerkbar. Sie war die Lerneifrige, die Ernste, hübsch, aber distanziert; er war beliebt, fröhlich, zugänglich. Sie war fleißiger, und er schlug sich mit keckem Charme und Sportlichkeit durch.
Abends gaben sie einander durch den Vorhang Ratschläge für ihre Stelldicheins. »Geh auf keinen Fall mit Owen Lansky aus, das sage ich dir gleich«, meinte Philip. »Er geht dir bestimmt an die Wäsche.«
Sie fand es rührend, dass er sie beschützen wollte, und er hatte recht, denn Owen Lansky war übergriffig und schmierte sich so viel Öl in die Haare, dass man nach einer Umarmung ein klitschnasses Gesicht hatte.
Sie plauderten oft so lange, dass ihre Mutter zu später Stunde im Bademantel in der Tür erschien und sagte: »Ihr zwei! Jetzt wird geschlafen!«
»Wir reden nur, Mom«, erwiderte Philip. »Wir haben uns jede Menge zu erzählen.«
»Was soll ich tun, damit ihr endlich schlaft?«, fragte sie. »Muss ich euch eins mit der Bratpfanne über den Kopf ziehen?«
»Die solltest du besser für das Frühstück aufsparen«, sagte Faith. »Gute Nacht, Mom!« Sobald ihre Mutter gegangen war, nahmen Faith und Philip ihr fieberhaftes und vertrauliches Gespräch wieder auf.
Aber nicht nur Bruder und Schwester standen sich nahe. Die Familie Frank bildete ein vierköpfiges Team. Sie aßen lange zu Abend und spielten Scharaden – alle vier waren Meister darin. Wenn sie abends Gäste hatten, wurde gefragt: »Lust auf eine Scharade?«, und wenn diese ablehnten, lud man sie selten wieder ein.
Die Zwillinge bekamen während ihrer gesamten Kindheit Rückenwind, sowohl von ihrer überarbeiteten Mutter Sylvia, einer Hausfrau, als auch von ihrem toleranten, heiteren Vater Martin, einem Schneider. Ihre Eltern gaben ihnen das Gefühl, dass das, was sie taten, der Weg, den sie beschritten, ihre ganze Art, sich in der Welt zu bewegen, gut und richtig sei. Sie hatten eine glückliche Kindheit, und auch der Übergang zum Erwachsenendasein sollte eigentlich glücklich verlaufen. Doch eines Abends erklärten ihre Eltern, einen »Familienrat« abhalten zu wollen.
»Wir setzen uns alle ins Wohnzimmer«, sagte Martin. Sylvia nahm neben ihm Platz. Es war sonderbar, sie einfach nur dasitzen zu sehen, denn sonst wirbelte sie stets durch die Wohnung oder holte irgendetwas aus dem Ofen.
Philip zeigte auf Faith. »Sie war’s. Sie allein. Ich hatte damit nichts zu tun.« Faith verdrehte die Augen.
»Die Situation ist folgende«, sagte Martin. »Wie ihr wisst, seid ihr nicht die Einzigen, die lange aufbleiben und reden. Das tun wir auch. Und ein Gespräch, das wir neulich geführt haben, hat sich um eure Ausbildung gedreht. Wir sind beide unglaublich stolz auf euch. Aber als Eltern machen wir uns auch Sorgen.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Faith, die sofort ahnte, dass es um sie ging.
»Man liest inzwischen jeden Tag schreckliche Geschichten in der Zeitung«, sagte Sylvia.
»Früher war dies ein sicheres Land«, sagte Martin. »Aber ich habe gerade letzte Woche von einem Mann gelesen, der sich auf dem College-Campus an einem Mädchen vergangen hat. Sie war am späten Abend auf dem Rückweg zu ihrem Wohnheim. Wir wollen nicht, dass du in eine solche Situation gerätst, Faith. Das wäre furchtbar für uns.«
»Ich könnte ja immer mit Freundinnen ausgehen«, meinte Faith. »Zu zweit oder zu dritt. Das würde ich euch fest versprechen.«
»Das ist nicht das einzige Problem«, erwiderte Sylvia und sah Martin an. Beide waren von einem tiefen Unbehagen erfüllt.
»Sex«, sagte Martin schließlich, indem er den Blick senkte. »Das muss man auch bedenken, mein Schatz.«
Oh, keine Sorge, dachte Faith. Das mache ich ganz bestimmt nicht allein.
»Man wird dich unter Druck setzen«, fuhr ihr Vater fort. »Du bist sehr behütet aufgewachsen, und ich fürchte, du kannst nicht abschätzen, was die Männer am College von dir wollen und erwarten.«
Faith hatte seit über einem Jahr erwogen, an einem College Fächer wie Soziologie, Anthropologie oder Politikwissenschaft zu studieren. Sie hatte das Thema ab und zu angeschnitten, und ihre Eltern hatten nie signalisiert, sie davon abhalten zu wollen, ihr Zuhause gegen ein College einzutauschen. Obwohl sie sich stets überraschend vage dazu geäußert hatten, hatte Faith darauf vertraut, dass alles klappen würde, wenn es so weit wäre.
»Tut mir das bitte nicht an«, sagte sie. Denn was ihre Eltern fürchteten, war genau ihr Wunsch. Sie stellte sich vor, wie sie lernte, und malte sich dann aus, das Buch wegzulegen, um in der Umarmung eines Mannes zu versinken. »Ich bin eine gute Schülerin«, sagte sie erstickt.
»Ja, richtig, und wir wollen dich beschützen. Wir möchten, dass du weiter zu Hause wohnst«, sagte ihr Vater. »Hier in der Stadt gibt es ausgezeichnete Schulen.«
»Und Philip?«, fragte Faith.
»Philip geht aufs College«, antwortete ihr Vater unbekümmert. Faith sah zu ihrem Bruder, der ihrem Blick auswich. »Das wird ihm guttun. Weißt du«, fuhr ihr Vater fort, »ihr zwei seid unterschiedliche Menschen, und ihr habt unterschiedliche Bedürfnisse.«
Faith stand auf, als wäre es von Vorteil, wenn sie ihre Eltern überragte. »Ich will nicht zu Hause wohnen«, erklärte sie und wandte sich an ihren Bruder. »Sag ihnen, dass du mir zustimmst«, meinte sie zu ihm.
»Ich weiß nicht, Faith«, erwiderte er. »Ich sollte mich wohl besser raushalten.«
An jenem Abend weinte Faith so bitterlich, dass Philip den Vorhang aufriss und im Schein der Straßenlaterne an ihr Bett trat. Er war jetzt nicht mehr nur ihr Bruder; er war ein Mann, der in die Welt hinauszog. »Mensch, unsere Eltern sind doch klasse«, sagte er. »Wir hätten uns keine bessere Familie wünschen können. Sie sind etwas altmodisch, ja, aber vielleicht haben sie nicht ganz unrecht. Du wirst eine gute Ausbildung bekommen. Genau wie ich.«
Danach entfremdeten sie sich voneinander. Während seines Studiums an der Universität von Minnesota schilderte er ihr in seinen Briefen die Clubs, in die er eingetreten war, und, wie als Nachgedanke, die Seminare, die er besuchte. »Das Mädchen, mit dem ich mich treffe, Sydelle, hilft mir beim Lernen«, schrieb er. »Sie ist sehr klug. Wenn auch nicht so klug wie du«, fühlte er sich gedrängt hinzuzufügen.
Später, selbst noch im mittleren Alter, telefonierten sie immer an ihrem gemeinsamen Geburtstag, doch es war stets Philip, der anrief, niemals Faith. Sie hatte einfach nicht das Bedürfnis. Er war auf dem College gewesen, hatte sich aber nie zu einem Intellektuellen entwickelt. Einmal hatte er stolz erzählt, zuletzt ein Buch mit dem Titel Hühnerbrühe als Seelentrost des Immobilienmaklers gelesen zu haben. Außer ihrem Geburtstag hatten sie nichts mehr gemeinsam.
Faith, die weiter zu Hause wohnen musste, studierte am Brooklyn College im Hauptfach Soziologie. Sie genoss ihre Seminare, vor allem jene, in denen sich alle mündlich beteiligen durften. Sie nahm Einladungen von Jungen an, die sie am College kennenlernte, aber ihre Eltern blieben stets auf, bis sie zur Aschenbrödel-Sperrstunde nach Hause kam. Es trieb sie in den Wahnsinn, wenn sie nach Hause kam und die beiden im Wohnzimmer antraf, wie verrückt gähnend, und dann erleben musste, dass sie so scharf gemustert wurde, als würde ihr Äußeres verraten, ob sie noch Jungfrau war. Einmal, sie blieb zu lange auf einer Party, kreuzte ihr Vater wahrhaftig vor dem Haus in Flatbush auf und wartete vor einer Laterne, in einen Mantel gehüllt, unter dem der Kragen seines gestreiften Pyjamas hervorlugte. Sie war entsetzt, als sie ihn erblickte, und begleitete ihn stumm nach Hause.
Faith blieb tatsächlich Jungfrau, denn sie wollte nichts Verstohlenes oder Schmutziges erleben, sei es bei einer Party oder auf dem Rücksitz eines Chevrolets. Manchmal kehrte sie mit Annie Silvestri, einem Mädchen aus dem Logik-Seminar, auf ein paar Drinks in einer Bar in der Nähe des Colleges ein, saß da, rauchte Lucky Strikes und sah gut aus. Nach kurzer Zeit erregten sie stets die Aufmerksamkeit einer Runde junger Männer. Das war eine Art von Macht, und es war auch Macht, die Jungs einfach links liegen lassen zu können.
Die Einstellung zum Sex – sich diesen zu wünschen, sich nach Nähe zu sehnen, Erfahrungen außerhalb der Reichweite der Eltern zu sammeln – veränderte sich sowieso rasant. Die Welt wandelte sich, wie ihre Eltern gesagt hatten, und sie wandelte sich stetig weiter. Am Tag der Ermordung Präsident Kennedys lagen sich Faith und ihre Freundin Annie weinend in den Armen. Sie konnten monatelang nur über dieses eine Thema reden und nachdenken, und in dieser Zeit meldete sich Faith in den Seminaren häufiger zu Wort, schrieb ihre Arbeiten mit noch spitzerem, zornigerem Stift. Sie wollte etwas; Sex gehörte noch dazu, war aber nicht das Einzige. Schließlich machte Faith ihren Abschluss, und obwohl ihre Eltern von ihr erwarteten, sich einen Job zu suchen und weiter zu Hause zu wohnen, bis sie einen Ehemann fände, erklärte sie im Frühling 1965 im heimischen Wohnzimmer – sie fand es toll, dieses Mal diejenige zu sein, die etwas zu verkünden hatte –, gemeinsam mit Annie nach Las Vegas gehen zu wollen. Sie hatten sich mehr oder weniger willkürlich für diese Stadt entschieden – beide wollten Erfahrungen sammeln, und Vegas schien so anders zu sein als Brooklyn.
»Auf keinen Fall«, sagte ihr Vater. »Das verbieten wir. Wir drehen den Geldhahn zu. Im Ernst, Faith.«
»Na schön, wenn ihr das für nötig haltet«, erwiderte Faith gepresst.
Das blieb eine leere Drohung, aber Faith bat ihre Eltern aus Prinzip nicht um Geld. Faith und Annie hatten im Laufe der Jahre durch diverse Jobs eine kleine Summe angespart, und in jenem Sommer fuhren sie mit dem 20th Century Limited nach Chicago und stiegen dort in einen Greyhound-Bus nach Las Vegas, wo beide rasch einen Job als Cocktail-Kellnerin im Swann Hotel & Casino fanden. Die Kellnerinnen balancierten jeden Abend Tabletts auf hoch erhobenen Armen durch den Raum, die Haare turmhoch aufgesteckt, alle und niemanden anlächelnd.
Mit zweiundzwanzig war Faith Frank groß, hatte eine schmale Taille und zarte Knochen. Ihr Gesicht war widersprüchlich geformt: Die Stirn war hoch, die Nase prominent, aber aus diesen markanten Zügen sprachen große Schönheit, Wärme und Intelligenz. Sie hatte große graue Augen und eine Kaskade dunkler Locken, obwohl der Stil des Jahres 1965 den Frauen eigentlich vorschrieb, die Haare hochzustecken und mit reichlich Spray dafür zu sorgen, dass sie oben blieben. »Wir sollten Aktien eines Haarspray-Produzenten kaufen«, meinte Annie einmal, als sie sich in ihrem gemeinsamen Zimmer in der inoffiziellen Kellnerinnen-Kaserne, in einer Seitenstraße des Strip gelegen, für den Abend zurechtmachten.
So als wollte Faith die verlorene Zeit wettmachen, bändelte sie mit einem Blackjack-Dealer an, der im Caesars arbeitete. Als sie schließlich mit ihm ins Bett ging, war sie enttäuscht, denn er wälzte sich so träge und schlaff auf ihr herum, dass sie, unter ihm liegend wie unter einem umgekippten Auto, dachte: Das soll Sex sein? Das? Bei der Arbeit hatte sie das umgekehrte Problem. Dort musste sie sich der Männer erwehren; sie fand sie weniger nervig als schlicht widerlich. Denn wie kamen Männer, die sich so verhielten, auf die Idee, Frauen würden sie mögen? Wie konnten solche Typen mit hocherhobenem Kopf herumlaufen? Doch genau das taten sie.
Eines Abends, Faith drehte im Casino mit ihrem Tablett die übliche Runde durch den Rauchschleier, das Piepen und das Klimpern und Klirren von Glas, da erblickte sie an einem der Blackjack-Tische ein elegantes Paar. Die beiden wirkten älter als Faith, aber jünger als die üblichen Gäste. Die Frau saß sehr dicht neben dem Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er war schlank, hatte dunkle Augen und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Die Frau flüsterte weiter, und er nickte zerstreut. Dann ging seine Begleitung zur Damentoilette, und der Mann nutzte die Gelegenheit, um zu Faith aufzuschauen. »Sollte wohl besser aufhören«, meinte er. »Ich habe schon viel verloren. Ist aber schwierig, einfach so zu gehen.«
»Tun Sie es trotzdem. Sie haben keine Chance«, erwiderte sie. Diese Art von Kommentar war Kellnerinnen ausdrücklich untersagt, und er sah sie überrascht an. »Na ja, ich bin jeden Abend hier«, fuhr Faith fort. »Im Grunde müsste hier ein Schild mit den Worten hängen: ›Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.‹«
Der Croupier, ein steifer Typ mit Stetson, sah Faith argwöhnisch an. »Was hat sie zu Ihnen gesagt?«, fragte er den Mann.
»Sie hat Literatur zitiert«, antwortete der und wandte sich wieder zu Faith um. »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«, fragte er.
»Habe ich doch schon gesagt.«
Er lächelte. »Ich schätze, Sie haben jede Menge Meinungen zu jeder Menge Themen.«
»Sie glauben also nicht, ich sei nur ein weiteres Mädchen, das Ihnen den Scotch bringt?«
»Nein«, sagte er. »Sie glauben also nicht, ich sei nur ein weiterer kleiner Abteilungsleiter auf dem Gebiet der Kekse und Cracker, der in Vegas etwas Entspannung sucht?«
»Kekse und Cracker sind wichtig«, meinte Faith, »vor allem, wenn man am Verhungern ist.«
Er lächelte. »Tja, sollten Sie jemals am Verhungern sein«, sagte er, »dann kommen Sie zu mir. Ich füttere Sie durch.« In diesem Moment materialisierte sich seine Begleiterin. Er schenkte Faith ein bedauerndes Lächeln und wandte sich ab, legte der Frau eine Hand auf das Kreuz. Warum nannte man das »Kreuz«?, fragte sich Faith plötzlich. Ein komisches Wort.
Faith verbrachte sechs Monate in Las Vegas und hatte während dieser Zeit auch eine Beziehung mit einem Trompeter aus dem Sands, Harry Bell, der ihr anbot, sie könne in jede beliebige Show gehen. Während der Verführungsphase lud er sie in den großen, aber verwaisten Nachtclub des Sands ein; er ging mit ihr auf die Bühne des riesigen, kalten Raumes, und sie fragte: »Bekommen wir auch keinen Ärger?« Und er entgegnete: »Ach was.« Faith stand auf der dunklen Bühne an der Stelle, wo die Berühmtheiten bei ihren Auftritten standen, und stellte sich vor, wie es sein mochte, wenn die Leute im Publikum hingerissen zu einem aufsahen und die Ohren spitzten. Sie hatte leider kein Talent, konnte weder singen noch andere Auftritte hinlegen, würde dergleichen also nie erleben.
»Du siehst gut aus da oben«, meinte Harry, der sie betrachtete, doch Faith verließ die Bühne rasch wieder.
Am nächsten Tag wartete sie an einem der Tische des überfüllten Clubs auf ihn, und schließlich gingen sie in sein Hotel und dort ins Bett, während sich der Himmel über den Ansammlungen der Neonlichter rosa verfärbte. Eines Morgens, sie lag mit Harry in dessen Hotelzimmer im Bett, stupste er Faith sanft gegen die Nase und sagte: »Du hast einen echt großen Zinken. Aber du bist so sexy, dass er nicht stört.«
Sie schwieg dazu. Seine Worte verletzten sie, wenn auch nicht, weil sie nicht gestimmt hätten – sie hatte tatsächlich eine ausgeprägte Nase, und sie stand ihr. Nein, sie war verletzt, weil sie so entspannt neben ihm gelegen hatte wie Lucky, die Hündin ihrer Kindheit, auf dem Rücken neben ihr gelegen hatte, tief schlafend, mit gereckten Beinen und abgeknickten Pfoten. Wenn ihre Hündin so dagelegen hatte, war sie in ihrer hündischen Entblößung glücklich gewesen. Genau das, dachte Faith, wünschte sie sich auch, wenn sie mit jemandem im Bett war. Entblößt und frei und unbefangen dazuliegen.
Doch ihre Nase war zu groß, und ein Mann hatte sie darauf hingewiesen. Und das auch noch im Bett. Das würde sie nie vergessen.
Was sie vor allem nie vergessen würde, war jedoch, was ihrer Freundin und Mitbewohnerin Annie Silvestri während der sechs Monate in Las Vegas widerfuhr. Annie war mit Hokey Briggs zusammen, einem Komiker, der das Vorprogramm von Bobby Darin bestritt, und eines Abends, beide Frauen lagen in ihrer Unterkunft im Bett und hatten gerade das Licht ausgeknipst, hörte Faith ihre Freundin weinen.
»Was hast du, Annie?«
Annie knipste die kleine Lampe an und setzte sich hin. Sie gestand bedrückt: »Meine Regel ist ausgeblieben, Faith. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Am nächsten Tag fuhr der nervöse Hokey Briggs beide Frauen von einem Arzt zum nächsten. Sie suchten jemanden, der zu einer Abtreibung bereit war, aber das erwies sich als schwierig, und der Einzige, der einwilligte, verlangte zu viel Geld. Schließlich erhielt Annie von der Freundin einer Freundin einen Namen. Sie flehte Faith an, sie zu begleiten, und diese willigte trotz ihrer Angst ein. Beide Frauen stiegen zur vereinbarten Stunde in einen dreckigen blauen Ford Galaxie, der mit laufendem Motor vor der Unterkunft stand.
Sobald sie im Auto saßen, befahl ihnen eine ältere Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, sich zu ducken, und verband beiden die Augen.
»Das wurde mir nicht gesagt«, protestierte Annie, als das Tuch um ihren Kopf geschlungen wurde.
»Willst du zum Arzt oder nicht? Na los, stillhalten.«
Sie wurden lange herumkutschiert, dann grob aus dem Auto gezerrt und durch die Hintertür eines Gebäudes geführt, in dem man die Augenbinden löste. Annie wurde angewiesen, der Arzthelferin – oder einer Frau, die sich als solche ausgab – in einen Behandlungsraum zu folgen.
»Darf meine Freundin mitkommen?«, fragte Annie.
»Nein, tut mir leid, Süße«, sagte die Arzthelferin.
Faith war insgeheim erleichtert, denn sie hatte Angst vor dem, was sie erleben könnte. Sie saß lange im Wartezimmer, einmal ertönte Geschrei. Schließlich erschien die Arzthelferin und sagte: »Bringen Sie das Mädchen nach Hause und stecken Sie es ins Bett. Pass auf dich auf, Liebes«, ergänzte sie, an Annie gewandt.
Die schweren Blutungen setzten mitten in der Nacht ein, begleitet von starken spastischen Krämpfen. In der Unterkunft scharten sich die Cocktail-Kellnerinnen um Annie (alle anderen hielten es für eine ungewöhnlich heftige Regel), aber niemand wusste, was zu tun war. Nachdem sie wieder zu Bett gegangen waren, entschied Faith, dass Annie ins Krankenhaus müsse. Es dämmerte schon fast, als sie ihre Freundin, die sich schwer auf sie stützte, in das von ihrem Vermieter geborgte Auto setzte. In der Notaufnahme gab es eine Krankenschwester, die Annie wie eine Aussätzige behandelte. »Sie ruinieren noch meinen hübschen Fußboden, Mrs Silvestri«, sagte sie sarkastisch.
»Gibt es ein Mittel gegen die Krämpfe?«, japste Annie.
»Das müssen Sie den Arzt fragen«, erwiderte die Schwester. »Ist nicht mein Fachgebiet.« Und dann beugte sie sich zu ihr hin und fügte hinzu: »Ich könnte dich in den Knast bringen, ist dir das klar? Ich könnte die Polizei rufen, du kleine Schlampe.« Da kam eine andere Krankenschwester herein, und die erste richtete sich auf und hantierte unschuldig mit den Formularen.
Zwei Tage später, Annie hatte zwei Bluttransfusionen hinter sich, wurde sie mit einer Schachtel billiger Binden – Fotex – nach Hause geschickt und von einem blutjungen Gynäkologen ermahnt, »nicht so schnell aufzugeben. Obwohl es dafür natürlich zu spät ist, hm?«, hatte er ergänzt.
An jenem Abend, sie waren wieder in der Unterkunft, sagte Annie zu Faith: »Ich glaube, er hat recht.«
»Wer?«
»Der Arzt. Es lohnt sich nicht mehr. Hier zu sein.«
»Wie meinst du das?«
»Lass uns heimkehren, Faith«, sagte Annie. »Bitte. Es ist höchste Zeit.«
»Was hat Sie zu dem Menschen gemacht, der Sie heute sind?«, wollten Interviewer im Laufe der Jahre wiederholt wissen, und sie stellten die Frage immer, als wären sie die ersten, denen sie eingefallen war. »Gab es einen bestimmten Wendepunkt? Ein Aha-Erlebnis?«
»Nein, nichts Bestimmtes«, antwortete Faith jedes Mal. Aber, dachte sie, vielleicht hatten sich die Erlebnisse wie im Falle der meisten Menschen summiert: Kleine Erkenntnisse führten zu einer wichtigen Einsicht, dann zu Engagement. Außerdem begegnete man im Laufe des Lebens immer wieder Menschen, die Einfluss nahmen und einen behutsam in eine andere Richtung dirigierten. Plötzlich hatte man ein Ziel vor Augen, und das Gefühl, Zeit zu vergeuden, verflog.
Im Jahr 1966 lebte Faith in Manhattan. Sie teilte sich mit Annie eine klitzekleine Wohnung in der Morton Street in Greenwich Village. Es war, als würden sie in eine Show kommen, die schon in vollem Gange war. Die politischen Proteste waren laut und vehement, und beide mussten erst einmal Anschluss finden, denn während der Arbeit im Casino waren sie von allem abgeschnitten gewesen, hatten in einem luftleeren Raum gelebt. Sie wohnten weiter zusammen, nahmen diverse Gelegenheitsjobs an, registrierten Wähler in Harlem und waren freiwillig für eine Antikriegsorganisation tätig, die von einem ehemaligen Geschäft in der Sullivan Street aus operierte. Dort tippte Faith den wöchentlichen Newsletter A Peace of Our Mind, der dann vervielfältigt wurde. Sie besuchte Treffen und Vorträge und Teach-ins. Der Krieg beherrschte die Gespräche, und zwischendurch lief die beste Musik, die sie je gehört hatte. Am Wochenende quetschten sich zig Freunde in die von Marihuana-Rauch vernebelte Wohnung. »Mary Jane, I love you so«, sang ein Junge, der sich auf dem Flokatiteppich räkelte. Am Wochenende war Faith oft high von Gras, während der Woche aber nie, weil es nicht mit der »politischen Strategieplanung« zu vereinbaren war, wie sie und Annie die Diskussionen nannten, die sie am Küchentisch über die optimale Organisationsweise führten. Nicht, dass Faith plötzlich eine politische Erleuchtung gehabt hätte; stattdessen war es eher so, dass sich die Welt weiterbewegt hatte und sie sich mit dieser.
Währenddessen sanken die Haare, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts hoch aufgetürmt, rasant in sich zusammen. Faith versenkte eine Dose Aqua-Net-Haarspray im Mülleimer des Badezimmers, wo sie ihren Inhalt zischend entließ. Sie trug ihre Haare jahrelang offen und lang. 1968, Annie und sie wohnten noch zusammen, legten sie die abgewandelten Stewardessen-Kostüme ab, die sie so lange getragen hatten, und zogen Jeans und mit indischen Mustern bedruckte Shirts an.
Bei Antikriegstreffen hörte Faith meist schweigend zu. Einige Männer konnten extrem gut reden. Faith wurde auch als klug und redegewandt wahrgenommen, wenn sie sich zu Wort meldete, aber die Männer glaubten, sie jederzeit unterbrechen zu dürfen. Sie versuchte, über eine Reform des Abtreibungsrechts zu diskutieren, doch daran war man nicht interessiert. »Das kann man nicht mit Vietnam vergleichen, wo tatsächlich Männer sterben«, ging einer dazwischen.
»Hier sterben Frauen«, erwiderte Faith, und die Leute schrien auf sie ein.
Eine andere Frau sprang für sie in die Bresche und rief: »Lasst sie ausreden!«, aber Faith war mundtot gemacht worden, und irgendwann gab sie es auf, sich zu beteiligen.
Faith wollte gerade gehen, als die Frau, die sie unterstützt hatte, auf sie zukam und fragte: »Macht dich das nicht auch manchmal irre wütend?«
»Aber sicher! Ich heiße übrigens Faith.«
»Ah. Hallo, Faith. Ich bin Evelyn. Hör zu – ich treffe mich am Wochenende mit ein paar Frauen, dann machen wir einen drauf, und du kommst bestimmt zu Wort. Schau doch vorbei.«
Also begleitete Faith Evelyn Pangborn in eine schlauchartige, düstere Wohnung in Upper Manhattan, wo eine rauchende und trinkende Schar von Frauen saß, die sehr klug sein konnten, wenn sie nicht gerade todernst oder stinksauer waren. Sie diskutierten und schmiedeten Pläne; ein paar gaben an, zu einer Truppe zu gehören, die im Herbst die Show zur Wahl der Miss America aufmischen wolle. Einige waren wegen zivilen Ungehorsams verhaftet worden. Manche gehörten radikalen Gruppen an, die sich von Antikriegsbewegungen abgespalten hatten. Eine farbige Frau meinte: »Ihr ahnt ja nicht, wie oft ich bei Versammlungen herablassend und feindselig behandelt werde.« Auch eine junge Mutter aus den Vororten war da, sie beklagte sich über ihren Mann, der ihrer Erschöpfung gleichgültig gegenüberstand.
»Ich habe das Gefühl, genau dort zu sein, wo die Mutterrolle mich haben will«, sagte diese Frau. »Und dann hasse ich mich dafür, so kalt und wütend und auch noch eine Rabenmutter zu sein.«
»Oh, ich hasse mich für tausend unterschiedliche Gefühle«, sagte eine andere Frau. »Ich bin ein Tempel des Selbsthasses.«
»Warum seid ihr so streng mit euch?«, klagte jemand aus tiefster Seele. Faith dachte: Ich bin im Grunde gar nicht so streng mit mir, aber ich habe die männliche Sichtweise verinnerlicht, obwohl sie mir nicht entspricht. Als Harry, der Trompeter, damals in Vegas ihre Nase als groß bezeichnet hatte, hatte sie seine Meinung übernommen. Und wenn Männer eine Versammlung dominierten und ihr erklärten, Abtreibung sei ein zweitrangiges Mittelschichtsanliegen, versuchte sie zwar, ihre eigene Sichtweise zu verteidigen, wurde aber verbal niedergemacht.
Faith erzählte den Frauen, ihre Freundin in Las Vegas zu einer Abtreibung begleitet zu haben. »Man verband uns die Augen und fuhr ewig lange mit uns herum. Und später, sie wäre fast verblutet, wurde sie von einer Krankenschwester behandelt wie eine Kriminelle. Ich glaube, solange wir weiter unsere Augenbinden tragen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, haben wir tatsächlich – um ein etwas abgedroschenes, in diesem Fall aber relevantes Wort zu benutzen – ein Problem.«
»Wir dürfen nicht länger dulden, dass Männer für uns entscheiden«, sagte eine andere Frau. »Was ich mit meinem Körper tue und wie ich meine Zeit verbringe – das ist meine Sache. Das entscheide ich selbst.«
»Klingt wie ein Songtext«, meinte die Frau, in deren Wohnung sie saßen. »Das … entscheide … ich … selbst.«
»Das … entscheide … ich … selbst«, sangen alle anderen in der bunt gemischten Runde aus Spaß mit, Frauen mit Afrolook und T-Shirts mit Slogan darauf, Sekretärinnen im Kostüm, Hausfrauen in bequemer, fester Kleidung oder Frauen in teuren Designerklamotten. Man musste nicht alle mögen, dachte Faith, aber bedenken, dass alle in einem Boot saßen – wobei »Boot« die gegenwärtige Situation bezeichnete. Und so sah die Situation schon seit Jahrhunderten aus. Sie war zementiert. Sie sang mit, ihre Stimme ein lautes Tremolo, aber dass ihre Stimme zitterte, war egal. Wichtig war, dass man sich Gehör verschaffte.
Als sie später zur Bahn gingen, sagte die junge Mutter auf der Straße zu Faith: »Du bist eine echt gute Rednerin! Voller Elan und gleichzeitig so ruhig und sympathisch. Wir haben dir alle gern zugehört. Du schlägst jeden in deinen Bann. Hat dir das mal jemand gesagt?«
»Nein«, antwortete Faith lachend. »Niemals, das kann ich dir versichern. Und ich werde es auch nie wieder hören.« Es war ein Kompliment, das sie sowohl freute als auch berührte, und sie sah sich auf der Bühne des Nightclubs im Sands. Reglos auf dem dunklen Podest stehend und sich ausmalend, vor einem riesigen Publikum aufzutreten.
Die Frau hieß Shirley Pepper. Sie erzählte, sie habe vor der Geburt ihres Babys bei der Zeitschrift Life gearbeitet und hoffe, dort wieder anfangen zu können, sobald sie eine vernünftige Kinderbetreuung finde. »Das ist noch so ein Riesenproblem in diesem verfluchten Land«, meinte Shirley. »Eine gute und günstige Kinderbetreuung muss man mit der Lupe suchen.« Shirley Pepper war es, die einige Jahre später, sie war schon wieder berufstätig, die Idee für die Zeitschrift Bloomer hatte. »Wir könnten Sachen bringen, an denen Ms. kein Interesse hat«, sagte sie. »Wir könnten forscher auftreten.« Seit einiger Zeit kursierten kleinere Frauenmagazine; es gab den Wunsch, mehr daraus zu machen. Damals hatte die Frauenbewegung Fahrt aufgenommen, und Faith engagierte sich. Im August 1970 fand auf der Fifth Avenue eine riesige Demo statt. Man forderte dreierlei: freie Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch, Kinderbetreuung rund um die Uhr, gleiche Chancen bei Bildung und Arbeit. Faith wusste später nicht mehr, was auf ihrem Plakat gestanden hatte. Eines der Anliegen? Alle drei? Sie hatte den Zorn und den Rausch gespürt, die an jenem Tag in der Luft lagen, überall in der Luft lagen. Man prangerte Frauenfeindlichkeit an. Das Patriarchat. Den Mythos des vaginalen Orgasmus.
Shirley war im Laufe der Jahre vielen Aktivistinnen begegnet, und sie trommelte ein paar zusammen, um die Zeitschrift auf die Beine zu stellen. Sie trieb unermüdlich Investoren auf, eine anstrengende und nervenaufreibende Aufgabe, unterstützt von ihrem hilfsbereiten Ehemann, der bei IBM tätig war. Faith wurde erstens wegen ihrer ruhigen, gewinnenden Redeweise in die Redaktion geholt, zweitens, weil sie gut zuhören konnte und arbeitswillig war, aber wohl auch, weil sie drittens dieses undefinierbare Etwas hatte – man wollte in ihrer Nähe sein, selbst wenn man sie nicht wirklich kannte.
In der Anfangszeit von Bloomer arbeiteten sie immer wieder mit geröteten Augen die Nächte durch. Die Büroräume in der Houston Street waren durch einen unglaublich langsamen, wiederholt ausfallenden Fahrstuhl zu erreichen, der von einem gewissen Milton Santiago gewartet wurde, ein Typ, der die Funktionstüchtigkeit jedes Mal mit geneigter, allen bestens bekannter Handschrift bestätigte. »Du bist eine Schande für die gesamte Zunft der Fahrstuhlkontrolleure, Milton Santiago«, sagten die Frauen. »Wärst du Millie Santiago, dann würde das Scheißding funktionieren wie eine Eins, Milton Santiago!« Sie lachten und arbeiteten in dem offenen Raum mit den hohen, schmutzigen Fenstern, ihrer Mission ebenso gewiss wie des letztendlichen Erfolgs ihrer Pläne und Ideen. Frustration und Wut angesichts der Ungerechtigkeiten, die Frauen überall in Amerika, ja auf der ganzen Welt erduldeten, gingen mit der naiven Zuversicht einher, dass die Gegenmaßnahmen mit all dem schon aufräumen würden.
»Ich bin euer Sherpa«, hatte Faith einmal zu einer Gruppe anderer Redakteurinnen und junger Assistentinnen gesagt, als sie nach einer langen Nachtsitzung im dunklen Treppenhaus auf dem Weg nach unten voranging, weil der Fahrstuhl wieder einmal streikte. »Alle mir nach!«, rief sie und zückte ein Zippo-Feuerzeug. Im schmalen Treppenhaus verlieh die zuckende Flamme den Gesichtern etwas von dem Hell-Dunkel-Spiel auf den Gemälden flämischer Meister, vorausgesetzt, diese hatten jemals rein weibliche Gruppen gemalt – schimmernde Augen, kontrapunktische Schatten, rosige Wangen und gekrümmte Finger.
Sie folgten ihr lachend und manchmal stolpernd, hielten sich aneinander fest, legten ihre Hand auf die Schulter oder Hüfte einer Kollegin, eine Versammlung weiblicher Wölbungen und Mulden im stockdunklen Treppenhaus. Sie planten auf dem Weg nach unten neue Ausgaben, überzeugt, ihr Projekt würde so ewig währen wie die Erde. Ein Glücksgefühl rötete ihre Wangen, und diese Röte war umso intensiver, weil sie alle vereinte. Unten angelangt umarmten sie einander auf die Art, die für Frauen ganz natürlich war, nicht aber für Männer, die noch weitere fünfundzwanzig Jahre dafür brauchen würden.
Schon bald setzte man Petitionen auf, fuhr nach Washington und besuchte Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen, bei denen es so laut zuging, als würden alle mit Löffeln auf Töpfe trommeln. »BH-Verbrenner« nannten Journalisten die Frauenbewegung, obwohl das Verbrennen von BHs nicht wirklich ein Thema war. Rückblickend fand Faith vieles von dem, was damals gelaufen war, eher absurd, aber sie wurde von den älteren Aktivistinnen daran erinnert, dass die Vorhut stets über die Stränge schlagen musste, um jenen, die sich auf maßvollere Art engagierten, gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen. Damals war Faith manchmal so erschöpft, dass sie im Flur eines öffentlichen Gebäudes einschlief, den Kopf im Schoß einer Nachbarin. Sie besaß eine Patchwork-Schultertasche, die sie immer dabeihatte. Anfangs waren Flugblätter, Zigaretten, Schokolade, politische Unterlagen und Telefonnummern darin, später auch Nuckelflaschen und Sicherheitsnadeln für Windeln.
Doch zuvor – vor Bloomer und bevor Faith Frank zu Faith Frank wurde –, nach dem Abend, den sie mit anderen Frauen, die sich etwas von der Seele reden wollten, in der Wohnung in Upper Manhattan verbracht hatte, kehrte sie aufgeregt in ihre Wohnung im Village zurück. Annie Silvestri, nach all den Jahren immer noch ihre Mitbewohnerin, wickelte Orangensaftdosen in ihre Haare und wollte zu Bett gehen, aber Faith war noch zu aufgeregt und wollte über die Erlebnisse des Abends sprechen.
»Ich habe von deiner Abtreibung erzählt«, sagte sie.
Annie fuhr herum. »Bitte? Was hast du getan?«
»Na ja, ich habe deinen Namen natürlich nicht genannt, also nicht verraten, wer du bist. Aber ich habe ihnen davon erzählt, um ein Zeichen zu setzen. Wir müssen ein Zeichen setzen. Viele Zeichen.«
»Oh Mann, Faith, ich will aber kein Zeichen setzen«, meinte Annie.
»Schon klar, aber es gibt viele andere Frauen, die das Gleiche durchlitten haben. Wir müssen das zu einem Thema machen.«
»›Wir‹?«
»Ja, wir. Viele Frauen tun das längst. Ich will ihnen helfen. Alle kämpfen für Bürgerrechte und ein Ende des Krieges. Und das schon seit Jahren. Wir müssen uns auch für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen. Wieso machst du nicht mit? Du könntest dazu beitragen, dass andere Frauen dein Schicksal nicht teilen müssen. Ich verstehe dich nicht.«
»Darin unterscheiden wir uns«, meinte Annie. »Ich habe genug durchgemacht, und ich will nicht darüber diskutieren oder reden. Das ist mir passiert, Faith, nicht dir. Ich habe es erlebt, und es war grauenhaft, und ich habe lange gebraucht, um mit der Nacht fertigzuwerden, in der ich die Blutungen hatte und behandelt wurde wie ein Haufen Dreck. Wenn du meinst, das Abtreibungsrecht müsse reformiert werden, und dich dafür einsetzen willst, okay, wunderbar – aber ich will nie wieder über das Erlebnis reden, und das meine ich absolut ernst. Wenn du also weiter eine Wohnung mit mir teilen möchtest, wenn wir hier weiter zusammenwohnen sollen, dann ist das eine meiner Grundbedingungen.«
Sie teilten die Wohnung noch für ein paar Monate, doch ihre Freundschaft hatte einen Knacks. Sie sprachen nicht darüber, und wenn sie beide zu Hause waren, aßen sie zusammen, oft vor dem Fernseher, doch bei Gesprächen gab es auf einmal Tabuthemen. Faith wurde fast nur durch ihr politisches Engagement angetrieben, und Annie, seit Kurzem mit einem Jura-Studenten zusammen, las insgeheim alles nach, was er lernte, zunächst, damit sie Gesprächsthemen hatten, und schließlich, weil ihr Interesse erwacht war. Sie merkte, dass sie eine einzigartige Gabe dafür hatte, die juristische Sprache zu lesen und zu verstehen.
Annie heiratete den Jura-Studenten, der einen Job an der Purdue University bekam und Studienanfänger unterrichten sollte. »Wir ziehen in den Mittleren Westen, unfassbar, oder?«, sagte Annie. Anfangs gingen ein paar Postkarten hin und her, dann herrschte Schweigen, und Faith hörte lange nichts mehr von ihr. Sie ging weiter zu Demos gegen den Vietnamkrieg, engagierte sich aber hauptsächlich für eine Reform des Abtreibungsrechts und nahm an kleineren Versammlungen teil – reine Frauenveranstaltungen, bei denen alle geordnet zu Wort kamen. Faith segelte mit den anderen in einem leichten, aber steten Wind; sie fragte sich, ob das ein Phänomen ihres Bewusstseins war oder etwas ganz anderes. Andererseits war das egal, denn es zog sie mit.
Während der ersten Monate nach der Gründung von Bloomer, in denen man mühsam Anzeigenkunden akquirierte, um ein paar dünne und bescheidene Nummern veröffentlichen zu können, die in der Presse für einen gewissen Wirbel sorgten, zog Faith gemeinsam mit zwei anderen Frauen los, um Werbekunden für zukünftige Ausgaben zu finden. »Wenn es uns nicht gelingt, mehr Anzeigenplätze zu verkaufen«, sagte Shirley, »stehen wir ständig kurz vor dem Aus. Wir sind ein Außenseiter. Ich denke, wir müssen uns richtig ins Zeug legen.«
An einem Vormittag im Sommer 1973 saßen Faith, Shirley Pepper und Evelyn Pangborn in einem Konferenzraum der Firma Nabisco, zogen die übliche Show ab und versuchten, drei Männer davon zu überzeugen, in Bloomer Anzeigen zu schalten. Wie üblich lief es nicht besonders gut, denn es war kaum zu vermitteln, warum ein Großunternehmen in dieser zweitrangigen Zeitschrift für emanzipierte Frauen, die sicher bald eingehen und nur eine Laune, eine Fußnote dieser bewegten Zeiten sein würde, Werbung platzieren sollte.
Die Vertreter Nabiscos meinten, man werde »sehen« und sich »die Sache durch den Kopf gehen lassen«. Schließlich stand einer auf und sagte: »Vielen Dank, meine Damen, wir stecken die Köpfe zusammen und treffen dann eine Entscheidung.« Sie waren höflich – höflicher als gewohnt.
Sie verließen den Konferenzraum, als einer der Männer Faith ansah und sagte: »Halt mal – ich kenne Sie doch.«
»Bitte?«
Er nahm sie beiseite, und sie musterte ihn. Er hatte die ganze Zeit auf einem Stuhl in der Ecke gesessen, ein Geschäftsmann Mitte dreißig, schmal, elegant, dunkelhaarig, mit Koteletten, attraktiv. Irgendetwas an ihm kam ihr bekannt vor, aber der Groschen wollte nicht fallen.
»Wir sind uns mal begegnet«, sagte er leise. »Ist eine Ewigkeit her. In Las Vegas. Im Swann.«
Sie starrte ihn verblüfft an, und dann fiel es ihr wieder ein. Es war der Mann, der eines Abends in Begleitung einer Frau im Casino erschienen war, der Mann, der mit Faith geflirtet und ihr erzählt hatte, auf dem Gebiet der … Kekse und Cracker tätig zu sein. Ja, das hatte er gesagt.
»Unglaublich, dass Sie sich an mich erinnern«, meinte Faith. »Wie lange ist das her? Sieben oder acht Jahre? Verrückt, dass Sie das noch wissen.«
»Darin bin ich gut. Sie meinten damals, das Haus gewinne immer. Ich glaube, mit der Warnung haben Sie mich vor dem Ruin bewahrt – vielen Dank.«
»Gern geschehen. Aber ich sehe inzwischen ganz anders aus. Keine Uniform. Und … mein Haar.«
»Stimmt, damals war es eher aufgetürmt, glaube ich. Habe ich mich verändert?«
Sie betrachtete ihn eine ganze Weile, und das nicht ungern. Er war viel eleganter als seine Kollegen, weniger der aggressive Managertyp, außerdem schlanker und jünger. Seine dunklen Haare waren natürlich länger als im Jahr 1965. Er trug einen gut geschnittenen, teuren Anzug und, wie ihr auffiel, keinen Ehering. Er roch interessant, irgendwie würzig.
Wie sich zeigen sollte, war das tatsächlich seine Begabung. Er vergaß nichts, erinnerte sich detailliert an jeden Moment. Allerdings nur, wenn er aufmerksam war, und das war nicht immer der Fall.
»Vielleicht sollten wir die Sache mit den Anzeigen genauer erörtern«, meinte er. »Ich weiß nicht recht, ob Sie meine Kollegen überzeugen konnten. Um ganz ehrlich zu sein, denke ich, dass sie nicht überzeugt sind.«
»Wollen Sie mit mir allein reden? Oder mit uns dreien?«
»Nur mit Ihnen. Unter vier Augen ließe sich vermutlich mehr erreichen.«
Er flirtete wie damals im Casino, und er tat es ganz offen; das war ebenso deutlich wie sein würziger Geruch. Trotzdem hatte er recht. Bislang hatten Faith, Shirley und Evelyn fast keine Werbekunden gewonnen; sie hatten gleich einen Termin bei Clairol, aber ihre bisherige Argumentationstaktik hatte sich als ziemlich wirkungslos erwiesen.
»Ich denke, die Sache erfordert ein längeres Gespräch«, sagte er. »Würden Sie heute Abend mit mir essen? Solange unsere Eindrücke noch frisch sind?«
»Noch frisch sind«, wiederholte sie automatisch. Er wollte mit ihr ins Bett; sie hätte schon unfassbar dumm sein müssen, um das nicht zu kapieren.
Sie würde mit diesem Nabisco-Manager nicht ins Bett gehen, obwohl sie durch sein Aussehen in Versuchung geriet, sich auch vorstellen konnte, wie er nackt aussah. Und das sah sie nicht nur vor sich, nein, sobald sie es vor sich sah, begriff sie, dass es im Grunde nur um Sex ging. Aber sie konnte nicht mit ihm schlafen. Sollte er denken, was er wollte. Die Sache war rein geschäftlich. Sie musterte ihn und sagte schließlich: »Gern.«
»Warum will er das ausgerechnet mit dir erörtern?«, fragte Shirley gereizt, als sie mit der IRT wieder in die Innenstadt fuhren, an die Haltegurte geklammert.
»Soll ich es dir aufmalen, Shirley?«, murmelte Evelyn.
»Um Gottes willen, ich springe schon nicht mit ihm in die Kiste«, sagte Faith. Sie verschwieg den beiden, dass sie ihm vor langer Zeit begegnet war, dass er sich verrückterweise daran erinnert hatte und dass sie sich ebenso verrückterweise auch daran erinnerte. »Ja, ich gehe mit ihm essen, klar, warum auch nicht? Ich verklickere ihm, welche Ziele die Zeitschrift verfolgt.«
»Vielleicht ist er eine verkappte Emanze«, meinte Shirley, »und will uns bei der Strategieplanung unterstützen. Und wenn Faith seinen Blick durch einen magischen Schleier trüben kann, der ihn verzaubert und die Sache eintütet, soll mir das nur recht sein.«
»Oh ja, ich bin der Zauber in Person«, erwiderte Faith milde.
»Ja, das bist du tatsächlich«, sagte Evelyn. »Du gehörst zu den Menschen, in deren Gegenwart man sich wohlfühlt. Das ist eine Gabe.«
Als Faith um neunzehn Uhr in der Cookery eintraf, wartete er schon ganz hinten an einem Tisch. Weil der Greenwich-Village-Club nur von Kerzen erhellt wurde, wirkten seine Züge weicher als im Konferenzraum von Nabisco. Er trug jetzt eine Nehru-Jacke, seine dunklen Haare schimmerten seidig. »Wie schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er, als sie den roten Sangria tranken, den er vor ihrer Ankunft bestellt hatte. Das fand sie etwas chauvinistisch, er hätte es sicher anders gesehen. Sie stießen mit Gläsern an, aus denen kleine Papierschirme ragten. Sie leerte ihres rasch, obwohl süße alkoholische Getränke stets für eine gewisse Benebelung sorgten und ihr Denken lähmten. An diesem Abend war der Wein aber nur ein Mittel zur Auflockerung.
Emmett Shrader zog den Schirm aus seinem Glas, schüttelte ihn ab und steckte ihn wortlos in die Jackentasche. Sie hätte fast gefragt: »Haben Sie eine Papierschirm-Sammlung zu Hause?«, verkniff es sich aber, weil das nach einem Flirt geklungen hätte. Als er sie bat, ihre »ganze Geschichte« zu erzählen, kam sie seinem Wunsch nach, erzählte von Brooklyn, ihren überbehütenden Eltern und ihrem Bedürfnis, von zu Hause zu verschwinden, und er hörte ihr zu, wie ihr während ihres bisherigen Lebens noch nie ein Mann zugehört hatte.
»Erzählen Sie weiter«, wiederholte er. Er sagte, er finde das interessant, und sie nahm ihn beim Wort, erzählte ihm, wie ihre Leidenschaft für die Frauenrechte erwacht war. Sie hatte sich auf einen Schlagabtausch gefasst gemacht, denn so war es sehr oft mit Männern. Doch Emmett sagte: »Was Sie und die anderen Frauen da tun, halte ich für überfällig.« Diese Worte wirkten bei ihr wie ein Rauschmittel. »Aber wenn ich etwas hinzufügen darf«, fuhr er fort, »und bitte fahren Sie mir über den Mund, wenn ich mich im Ton vergreife – ich wünschte, Sie wären aggressiver. Bringen Sie uns dazu, Anzeigenplatz zu kaufen. Zwingen Sie uns.«
»Das würde nicht funktionieren«, erwiderte Faith.
»Warum nicht?«
»Wenn ein Mann so spricht, gilt das als Ausweis von Autorität. Wenn eine Frau so spricht, finden das alle abscheulich und fühlen sich an ihre Mutter erinnert. Oder an ihre keifende Ehefrau.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er. »Dann sollten Sie die Bedeutung Ihres Anliegens stärker unterstreichen. Ich bin in der Werbung, weiß also wenigstens ansatzweise, wovon ich rede. Und wenn ich noch etwas hinzufügen darf? Sie sollten die Wortführerin sein. Im Gegensatz zu Ihren Kolleginnen haben Sie eine Ausstrahlung.«
»Hm – danke«, sagte sie mit Unbehagen, aber erfreut. Und dann: »Und Sie? Wie sieht Ihre Geschichte aus?«
»Oh. Meine Geschichte. Mal überlegen«, antwortete Emmett. »Ich begnüge mich inzwischen mit dem Job bei Nabisco, und er ist manchmal ganz okay. Man erlebt natürlich so gut wie keine Überraschungen, leider, denn ich mag Überraschungen. Sie sind eine Überraschung«, ergänzte er.
Und er ergriff ihre Hand. Einerseits ein Schock, andererseits nicht, denn sie hatte damit gerechnet, und nun war es so weit. Er streichelte sie mit dem Daumen, einmal, noch einmal. Dies war ein Geschäftsessen – vor allem, aber nicht nur. Sie war auf seinen Vorstoß gefasst gewesen, allerdings war sie jetzt nicht mehr ganz so fest entschlossen, ihn abzuschmettern. Ihre Lust hatte sie weder geschwächt noch dazu geführt, dass sie nur noch mit dem Körper dachte. Stattdessen hatte sie ihr Denken verändert. Ein sonderbares Gefühl schwappte über sie hinweg, ein Prickeln der Erregung. Bei diesem Gefühl war ihr stets etwas unwohl, bis es sich schließlich verfestigte.
»Schlaf mit mir«, sagte er. »Das ist mein sehnlichster Wunsch.«
»Noch sehnlicher als der, Anzeigenplätze zu kaufen?«
»Ja.« Er streichelte weiter ihre Hand, und sie entzog sie nicht. »Wir könnten zu dir gehen«, schlug er vor. »Ich weiß, dass du in der Nähe wohnst. Ich habe dich im Telefonbuch nachgeschlagen.«
Sie schaute in die Kerzenflamme. Ihr Gesicht wurde wärmer, glühte fast wie die Kerze. »Das ist deine Art, etwas zu befehlen, hm?«, erwiderte sie und duzte ihn jetzt auch. »Und jetzt soll ich einfach gehorchen?«
»Das ist kein Befehl, Faith. Du musst es auch wollen.«
Dann waren sie in ihrem Apartment, einer Schuhschachtel von Zimmer in der West Thirteenth Street, das sie allein bewohnte, seit Annie Silvestri in den Mittleren Westen gezogen war. Als Emmett seine Kleider ordentlich über den Stuhl hängte, kam Faith der Gedanke, dass er der erste Geschäftsmann wäre, mit dem sie ins Bett ginge.
Emmett trug wunderschöne Lederschuhe mit Lochmuster, wie sie bemerkte, als er sie aufschnürte und neben ihren Stiefeln aus roséfarbenem Wildleder vor die Wand stellte. »Sie sehen aus wie Cracker von Nabisco«, meinte sie.
»Wer?«
»Deine Schuhe. Mit dem Lochmuster.«
Er sah hin. »Stimmt.« Dann lächelte er. »Der Cracker für die gesellige Teerunde. Einer unserer Klassiker. Ich finde deine Stiefel übrigens ziemlich schick.«
Er richtete seine Schuhe exakt parallel aus; seine glänzenden, dunklen Schuhe und ihre pastellfarbenen, weichen Stiefel boten einen Kontrast, der an sich schon irgendwie sexy war. Seine Unterwäsche war wie frisches, weißes Segeltuch. Er hatte einen herrlichen, beinahe reptilienartigen Körper. Er war kein hundertprozentiger Warmblüter, aber das war Faith egal. Sie fand ihn fast absurd attraktiv, vor allem wegen seiner längeren, dunklen Haare und des Limonendufts, der ihn männlicher wirken ließ als alle Männer, die sie nach ihrem Vater kennengelernt hatte. Trotzdem war er anders als ihr Vater, ganz klar.
Im Bett liegend lächelte Emmett träge, breitete die Arme aus und umschloss Faith. »Komm her«, sagte er, als wäre sie nicht schon da. Doch er wünschte noch mehr Nähe, wollte sofort in sie eindringen, ein Bedürfnis, das sie durchaus nachvollziehen konnte, denn sie wollte ihn nicht nur in sich spüren, sondern gewissermaßen ganz in ihm sein, vielleicht sogar er sein. Sie wollte in sein Selbstvertrauen schlüpfen, seinen Stil, seine Art, sich durch die Welt zu bewegen, eine Art, die so anders war als ihre eigene.
Tu dies, tu jenes, befahlen sie einander, wie es Menschen, alle Konventionen missachtend, beim Sex tun. Er wuchtete sie auf sich, sah mit einem Blick zu ihr auf, getrübt durch Erregung, vor allem aber durch Verehrung. »Oh mein Gott«, sagte er, als sie über ihm aufragte wie ein schwebender Engel, und Faith merkte, dass sie eigentlich nichts dagegen hatte, so gesehen zu werden: als Vision. Sie hielten beide kurz inne. Seine Pupillen drohten, in die Höhlen zu rollen, aber dann kam er wieder zur Besinnung, als wäre ihm eingefallen, was geschah, und drang so tief in sie ein, dass sie das Gefühl hatte, ihr Körper würde halbiert werden. Trotzdem tat es nicht weh.
Als er kam, stöhnte er ausgiebig und sagte danach: »Oh, Faith«, und der letzte Rest Verhaltenheit, alles Formelle fiel von ihm ab. Er wurde still, verschnaufte kurz und widmete sich danach ganz ihr. Ihre drei Orgasmen, wie Kanonenschüsse aufeinanderfolgend, waren für beide ein Rausch, und im Anschluss sagte er leise zu ihr: »Das war der schönste Teil.«
Sie lagen im Bett und erholten sich von der leidenschaftlichen Hingabe. Schließlich angelte er die silberne Armbanduhr vom Nachttisch und schloss sie mit einem Klicken über dem langen Handgelenk. »Ich muss los«, sagte er.
»Wohin denn? Ist doch sicher schon zwei Uhr früh.« Faith sah sich nach dem pfirsichfarbigen Schein der Anzeige ihrer Timex-Uhr um.
»Nach Hause.«
Ein langes, schreckliches Schweigen, dann sagte sie: »Du bist verheiratet.« Noch ein Schweigen, ebenso schrecklich. Faith suchte nach zornigen Worten. Aber sie war nicht zornig, sondern erfüllt von einer bleiernen Trauer, weil sie trotz des fehlenden Eherings geahnt hatte, dass er verheiratet war. Deshalb hatte sie ihn auch nicht danach gefragt, bevor sie mit ihm ins Bett gegangen war. Hätte sie Gewissheit gehabt, dann hätte sie das nicht tun können.
Wahrscheinlich hatte sie seine Frau schon gesehen, damals im Casino. Ihr fiel ein, wie Emmetts Hand auf dem Kreuz der Frau gelegen hatte. Ihr trautes Miteinander. Und nicht nur das, nein, sie wusste auch, dass er Vater war – mindestens eines Kindes. Das hatte sie dunkel registriert, als Emmett in der Cookery den kleinen Papierschirm aus dem Drink gezogen und in die Jackentasche gesteckt hatte.
Wer würde so etwas tun, wenn nicht ein Vater, der seinem Kind – wahrscheinlich eine Tochter – etwas mitbringen will? Faith konnte nicht zornig sein, weil sie alles gewusst, ihr Wissen aber verdrängt hatte.
Sie setzte sich im Bett auf und beobachtete, wie er sich anzog, alle Hemdknöpfe trotz der Dunkelheit mit Bedacht durch die kleinen Schlitze drückte. Zwischendurch sah er kurz auf. »Ich habe dich nicht angelogen«, betonte er. »Hättest du mich gefragt, dann hätte ich es sofort erzählt.«
»Vielleicht, ja.«
»Meine Frau und ich sind uns nicht so nahe. Nicht wie wir. Wir beide könnten etwas ganz anderes miteinander haben. Irgendetwas Fantastisches, das auf dem heutigen Abend basiert. Was wir getan und empfunden haben – ich habe das nicht geheuchelt, verstehst du? Wir könnten das fortsetzen. Wir könnten das sein.«
»Da spiele ich nicht mit«, meinte Faith, nun sehr kühl. »Nicht bewusst. Das tue ich meinen Schwestern nicht an.«
»Schwestern?«, fragte er verwirrt. »Wie meinst du das? Oh. Alle Frauen sind Schwestern. Verstehe. Ein Frauenbewegungs-Ding. Meine Frau ist nicht deine Schwester, glaub mir.«
»Aber du verstehst, was ich meine. Ich tue das anderen Frauen nicht an.«
»Aus moralischen Gründen?«
»Könnte man so sagen«, erwiderte sie.
»Kapiert. Ich rufe dich morgen an.«
»Bitte nicht.«
»Nur wegen der Anzeigen«, sagte Emmett. »Ich spreche mit den Leuten im Büro. Vielleicht kann ich sie doch noch überreden, in eurer Zeitschrift Anzeigenplätze zu kaufen.«
»Klar«, sagte sie tonlos.
Er rief am nächsten Morgen an, sie war noch zu Hause. »Pass auf, ich muss dir was sagen«, begann Emmett mit ruhiger, aber angespannter, irgendwie veränderter Stimme. »Meine Frau weiß Bescheid.« Faith war schockiert und wusste nichts zu erwidern. »Sie hat mich nach meiner Heimkehr zur Rede gestellt und gesagt: ›Lüg mich nicht an‹, und ich konnte nicht anders, als ihr die Wahrheit zu sagen. Sie wollte alles wissen, auch deinen Namen, und ich habe ihr alles erzählt.«
»Mein Gott, Emmett, warum hast du das getan?«, fragte Faith.
»Sie steht neben mir und will dich sprechen«, fuhr er fort. »Darf ich sie dir geben?«
»Bist du verrückt?«
»Nein«, sagte er und klang traurig, was vielleicht nur an einer Verzerrung in der Verbindung lag, aber Faith legte nicht auf. Sie hörte, wie der Hörer weitergereicht wurde, danach die Stimme einer Frau.
»Faith Frank? Hier spricht Madeline Shrader«, sagte sie leise und emotionslos. Faith schwieg. »Sie sollten wissen, dass mein Mann nicht so leicht zu haben ist. Vielleicht glauben Sie das aufgrund seines Verhaltens. Aber Sie sollten daran denken, dass er bei der Trauung neben mir gestanden und geschworen hat, mich zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod uns scheidet. Und wissen Sie was, Faith Frank? Ich bin noch nicht tot.«
Faith hielt es nicht mehr aus und legte leise auf. Sie stellte sich Emmett mit seiner Frau vor. Hatte das Trio aus Vater, Mutter und Kind vor Augen – ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen, das dasaß und zufrieden mit etwas spielte: einem Papierschirm, der im Glas seines Vaters gelehnt hatte.
Faith hasste sich voller Ingrimm und erinnerte sich dann an das Gespräch in der ersten Frauenrunde, an der sie teilgenommen hatte. Warum sind wir so streng mit uns selbst?, hatten sie sich damals gefragt.
Manchmal, dachte sie jetzt, war es richtig, streng mit sich zu sein.
»Wir haben von Nabisco kein Geld zu erwarten«, teilte sie Shirley Pepper am Morgen im Büro mit. Sie war außer Atem, lehnte sich gegen eine Wand, denn der Fahrstuhl streikte mal wieder und sie hatte die Treppe hochgehen müssen.
»Nein? Und warum nicht?«, fragte Shirley. Sie sah von ihrer IBM-Schreibmaschine auf, schwer wie ein Traktor.
»Ist kompliziert«, sagte Faith.
»Alles klar«, meinte Shirley tonlos. »Ist kein Drama, Faith. Ich glaube, wir haben bei Dr. Scholl’s einen Fuß in der Tür. Wir gehen also nicht so schnell unter.«
Die Zeitschrift bekam eine gewisse Aufmerksamkeit und hielt sich in unterschiedlichen, bescheidenen Versionen noch über dreißig Jahre. Während der Anfangszeit waren die drei Redaktions-Veteraninnen gelegentlich in Talkshows zu Gast und sprachen dort ernst und leidenschaftlich, hielten sich an die Spielregeln. Die Moderatoren waren oft Rüpel mit breiter, silberfarbener Krawatte, die auf Kosten der Frauen Witze über haarige, wütende Feministinnen rissen, die kein Mann jemals anrühren würde. Shirley, Faith und Evelyn stimmten nie in ihr Lachen ein, sondern saßen in den Shows, um zu sagen, was sie für richtig und wichtig hielten, selbst wenn man sie lächerlich machte.
Irgendwann begann Faith, ihren eigenen Kurs zu steuern. Sie konnte so viel besser reden als ihre Kolleginnen. Sie war kein Mensch, der vor Ideen sprühte – das würde sie vermutlich nie sein –, aber sie hatte etwas anderes zu bieten. Die Menschen mussten hören wollen, was man zu sagen hatte. Sie mussten sich wünschen, dabei zu sein, selbst wenn man Dinge sagte, vor denen sie lieber die Ohren verschlossen hätten. Diese Gabe offenbarte sich 1975, als Faith in einer Late-Night-Talkshow als Gegenüber des Autors Holt Rayburn auftrat, der durch seinen Vietnam-Roman Cloud Cover berühmt geworden war. Er trug ein Jackett mit breiten Aufschlägen und eine Krawatte mit Paisley-Muster, seine buschigen Koteletten rahmten ein Gesicht, das aussah, als würde es ihn ständig nach Streit jucken, und er rauchte Kette, mit der Folge, dass der Set der Show seine eigene, tief hängende Wolkendecke hatte.
»Das Ding mit den Frauen«, begann er, und der Moderator, Benedict Loring, beugte sich vor.
»Ja? Ja?«, sagte Loring. »Das Ding mit den Frauen? Oh, ich liebe Sätze, die so beginnen, Sie nicht auch?« Er setzte eine laszive Miene auf, und das Publikum lachte und klatschte.
»Das Ding mit den Frauen«, wiederholte Holt Rayburn, »ist, dass sie sich wünschen, man möge alles Mögliche für sie tun: ›Mach mal den Schraubverschluss auf, ich schaffe das nicht. Geh mit mir ins Bett, ich bin ja so scharf. Bezahl du das Abendessen, denn ich spare für schlechte Zeiten.‹ Aber dann sitzen sie hier im Fernsehen, plötzlich zu zornigen Feministinnen mutiert, die sagen: ›Wir machen das alles selbst.‹ Ich meine – was soll der Scheiß? Ihr könnt nicht beides auf einmal haben, Ladys. Ihr könnt nicht sowohl kleine Mädchen sein, die von uns versorgt werden wollen, als auch weibliche Dampfwalzen, die alles selbst tun. Und wenn das so wäre, wenn Letzteres zuträfe: Na schön, dann geht eben mit euresgleichen ins Bett, wie es ja schon viele von euch tun, dann braucht ihr die Männer halt nicht mehr. Und wenn ihr schon mal dabei seid, könnt ihr ja auch versuchen, ohne uns Babys zu bekommen. Und die Miete zu bezahlen. Haltet mich auf dem Laufenden darüber, wie das für euch funktioniert.«
Das Publikum war völlig aus dem Häuschen. Mehr Gelächter, mehr Beifall, und dann beruhigten sich alle, weil sie begriffen, dass man jetzt Faith Beachtung schenken musste. Faith, die dem Mann gegenübersaß. Wie würde sie reagieren? Sie war eine Frauenrechtlerin, und man hatte sie eingeladen, um genau diese Rolle zu spielen. Was würde sie sagen oder tun? Faith saß gelassen da, die Hände im Schoß. Ihr wurde bewusst, dass sie aussah wie eine lustlose Lehrerin, und das nervte sie. Aber wie sollte man vorteilhaft wirken, wenn ein Mann so über Frauen sprach? Man konnte gouvernantenhaft oder wütend wirken, man konnte auch in das Lachen einstimmen, nur wäre das die schlimmste Option.
Sie beschloss, Holt Rayburn links liegen zu lassen. Der Mann war ein Schwachkopf, ein gut bezahlter Schwachkopf aus der Literatenzunft. Männer wie er stampften mit breiter Brust durch die Welt, und es war absolut unmöglich, ihnen das Gefühl von Freiheit oder Gewissheit zu nehmen. Also ignorierte sie ihn und sah direkt in die Kamera, was sowohl Holt Rayburn als auch den Moderator verwirrte. Ein Kameramann winkte ihr und hauchte: »Die Männer ansehen, die Männer ansehen«, aber sie ignorierte auch ihn.
»Die Männer befürchten offenbar«, sagte sie, »sie müssten die sogenannten Frauenjobs erledigen, wenn wir Ärztinnen und Anwältinnen wären und obendrein auch noch eigenhändig Gläser aufschrauben könnten. Das ist eine Vorstellung, bei der sie sich vor Angst in die Hose machen. Es gibt nichts, was Frauen nicht selbst erledigen können, aber es gibt vieles, vor dem die Männer Schiss haben.«
Sie hatte das Ohr des Publikums. Dieselben Leute, die Holt Rayburn beklatscht hatten, beklatschten nun sie. »Etwa, einen Kindergeburtstag zu schmeißen«, sagte sie. »Oh – oder ein Kind zu gebären.« Es wurde gejubelt. »Wir haben immer Mittel und Wege gefunden, um Dinge zu erledigen, wenn keine Männer da waren.« Sie wandte sich an Holt Rayburn, dessen Zigarette zwischen den Fingern zu einer langen, fragilen Aschesäule heruntergebrannt war. »Ein echtes Problem haben Sie aber benannt, Holt, und ich denke, ich habe die Lösung.« Faith setzte ihr wunderschönes, gelassenes und sonniges Lächeln auf, schlug die in hellblauen Wildlederstiefeln steckenden Beine übereinander und sagte: »Ich habe beschlossen, ab jetzt nie wieder Schraubverschlussgläser zu kaufen.«
Diese Stelle lief jahrzehntelang immer wieder, bis sie am Ende fast vollständig in Vergessenheit geriet. Einige Jahre nach der Show überfuhr Holt Rayburn – sternhagelvoll nach einer Buch-Party in den Hamptons – auf einer dunklen Straße eine Frau, der daraufhin ein Bein amputiert werden musste. Weil er schon mehrmals wegen Trunkenheit am Steuer belangt worden war, saß er ein paar Jahre lang im Knast, und als er wieder rauskam, hatte er einen Roman darüber geschrieben, New Fish, der ein Bestseller wurde, wenn auch kein so großer wie Cloud Cover – doch zu jenem Zeitpunkt war er schon müde und mürrisch. Er starb noch im selben Jahr an einem Schlaganfall, ein kleiner, schwitzender Mann, verwirrt von einer Welt im Umbruch, die für die Frauen, aber auch für ihn, so anders geworden war.
Es beflügelte Faith Frank, eine beliebte öffentliche Rednerin zu sein, und sie sprach nicht nur mehr, sondern wurde insgesamt aktiver. Faith nahm an Demonstrationen für das Equal Rights Amendment teil. Sie blieb nach Versammlungen bis spät in die Nacht, um mit möglichst vielen Frauen zu sprechen. Als die Abtreibungskliniken ins Kreuzfeuer gerieten, gehörte sie zu denen, die versuchten, mit Richtern zusammenzuarbeiten, um dafür zu sorgen, dass niemand zu Schaden kam. All das tat sie zum Teil wegen Holt Rayburn und dem Bild des schwer zu öffnenden Schraubverschlusses.
Faith fühlte sich mit allen möglichen Frauen wohl, auch mit Lesben, von denen sie manche näher kennenlernte. Eine ihrer lautstärksten Vertreterinnen, Suki Brock, hatte Faith einmal auf einer Kundgebung geküsst, und Faith hatte einfach gelächelt, sie am Arm berührt und gesagt, sie fühle sich geschmeichelt.
»Solltest du je in unsere Richtung neigen, Faith«, sagte Suki, »dann komm zuerst zu mir, hörst du?«
Faith hatte erwidert: »Na klar«, eine Chiffre für Nein. Sie wollte weder von Suki noch von anderen Frauen geküsst werden, nicht mal von jenen, die sich stolz »Separatistinnen« nannten. Faith kannte ein Foto zweier Farmerinnen, das wie eine gleichgeschlechtliche Version des Gemäldes American Gothic aussah. Eine der Frauen trug einen Blaumann, aber kein Hemd, und ihre Brüste ragten links und rechts unter dem Latz hervor. Inzwischen zogen die Frauen auf Farmen, in Kommunen und Kollektive. War das ein Utopia? Faith wusste, dass es stets eine Herausforderung war, mit jemandem zusammenzuleben. Die perfekte Lebensweise gab es nicht.
Faith bewegte sich geschmeidig unter radikalen Frauen, unter Hausfrauen und Studentinnen, weil sie – wie sie es ausdrückte – dazulernen wollte. »Für wen kämpfen Sie?«, wurde sie einmal von der blutjungen Mitarbeiterin einer Studentenzeitung gefragt.
»Für die Frauen«, antwortete Faith, eine Antwort, die zu Beginn reichte, später aber nicht immer genügte.
Damals, als sie diese Persönlichkeit gewesen war, diese Faith-Frank-Persönlichkeit, die in vielen Menschen starke und oft unerklärliche Gefühle weckte, fand sie zu sich selbst. Nach ihrem Talkshow-Auftritt als Gegenspielerin Holt Rayburns stieg Faith auf und wurde berühmter als die Zeitschrift, deren Mitherausgeberin sie war. Ihre Bücher wurden Bestseller; ihre Fernsehauftritte lockten viele Zuschauer an. Mit der Zeit verdrängte sie ihre Gedanken an Emmett Shrader, obwohl sie die Geschichte seines Aufstiegs verfolgte: wie er im Unterbau von Nabisco begann und dann mithilfe des Vermögens seiner Frau Madeline Shrader, geborener Tratt, Erbin eines Stahl-Imperiums, seine eigene Risikokapitalfirma aufzog, ShraderCapital. Jeder wusste, wie es gelaufen, welch ein Phänomen das war, wie er zum Milliardär wurde.
Aber man redete auch viel über seine dubiosen Geschäfte, vielleicht nicht schlimmer als die anderer in seiner Liga, aber verstörender, weil er liberale Meinungen vertrat; man sprach über seine teils befremdlichen Geschäftsverbindungen und die dubiosen Projekte, in die er investiert hatte, darunter eines, das mit einer von der National Rifle Organisation verbandelten Waffenreinigungsfirma zu tun hatte, ein anderes das eines Babynahrungsherstellers, der seine Produkte in Entwicklungsländern zu überhöhten Preisen verkaufte. Aber seine guten Taten schienen all das aufzuwiegen. Geschäfte, die sich auf diesem Niveau bewegten, verstand Faith nicht einmal ansatzweise.
Die Grundsatzentscheidung Roe v. Wade, ergangen 1973, rief die Gegner des Schwangerschaftsabbruchs auf den Plan. Diesen musste man mit Wort und Tat entgegentreten, und Faith engagierte sich voller Leidenschaft. Drei Jahre später gewann Anne McCauley aus Indiana aus dem Nichts einen Sitz im Senat, weil sie sich für ein Abtreibungsverbot starkmachte. »Wir werden Tag für Tag gegen Roe kämpfen. Wir werden diese Entscheidung mit der Zeit Stück für Stück demontieren«, sprach sie in die Mikrofone, wobei sie unaufgeregt und vernünftig klang und kerzengerade dastand.
Wenn Faith Senatorin McCauley im Fernsehen sah, dachte sie stets, wie einfach es wäre, die Wahrheit über sie zu verbreiten, der Presse einfach ein Statement zukommen zu lassen, in dem darauf hingewiesen wurde, dass sich Senatorin McCauley elf Jahre vor ihrer Wandlung zu einer massiven und lautstarken Gegnerin des freien Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in Las Vegas selbst einer illegalen Abtreibung unterzogen hatte. Das hätte ihrer Agitation vermutlich einen Riegel vorgeschoben und ihre politische Karriere Knall auf Fall beendet. Faith kochte vor Wut, weil Annie schon so viel Unheil angerichtet hatte, besonders auf Kosten der ärmsten Frauen, denen jede Hilfe versagt blieb. Sie konnte sich diesen Sinneswandel nicht erklären, vor allem, weil Annie nach ihrer Erfahrung mit einer illegalen Abtreibung hätte einsehen können, wie dringend notwendig es war, diese zu legalisieren. Aber man wusste nie, was in einem Menschen vorging; Gedanken konnten sich mit der Zeit zu einer Besessenheit auswachsen, um die sich eine neue Schale bildete und verfestigte. Faith hatte gelesen, dass Annie religiös war. Hatte ihr der Glaube geholfen, ihre Gedanken über die Abtreibung zu ordnen? Oder war es ganz anders? Würde Faith ihr jetzt begegnen, dann würde sie sagen: »Ernsthaft, Annie?«
Jahrzehnte später versuchte das Team von Loci mehrmals, Senatorin McCauley als Rednerin zu gewinnen. Während des ersten Anlaufs hatte Faith nichts gesagt, sondern nervös abgewartet, was passieren, wie Annie reagieren würde. Aus dem Büro der Senatorin hieß es dann erwartungsgemäß, sie sei verhindert. Wahrscheinlich war es am besten so. Denn wenn Faith in einem Zimmer allein mit ihr gewesen wäre und gesagt hätte: »Ernsthaft, Annie?«, hätte sie wohl erwidert: »Ja, Faith, ernsthaft.«
Sie hatten beide ihre festen Überzeugungen. Und Faith würde die Geschichte Annies ebenso wenig öffentlich machen wie diese selbst. Das war Privatsache. Das entscheide ich selbst, hatten die Frauen damals bei dem Treffen gesungen. Also behielt Faith die Sache trotz allem für sich.
Faith merkte schon früh, dass sie die Gabe besaß, in anderen Frauen bestimmte Fähigkeiten zu wecken. Diese suchten ihre Nähe, wollten mehr aus sich machen. Faith begriff, dass sie von Mädchen und jungen Frauen auf eine ähnliche Art geliebt wurde wie von Lincoln. Manchmal wirkten sie etwas verloren, mussten vielleicht auch inspiriert werden. Und sie erkannte, dass das Wichtigste, was sie ihnen mitzugeben hatte, das Gefühl der Freiheit war.
»Erzähl doch mal, was du im Leben anstrebst, Olive«, hatte sie einmal eine schüchterne Praktikantin bei Bloomer gebeten, die noch zur Highschool ging.
Olive Mitchell sah sie so dankbar an, als hätte sie seit sechzehn Jahren auf genau diese Frage gewartet. »Luftfahrtingenieurin«, antwortete sie atemlos.
»Super. Dann setz dich voll dafür ein. Ist sicher schwierig, in dem Bereich Fuß zu fassen, hm?« Das Mädchen nickte. »Dann musst du absolut unerschütterlich und zielstrebig sein, aber das bist du ja schon. Ich glaube, du schaffst das«, ergänzte sie.
Faith hatte seit Jahren nicht mehr an Olive gedacht, wusste aber, dass sie begonnen hatte, Luftfahrttechnik zu studieren, denn sie hatte Faith einen überschwänglichen, fast poetischen Dankesbrief geschrieben und ein Foto beigelegt, auf dem sie mit strahlend glücklichem Lächeln in einem Forschungslabor stand. Das war ewig her. Faith konnte all die jungen Frauen, denen sie begegnet war, viele hochbegabt und vielversprechend, unmöglich im Blick behalten.
Junge Frauen passierten die Tür von Faith Frank, egal, wo sie lebte oder was sie tat. Manche wohnten natürlich in der Nähe, sie war also selten einsam. Ab und zu erwachte ihr Bedürfnis nach der Gesellschaft eines Mannes, und dann verabredete sie sich mit Will Kelly, einem Strategen der Demokraten, den sie in den späten 1980ern auf einer Feier kennengelernt hatte. Gut aussehend, verschlagen, schnurrbärtig und unverheiratet, strahlte er sowohl etwas von einem Politikbesessenen als auch von einem Streuner aus, eine Mischung, die sie verführerisch fand. Will lebte zwar in Austin, Texas, setzte sich aber ins Flugzeug, um mit Faith zusammen zu sein; sie aßen dann zu Abend und verbrachten die Nacht mit nettem, etwas aerobicartigem Sex und guten Gesprächen. Bis zum nächsten Treffen konnten Monate vergehen, aber das war okay. Faith hatte die Fähigkeit, allein zu sein, mit der Zeit perfektioniert. Wenn man allein war, waren körperliche Details egal, dann war es schnuppe, ob die Beine aussahen wie Feigenkakteen oder ob der Atem nach einer Cocktailparty nach Brie roch. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die sie kannte, war sie gern allein.
Das Aus für Bloomer im Jahr 2010 war in mehrerer Hinsicht ein Tiefschlag. Faith fühlte sich monatelang bedrückt und überflüssig, und dann meldete sich plötzlich der Milliardärs-Geist aus ihrer Vergangenheit, Emmett Shrader, oder besser: seine Assistentin, und Faith ließ sich auf ein mittägliches Treffen in sein Büro einladen.
Als sie seinen Geschäftsraum betrat, groß wie ein britischer Herrenclub, mit umwerfendem Ausblick, stand Emmett auf und ging ihr entgegen. Sie hatte im Laufe der Jahre viele Fotos von ihm gesehen, hatte mitverfolgt, wie sein dunkles Haar silbergrau geworden war. Sie hatte ihn auch mehrmals gegoogelt. Sie konnte schon in der Tür sehen, dass er kein Gramm Fett angesetzt hatte, aber als Milliardär hatte er natürlich einen Fitnesstrainer, einen Butler und einen gesundheitsbewussten Koch. Doch als er näher kam, empfand Faith etwas anderes: eine nostalgische Sehnsucht nach Emmetts verlorenem jüngerem Selbst, dazu eine nostalgische Sehnsucht nach ihrem eigenen verlorenen jüngeren Selbst. Zusammen ergab das ein Gefühl, das sehr bewegend und durchaus sexuell aufgeladen war. Als sie dort stand, wurde sie von einer Sehnsucht erfüllt, nur wusste sie nicht gleich, wonach.
Begehrte sie ihn oder vielleicht sein jüngeres Selbst und damit auch das ihre? Wollte sie einfach nur wieder jung sein, Punkt? Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie miteinander geschlafen hatten, an das schmerzhafte, niederschmetternde Nachspiel. Sein Gesicht war immer noch markant, und ihr kam ein Wort in den Sinn, eines, das man mit Macht verband: »zerklüftet« – aber wehe, eine in der Öffentlichkeit stehende Frau war zerklüftet. Man würde sie auf Twitter verspotten, behaupten, sie habe sich gehen lassen, ihr raten, sich einen Sack über den Kopf zu stülpen. Sein Körper wirkte noch beeindruckend straff und war in die wunderbare Kleidung eines sehr reichen Mannes gehüllt, die Krawatte hing wie ein Eiszapfen vor seiner Brust. Sexuelle Anziehung war keine Insel, sondern ein Archipel mitsamt Kontext und allem Drum und Dran. Er befand sich jetzt im Kontext dieses absurd großen Büros, ein Mann, der seine Erfolge in den Jahren, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, ausgestellt hatte wie ein Großwildjäger seine Trophäen.
»Faith«, sagte er, und seine Stimme war sanft, seine Augen fast feucht. Er ergriff ihre Hand, ließ sie dann los und schloss sie in die Arme. Diese Umarmung kam überraschend, war so anders als die Luftküsse oder die doppelten Luftküsse, wie sie auf der Insel Manhattan inflationär oft verteilt wurden. »Ich freue mich ja so, dich zu sehen«, sagte Emmett, als sie sich voneinander gelöst hatten, einen Schritt zurückgetreten waren und einander musterten. Dann bat er sie, auf einer braunen Ledercouch von der Größe eines Bisons Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber. Sie hörte zu, während er ihr den Plan einer Stiftung für Frauen auseinandersetzte, abgesichert durch seine Firma, geleitet von Faith. »Wir veranstalten Tagungen, Vorträge und Treffen zu bestimmten Themen und bitten die Öffentlichkeit dazu. Wir können weitere Sponsoren suchen«, sagte er. »Wir nehmen Eintritt, aber davon abgesehen tragen wir alle Kosten selbst.«
»Nicht so schnell«, sagte Faith, nachdem er minutenlang ohne Punkt und Komma geredet hatte. Im Hintergrund deckten weiß gekleidete Männer und Frauen den Mittagstisch. »Ich möchte erst einmal sagen, dass ich mich sehr geschmeichelt fühle.«
»Sag das nicht«, entgegnete er. »Das sagt man, wenn man ablehnen will.«
»Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich versucht, mich etwas gründlicher zu informieren«, sagte Faith. »Du glänzt in vieler Hinsicht, Emmett, aber man weiß auch, dass du vor moralisch fragwürdigen Abkürzungen nicht zurückschreckst.«
»Meine Firma ist in zig Projekte involviert, Faith«, erwiderte er. »Ich bin kein Heiliger, schon richtig. Wir probieren vieles aus, und nicht alles funktioniert. Aber wir verdienen gut, und wenn du einen Blick auf unsere Spendengeschichte wirfst, müsstest du eigentlich beruhigt sein. Wir geben viel Geld, um die Sache der Frauen zu unterstützen.«
Sie sahen einander schweigend und fast prickelnd lange an. Sie legte es dreisterweise darauf an, ihn aus dem Konzept zu bringen. »Du machst dir Gedanken über die Probleme der Frauen?«, fragte sie schließlich.
»Das solltest du wissen.«
»Erinnerst du dich an John Hinckley?«, fragte sie. »Den Typen, der Ronald Reagan angeschossen hat? Er hat behauptet, Jodie Foster damit beeindrucken zu wollen.«
»Du glaubst, ich biete das an, weil ich dich beeindrucken will?«
»Vielleicht.«
»Selbst wenn es so wäre, und so ist es nicht, kann ich dir versichern, dass es nicht zum Programm der Stiftung gehören wird, Präsidenten über den Haufen zu schießen«, sagte Emmett. Er rieb sich die Augen, als würde Faith ihn nerven, und so war es wahrscheinlich auch. Vielleicht wünschte er sich, sie nie zu sich gebeten zu haben, weil sie ein solcher Quälgeist war. Aber sie musste es durchziehen. »Wirklich«, sagte er, »ich will einfach nur etwas Gutes tun.«
»Etwas, das mit Frauen zu tun hat.«
»Ja, genau.«
Dann ergänzte sie leiser: »Etwas, das mit mir zu tun hat.«
Bei dem Gedanken an die Mittel und Ressourcen, die Emmett anzubieten hatte, war Faith total aus dem Häuschen. Weder hatte ihr dergleichen je zur Verfügung gestanden, noch hatte sie je geahnt, dass sie sich solche Mittel wünschte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie es wäre. Bei Bloomer hatte sie mit Cormer Publishing darum ringen müssen, Autorinnen wenigstens ein kleines Honorar zu zahlen oder zweilagiges Klopapier für die Toilette zu bekommen.
Sie überlegte, ob sie sich verkaufte, wenn sie das Angebot akzeptierte. Shirley war schon vor längerer Zeit an der koronaren Herzkrankheit gestorben, Faith konnte sie also nicht mehr fragen. Bonnie Dempster hatte seit dem Aus von Bloomer einen prekären Job bei einer Entrümpelungsfirma, peinlicherweise »Stuffragettes« genannt, in der nur Frauen arbeiteten. Nach dem Besuch in Emmetts Büro – sie hatte erklärt, darüber nachdenken zu müssen – rief Faith bei ihr an, um ihre Meinung einzuholen, und es war Bonnie, die sagte: »Manchmal bist du echt blauäugig, Faith. Toll, dass du nicht zynisch bist, aber ich wäre vorsichtig. Bist du überhaupt scharf darauf? Ich meine: Reicht das?«
Faith rief Emmett am nächsten Vormittag an und sagte: »Ich weiß nicht recht, ob wir tatsächlich etwas bewirken könnten. Es wäre eine Vortragsagentur auf hohem Niveau, und damit habe ich keine Erfahrung. Ist auch nichts, was ich je machen wollte.« Er schwieg. »Wie sollen wir so einen Draht zu Frauen bekommen?«, fragte sie. »Wie sollen wir so deren Lebensverhältnisse ändern?«
»Das schaffen wir, glaub mir. Du würdest das schaffen.«
»Danke«, sagte sie nach längerem Schweigen. »Aber ich muss ablehnen.«
Er wirkte schockiert, und sie legten rasch auf. Faith unternahm einen ausgedehnten Spaziergang im Riverside Park, bei dem sie darüber nachdachte, was sie gerade ausgeschlagen hatte. Sie fand sein Angebot hohl. Was fehlte? Was könnte die Sache abrunden? Eine Stunde später stieg sie in ein Taxi und suchte ihn auf, ohne einen Termin zu haben. Er war da, und als sie in sein Büro geführt wurde, sagte sie: »Es müsste eine weitere Komponente geben.«
»Spuck’s aus«, erwiderte Emmett.
»Ich höre täglich Geschichten über Nöte von Frauen weltweit. Ich fände es gut, wenn wir nicht nur Vorträge organisieren, sondern konkret eingreifen würden. Wenn wir akute Notlagen ausmachen, die rascher Hilfe bedürfen, sollten uns Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit wir den betreffenden Frauen sofort helfen können.« Sie schaute ihn an. »Verwirfst du das etwa schon?«
»Natürlich nicht.«
»Wir würden uns zu, sagen wir, achtzig Prozent den Rednern und Tagungen widmen und zu zwanzig Prozent dem, was wir – tja, ich weiß nicht – ›Sonderprojekte‹ nennen könnten.«
»Abgemacht«, sagte er.
Beide Arme von Loci, diese unterschiedlich langen Arme, waren im Laufe der Jahre hochproduktiv gewesen. Frauen versammelten sich ständig zu Tagungen, sie tagten die Nächte durch, redeten bis zum Umfallen. Dabei ging es um ehrgeizige Themen, kürzlich etwa um Führung – im Moment waren alle so scharf auf Führung, als wäre eine Gesellschaft denkbar, die nur aus Anführern bestünde und ohne Untergebene auskäme, was dem kindlichen Wunsch nach einer ausschließlich von Ballerinen oder Feuerwehrmännern bevölkerten Welt entsprach. Im Laufe der Jahre hatte es viele Sonderprojekte gegeben. Loci hatte das Gehalt eines Gesundheitsberaters in einem namibischen Dorf sowie die Verteidigung einer Frau bezahlt, die wegen Mordes an ihrem Mann vor Gericht stand, der sie über ein Jahrzehnt lang missbraucht und terrorisiert hatte.
Vier Jahre nach der Gründung von Loci, also ab 2014, wurde es aber zunehmend schwieriger, die Projekte bei den Leuten in der nächsthöheren Etage durchzuboxen. Diese empfanden die Sonderprojekte als Ärgernis und Geldverschwendung. Und nicht nur ShraderCapital sträubte sich in immer stärkerem Maße, die Stiftung bekam auch Gegenwind von außen. »Afrika braucht eure Hilfe nicht«, schrieb jemand in einem einflussreichen Online-Magazin, eine Kritik, die überall gepostet wurde und große Verbreitung fand.
Faith war es gewohnt, kritisiert und gehasst zu werden. Während der Blütezeit von Bloomer hatte sie dergleichen auch erlebt. Doch auf Twitter schrieben die Leute kurz nach der Gründung von Loci über #Blutgeld und #FaithlessFrank. Und das Hauptaugenmerk galt bald nicht mehr der Zusammenarbeit von Faith und Emmett Shrader, sondern der Stiftung an sich.
Inzwischen war klar, dass Loci nicht nur versäumt hatte, mit einem rasant sich verändernden Feminismus Schritt zu halten, sondern dass auch die Art, auf die sich die Stiftung in der Öffentlichkeit präsentierte, viele Angriffsflächen bot. Loci lief gut, und es wurde gelästert, etwa über #ReicheTussen und #WeißeDamenFeminismus, aber der Hashtag, der Faith am stärksten irritierte, hieß #SandwichhäppchenFeminismus.
Sie hatte Verständnis für die Kritik, wirklich. Vieles an all den Events und Empfängen, die andere Unternehmen und reiche Geldgeber bezirzen sollten, war reine Verschwendung. Man konnte sich mit Fug und Recht fragen, warum man einer Stiftung Geld spenden sollte, hinter der ein Milliardär stand. Außerdem hatte es ursprünglich nicht zum Konzept gehört, externe Mittel einzutreiben; ShraderCapital hatte alle Kosten bestritten. Das hatte sich jedoch aus rätselhaften Gründen geändert; Emmett war innerhalb des Unternehmens unter Beschuss geraten.
Zum jetzigen Zeitpunkt war Loci also ein unstimmiger Hybrid. Faith hatte sich dem einundzwanzigsten Jahrhundert bis zu einem gewissen Grad angepasst, aber das, worauf sie sich am besten verstand, hatte sie während ihrer Anfangszeit gelernt. Diese Anfangszeit hatte sie maßgeblich geprägt, dort lagen ihre Ursprünge, ihre Wurzeln.
Trotz der Beschimpfungen auf Twitter und anderswo liefen die Tagungen blendend. Die Leute von oben mischten sich immer häufiger ein, sie hatten Studien und Fokusgruppen initiiert, mit der Folge, dass die Stiftung inzwischen schwerpunktmäßig auf Prominente setzte; das war nicht nur Lincoln aufgefallen, sondern wurde allgemein bemerkt. Man konnte eine schleichende Verflachung beobachten. Vieles von dem, was während der Events geschah, war einfach frivol, das wusste Faith. Zu Beginn hatte es dergleichen nicht gegeben.
Ein Teil des Teams wirkte demoralisiert. Vor einigen Monaten hatte Faith alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besucht wie eine Ärztin bei der Visite und rasch gemerkt, dass die Moral auf einem gefährlichen Tiefstand war. Als sie die Arbeitskabine von Greer Kadetsky betrat, die kurz nach der Gründung zu Loci gestoßen war, schlief diese, den Kopf auf dem Schreibtisch, obwohl es elf Uhr vormittags war. Greer, eigentlich hellwach und hochkonzentriert, hatte in letzter Zeit nachgelassen. Man konnte beobachten, wie sie mit anderen tuschelte, genervt von den Memos aus der oberen Etage. Faith hatte so getan, als wären die Veränderungen bei Loci noch weit davon entfernt, unumkehrbar zu sein, aber das ging nicht mehr; sie wusste, dass es falsch wäre, die Augen weiter zu verschließen.
»Guten Morgen, Schlafmütze«, sagte Faith leise und erinnerte sich daran, Lincoln mit diesen Worten geweckt zu haben, wenn er an Schultagen den Wecker verpennt hatte. Damals hatte eine milde Gereiztheit in ihren Worten gelegen, und so war es auch jetzt – Greer schämte sich zutiefst.
»Oh Mann, tut mir leid, Faith.« Sie richtete sich sofort auf und hob eine Hand, als wollte sie über ihr Gesicht streichen.
»Während der Arbeit zu schlafen, passt eigentlich nicht zu dir. Ist es hier inzwischen wirklich so schlimm?«, fragte Faith. »Ja, vielleicht«, ergänzte sie. Und dann: »Hol dir einen Kaffee und komm in mein Büro, Greer. Wir reden eine Runde.«
Als Greer auf der weißen Couch saß und in das Sonnenlicht blinzelte, sagte sie: »Heute Vormittag gab es wenig zu tun. Jedenfalls nichts Dringendes. So ist das seit geraumer Zeit. Ich komme mir zunehmend vor wie in einer stinknormalen Firma. Seit wir Mittel eintreiben sollen, dreht es sich immer mehr ums Geld. Ich dachte, ShraderCapital würde uns komplett finanzieren. Ich trauere den Anfangsjahren nach«, sagte Greer unverblümt. »Als die Stiftung noch kleiner war. Ich vermisse es, Reden für die Lunch-Talks zu schreiben.«
»Du hast damals tolle Arbeit geleistet. Sehr schade, dass diese Veranstaltungen gestrichen wurden. War nicht meine Entscheidung.«
»Ich vermisse auch die Frauen, die damals ins Büro gekommen sind. Dann saß ich da mit meinem kleinen Aufnahmegerät, habe sie kennengelernt und erfahren, was sie taten. Das habe ich miterlebt – ich hatte es direkt vor Augen. Das ganze Leben einer Frau.«
»Wie du weißt, stimme ich dir in allem zu.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch etwas bewirken, Faith«, sagte Greer. »Ich glaube daran«, fügte sie rasch hinzu. »Was wir erreicht haben, ist natürlich nicht leicht zu ermessen. Wir haben kein Produkt. Außerdem sind wir finanziell inzwischen unglaublich erfolgreich – das war am Anfang nicht so. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir auf einem Abstellgleis gelandet sind. Jedenfalls fühle ich mich so.«
Faith musste Greer nur etwas anstoßen, dann schüttete diese ihr Herz aus; so war sie immer gewesen, und sie hatte sich nicht verändert, erzählte nur weniger verhalten. Wie den anderen – jedenfalls jenen, die von Anfang an dabei waren – missfiel auch Greer Kadetsky die Fixierung der Stiftung auf Glamour sowie die Tatsache, dass man nicht mehr unmittelbar half. Greer schrieb immer noch viel – und hervorragend, wie Faith fand –, aber nur für den Newsletter oder den Jahresbericht, was sicher zu ihrem Gefühl beitrug, für ein stinknormales Unternehmen tätig zu sein.
»Wann haben wir zuletzt ein Sonderprojekt gestartet?«, bohrte Greer nach. »Diese Projekte haben alle mitgerissen, weil wir hautnah erleben konnten, wie etwas passierte. Wohin fließt unser Geld? Ich weiß, dass Emmett die Stiftung mit dem Ziel initiiert hat, etwas Großes daraus zu machen, etwas, das Bloomer weit übertrifft. Aber für mich ist Größe gleichbedeutend mit großer Wirkung, oder siehst du das anders? Du kannst mir gern den Mund verbieten, Faith, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass sich eine Selbstzufriedenheit eingeschlichen hat. Nicht bei dir. Auch nicht bei uns. Aber bei den Veranstaltungen. Inzwischen fühlt es sich nicht mehr so kribbelnd an. Vielleicht ändert sich das wieder. Aber vielleicht auch nicht. Also schlafe ich ein. Bitte entschuldige«, fügte sie hinzu.
»Ich weiß«, meinte Faith. »Ehrlich, das weiß ich.« Und weil sie nichts weiter zu erwidern wusste, legte sie Greer Kadetsky eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich arbeite daran.«
»Bitte umdrehen, Miss«, sagte eine Stimme, und die tief in ihre Gedanken versunkene Faith brummte und kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Es dauerte ein wenig, bis ihr einfiel, wie diese aussah. Zuerst wurde sie sich des Babyöl-Duftes bewusst. Dann einer Streicher-Version von Don’t Bring Me Flowers. Dann der Tatsache, dass ihr Gesicht auf einem Vinylrahmen ruhte, dessen Handtuch abgerutscht war. Die Massage hatte sie regelrecht betäubt.
Sie drehte sich gehorsam auf den Rücken, wobei eine ihrer Brüste unter dem schützenden Badetuch hervorglitt. Sie schlug die Augen auf und merkte, dass sie aus unmittelbarer Nähe in das Gesicht der Masseurin blickte. Verblüffend, diese plötzlich so deutlich wahrzunehmen. Sie sah aus wie ein junges Mädchen. Vielleicht war sie tatsächlich noch eines. Vielleicht war dies Kinderarbeit. Du lieber Gott. Faith spürte sofort, wie sich all ihre Muskeln verkrampften, ihre verschwommene Träumerei wich der nüchternen Realität. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«, fragte Faith ruhig.
Die Frau blickte auf sie hinab. »Ich bin kein Mädchen mehr«, antwortete sie. »Ich habe zwei Kinder. Junge und Mädchen. Bleibe jung durch harte Arbeit.« Sie lachte so dumpf, als hätte man ihr diese Frage schon oft gestellt.
»Arbeiten Sie gern hier?«, hakte Faith nach, doch die Frau gab keine Antwort.
Diese Frage beschäftigte sie gerade massiv. Am Tag nachdem Greer Kadetsky bei der Arbeit eingeschlafen war, hatte Faith im Konferenzraum eine Versammlung einberufen, die sich zu einem stundenlangen Marathon ausgewachsen hatte wie anno dazumal die Treffen zur Bewusstseinsschärfung. Sie hatten sich um den Tisch versammelt, und dann hatten die Leute der Reihe nach dargelegt, warum sie bei Loci angefangen hatten und wieso die Arbeit jetzt so anders war. Sie machten ihrer Sorge Luft, die Tagungen seien zu elitär und vermittelten eine Art Wohlfühl-Feminismus. »Schon klar, dass es im Feminismus nicht nur um miese Gefühle gehen kann«, sagte eine der neuen Mitarbeiterinnen, eine sehr kluge IT-Person, eine Transfrau namens Kara. »Aber der Schwerpunkt liegt zu stark darauf, wie sich etwas anfühlt, obwohl man sich fragen müsste, wie es sich konkret auswirkt.« So lautete der unterschiedlich formulierte Grundtenor.
Dann meinte eine Frau, sie vermisse die Sonderprojekte, und alle stimmten zu. Ja, die Sonderprojekte mit ihren raschen Ergebnissen. Faith ahnte, dass ein neues Sonderprojekt den Leuten wieder vor Augen führen würde, worum es bei Loci ging. Nach der Versammlung war Faith zu Emmett hinaufgegangen. Sie konnte ihm natürlich nicht erzählen, wie unglücklich man unten war – das wäre zu riskant gewesen, weil jemand von ShraderCapital hätte sagen können: »Wenn die Leute so unglücklich sind, machen wir den Laden halt dicht.« Stattdessen legte sie ihm eine Idee für ein Sonderprojekt dar. »Das letzte ist schon länger her, Emmett«, sagte sie leichthin, aber voller Hoffnung. Dann beschrieb sie das Projekt, das sie im Sinn hatte. Im Laufe der Jahre hatten wiederholt Berichte über Menschenhandel die Runde gemacht, eine Sache, die bei ihr stets für Ohnmachtsgefühle sorgte. Loci hatte mehrfach Leute geholt, die Vorträge darüber gehalten hatten, aber nun schien eine größere Anstrengung erforderlich zu sein.
Iffat Khan, nicht mehr die Assistentin Faiths, sondern in der Rechercheabteilung tätig, hatte Faith Material über Vorfälle in der ecuadorianischen Provinz Cotopaxi vorgelegt. Dort wurden junge Frauen – vielfach Mädchen – von zu Hause fortgelockt und dann in Guayaquil zur Prostitution gezwungen. Das war ein klarer Notfall. »Wenn wir ein paar von ihnen retten, würde das ein Schlaglicht auf die ganze Sache werfen«, sagte sie. »Das würde vielleicht andere unternehmerische Einheiten und Hilfsorganisationen auf den Plan rufen. Es könnte sich in eine langfristige Rettungsmission verwandeln.« Shrader wirkte finster und nicht vollends überzeugt, also legte Faith ihm den Rest ihrer Idee dar. »Ich dachte, wir könnten die jungen Frauen nach der Rettung mit Mentorinnen zusammenbringen. Ältere Frauen, von denen sie etwas lernen. Zunächst einmal Lesen und Schreiben, falls nötig. Dazu ein Handwerk. Etwa Weben. Sie könnten Stricken lernen und schließlich eine … Textil-Kooperative bilden.« Faith war Feuer und Flamme und betonte jedes der letzten Wörter einzeln, aber Emmett sah sie weiter zweifelnd an. »Und dann holen wir eine der jungen Frauen zu uns, damit sie davon erzählt«, sagte sie. »Was meinst du?«
»Wie? Du meinst, wir lassen sie einfliegen?«
»Sicher. Warum nicht?«
Emmett schwieg eine Weile, wirkte aber interessierter, wiegte den Kopf hin und her, während er überlegte. Er versprach, das Vorhaben den entsprechenden Leuten vorzulegen, und im Juni 2014 bekam Faith ein Memo, in dem man ihr grünes Licht gab. Sie war aufgeregt. Die Arbeit mit Mentoren war immer noch ein beliebtes Konzept, alle sprachen darüber, und die Idee wurde erstaunlich wohlwollend aufgenommen. Irgendjemand bei ShraderCapital tat in Quito einen lokalen Kontakt auf. Alejandra Sosa galt als dynamische Führungsfigur, die sich mit Menschenrechtsfragen in Entwicklungsländern befasste. Ihr Lebenslauf quoll von den Kürzeln der NGOs über, die sie beraten hatte. Auf einem Blatt Papier hatten all diese Großbuchstaben die Wirkung einer Firewall oder eines Codes, den nur jemand knacken konnte, der viel schlauer war als man selbst.
Man arrangierte überstürzt eine Skype-Sitzung. Mitarbeiter von ShraderCapital und Loci saßen in der siebenundzwanzigsten Etage an einem Felsquader von Tisch dem Übertragungsbild einiger Frauen in einem bescheidenen Büro in Quito gegenüber. »Faith Frank!«, sagte Alejandra Sosa. »Das ist eine große Ehre. Sie waren als Frau unglaublich wichtig für mich.« Alejandra Sosa war vierzig Jahre alt, selbstbewusst, sexy. Faith mochte sie auf Anhieb. Sie sprachen entspannt über die gemeinsame Mission. Alejandra Sosa kannte einige fähige ältere Frauen, die man engagieren konnte, um mit den jungen zusammenzuarbeiten, nachdem diese gerettet und umgesiedelt worden waren. Um als Mentorinnen zu fungieren. ShraderCapital würde das finanzieren, und die Agentur, die Alejandra Sosa in Quito leitete, würde alles organisieren und das Geld verteilen. Sie strahlte etwas sehr Beruhigendes aus, und zum Schluss sagte sie: »Wie schön, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Faith Frank. Sie sind eine Person, die Gutes bewirkt.«
Faith hatte zu Emmett und dessen Team gesagt: »Ich fand sie extrem sympathisch, aber wir müssen sie natürlich überprüfen. Bei Hilfsprojekten kommt es im Falle mangelnder Kontrolle oft zu Unterschlagungen. In so was will ich nicht verwickelt werden.«
»Aber sicher. Tun Sie, was Sie für nötig halten«, sagte der COO, und im Hintergrund piepste ein Assistent: »Das wird schon.« Im sechsundzwanzigsten Stockwerk fand das Rechercheteam heraus, dass Sosa eine Erfolgsbilanz aufwies. Der Sekretär des Verwaltungsrats von UNICEF hatte ein überschäumendes, beinahe tränenersticktes Empfehlungsschreiben verfasst. Einige Wochen später kam die Nachricht, die kleine Rettungsaktion sei erfolgreich gewesen und man habe hundert traumatisierte junge Frauen mit älteren zusammengebracht. Die jüngeren Frauen wohnten vorübergehend in einem Apartmenthaus in Quito, um sich von ihrer Tortur zu erholen und ein Handwerk zu erlernen, mit dem sie sich später finanzieren, ein neues Leben beginnen konnten. Wie von Faith vorgeschlagen, sollte gegen Ende des Jahres eine der Frauen eingeflogen werden, um auf der Tagung zum Mentorenwesen, die in Los Angeles stattfinden würde, nach der Einführungsrede ein paar Worte zu sagen.
Faith hatte bereits begonnen, die Rede zu schreiben, aber nun, Mitte Oktober, nur mit einem Badetuch bedeckt auf dem Tisch liegend, während ihr Körper nicht gerade sanft durchgeknetet wurde, dachte sie: Greer Kadetsky soll die Einführungsrede schreiben. Nicht nur schreiben, sondern auch vortragen. Greer war klug und engagiert, sie blickte nach vorn. Sie konnte gut zuhören und Menschen aus sich herauslocken; man öffnete sich ihr, vertraute ihr. Außerdem war Greer kurz davor, ihre Persönlichkeit voll zu entfalten, und dies würde sie dabei unterstützen. Sie würde zwei Reden schreiben, eine für die junge Frau aus Ecuador, eine für sich selbst. In ihrer Rede würde sie endlich mit eigener Stimme sprechen, als Greer Kadetsky.
Faith begriff, dass Greer, wie nach ein paar Jahren in einem Job üblich, das Stadium erreicht hatte, in dem man einen Beweis dafür brauchte – nicht nur die nebulöse Hoffnung –, dass die Arbeit, die man machte, eine Bedeutung hatte. Andernfalls würde sie weiter den Mut verlieren und vielleicht irgendwann gehen.
Und wenn alle gehen?, dachte Faith. Natürlich würden immer wieder neue Leute kommen. Ab und zu wanderte jemand ab. Helen Brand war im vergangenen Monat zur Washington Post gewechselt, um dort als nationale Berichterstatterin zu arbeiten. Niemand war auf ewig unersetzlich, und trotzdem sorgte es stets für einen kleinen Schmerz, fast für ein Gefühl der Trauer, wenn jemand ging, gefolgt von einer leisen Aufregung – beinahe einer erhöhten Atemfrequenz –, wenn jemand Neues hinzukam.
Überlass das Greer, sagte sie sich jetzt. Faith erinnerte sich an ein frühes Gespräch mit Greer Kadetsky, ganz zu Beginn. Greer hatte sie damals angerufen und unter Tränen erzählt, sie könne nicht zu der ersten Tagung kommen, für die sie alle rund um die Uhr geschuftet hatten, weil es eine private Tragödie gegeben habe. Ein Kind war ums Leben gekommen, erinnerte sich Faith. Der Bruder von Greers Freund? Aber das war so lange her, dass sie keine Details mehr im Kopf hatte. Sie erinnerte sich nur noch an die Stimme, mit der Greer am Telefon gesagt hatte: »Faith?«, an die Tränen und daran, dass sie, Faith, sofort in den Trost-Modus geschaltet hatte. Nach dem Gespräch mit Greer hatte sie gleich wieder telefoniert, Druck gemacht und ein bisschen geschrien, um einen Ersatz zu beschaffen. So war das, wenn man eine Stiftung leitete. Man tröstete und machte Druck, und manchmal schrie man.
Und dann, einige Zeit später, hatte Faith mitbekommen, wie Greer mit flehender Stimme ein Handygespräch geführt hatte. Faith war besorgt zu ihr gegangen und hatte gefragt, ob es ihr gut gehe. Greer hatte genickt, aber nicht gerade glücklich gewirkt. An jenem Nachmittag hatte sie dann vor der Bürotür von Faith gestanden – das war keine Überraschung, alle jungen Frauen standen irgendwann vor Faiths Tür –, war eingetreten, hatte sich auf die Couch gesetzt und alles erzählt. Sie und ihr Freund, mit dem sie seit der Highschool zusammen gewesen war, hatten sich dramatisch getrennt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, hatte Greer gesagt. »Wir sind schon so lange zusammen, und es hätte nicht enden sollen, niemals.« Dann hatte sie auf eine rasselnde, verschleimte Art geweint, die Faith an den Krupphusten erinnerte, den Lincoln als kleiner Junge gehabt hatte.
Faith hatte zugehört. Ein Patentrezept hatte sie nicht zu bieten gehabt, aber sie hatte gesagt, Greer könne jederzeit kommen, wenn sie reden wolle. »Und das meine ich auch so«, hatte sie erklärt und es tatsächlich so gemeint, denn Greer war eine von den Guten. Sie hatte einen langen Weg zurückgelegt; sie war eine ehrliche Haut, schaute nach vorn, war treu, klug, bescheiden – sie war die richtige Personalentscheidung gewesen und verdiente es, gefördert zu werden. Nun hing sie durch und musste daran erinnert werden, warum sie nach vier Jahren immer noch bei Loci war. Ich überlasse ihr die Reden, dachte Faith.
Außerdem hatte Lincoln recht: Sie war müde und überarbeitet. Sie war einundsiebzig, und die Behauptung, Siebzig sei das neue Vierzig, konnte sie nicht bestätigen. Sie hatte diese Massage verzweifelt nötig gehabt. Sie wünschte sich, sechstausend Minuten daliegen zu können, während die Frau ihren Rücken knetete, klickende, heiße Steine auf ihrem Rückgrat aneinanderreihte und ihren Nacken mit Babyöl massierte, bis dieser nur noch ein loser Faden war, locker verbunden mit einem Kopf, der sich so leicht anfühlte wie ein Luftballon. Faith hatte die Nase voll von dem hohen Arbeitstempo, das sie seit einer Ewigkeit an den Tag legte, fand die Vorstellung unerträglich, schon wieder auf einer Tagung sprechen zu müssen, noch dazu auf dieser überkandidelten Art von Tagung.
Keine Wahrsagerin mehr. Keine Pelikan-Butter. Greer sollte es dieses Mal machen. Das wäre ein symbiotischer Touch.
All das ging Faith durch den Kopf, während die Masseurin zum anderen Ende des Tisches ging und ihre Füße zu kneten begann.
Sue drückte auf eine bestimmte Stelle unterhalb der großen Zehe, und Faith zuckte zusammen und schrieb im Kopf eine Liste mit zwei Punkten:
1. Termin mit Greer vereinbaren, um L.A. zu besprechen. Herausfinden, ob sie Spanisch kann – wäre nützlich.
2. Greer Kadetsky generell fördern. Sie muss weiter ermutigt werden. Müssen sie alle.
Faith erinnerte sich vage an die allererste Begegnung auf dem College-Campus. Greer war so klug und leidenschaftlich gewesen, hatte sich aber auch über ihre Eltern aufgeregt. Das hatte Faith daran erinnert, wie wütend sie in diesem Alter auf ihre eigenen Eltern gewesen war. Beide Elternpaare hatte ihre Töchter trotz aller Liebe an der kurzen Leine gehalten. Es hatte Faith berührt, einer Frau zu begegnen, die etwas Ähnliches erlebt hatte. Und obwohl man nie wissen konnte, was andere antrieb, hatte sie Greer Kadetsky ihre berufliche Visitenkarte gegeben, wie sie es manchmal tat, wenn sie jungen Frauen begegnete, diese auf eine Art anlächelte, die vielleicht etwas überspringen ließ. Das schien ihr gelungen zu sein, denn Greer war nach all den Jahren immer noch da.
Und Faith, inzwischen eine alte Frau, dachte immer noch mit zärtlichen Gefühlen an ihre Eltern, obwohl diese vor einem halben Jahrhundert so unfair gewesen waren. Sie hatten es nicht besser gewusst, sie waren Kinder ihrer Zeit gewesen. Ihr kamen manchmal fast die Tränen, wenn sie sich an ihre Zärtlichkeit erinnerte, an all die Scharaden, die sie gespielt hatten, und daran, wie Philip und sie nach einem Bad in der Wohnung in Bensonhurst herumgerannt waren, kreischend und duftend, um schließlich von einem Handtuch eingefangen zu werden, das ihre Mutter hielt wie ein Torero sein Tuch. Sie hatten überall ihre nassen Fußabdrücke hinterlassen, die aber rasch trockneten und ohne Spuren blieben.
Ihre Eltern hatten sie an die kurze Leine gelegt, jedenfalls für eine Weile, und das war zum Verrücktwerden gewesen. Ihr Bruder hatte sich nicht mit ihr solidarisiert, was sie ihm anfangs verübelt hatte, und nachdem ihr Groll verflogen war, hatte das Leben die Kontrolle übernommen – ihr Leben, das so anders war als seines; und am Ende schienen sie niemals Geschwister gewesen zu sein, schon gar keine Zwillinge. Auf dem Tisch liegend, beschloss sie, die Initiative zu ergreifen, wenn sie in ein paar Monaten Geburtstag hätten, sich nicht wie üblich anrufen zu lassen, sondern ihm zuvorzukommen und ihn zu fragen, ob er nicht bald mal wieder mit Sydelle an die Ostküste reisen wolle. »Das fände ich schön«, würde sie sagen. »Wir könnten Scharaden spielen. Du solltest schon mal üben.«
Plötzlich begannen die über ihr schwebenden Hände, sie mit den Handkanten zu bearbeiten, sich heftig über ihren alten Knochen auf und ab zu bewegen, die an so vielen Orten gewesen waren und nun etwas träge wurden.
»Fertig!«, rief Sue, die Masseurin, und ließ ihre kräftigen Hände fast triumphierend laut gegen Faiths Beine klatschen.