Zehn

Zee Eisenstats Interesse an Traumata war während eines Kurses mit dem Titel Umgang mit Notfallsituationen erwacht, und sie notierte alle Situationen, die der Kursleiter beschrieb, in ihrem Heft, eine Liste blanker Schrecken. Alles, was sie in diesem Kurs erfuhr, und vieles, was sie später bei der Arbeit lernte, drehte sich um ebenso akute wie entsetzliche Krisenmomente im Leben anderer Menschen. Sie hatte Teach and Reach vor dreieinhalb Jahren den Rücken gekehrt und arbeitete seither als Krisenbewältigungs-Coach in Chicago. Sie hatte zunächst einen Abschluss in Counseling gemacht, war aber schon während der Ausbildung eingesetzt worden. Aus irgendeinem Grund war Zee umso fokussierter, je schlimmer die Krise war. Im Gegensatz zu anderen Anfängern scheute sie vor nichts zurück.

Ihr Job führte sie durch die ganze Stadt. Wenn sich etwas Schreckliches zugetragen hatte, erschien sie diskret vor der entsprechenden Haustür: ein Selbstmord; eine Geiselnahme; ein psychotischer Schub. Sie genoss den Ruf, für ihre Arbeit außergewöhnlich begabt zu sein, dezent, unaufdringlich, extrem effizient. Manchmal hörte sie noch Wochen oder Monate nach einem traumatischen Erlebnis von den Familien. »Sie waren meine ganz persönliche Heilige«, schrieb ein Mann. »Sie sind aus heiterem Himmel in meinem Leben erschienen.« Ein anderer Mann teilte ihr mit: »Ich habe einen Reifenhandel und würde Ihnen gern einen Set Winterreifen schenken.« Zee wurde in der Trauma-Community hochgeschätzt, war sogar, wie sie Greer stolz erzählte, im International Journal of Traumatology zitiert worden. »Klingt nicht wie eine echte Zeitschrift, schon klar, ist aber eine.« An jenem Abend ließ Greer eine vegane Torte an Zees Adresse in Chicago liefern.

Nach mehreren Praktika in den prosaischen Schützengräben eines Sozialdienstes hatte Zee endlich ihren Abschluss in Traumatologie in der Tasche. Die Geburt der Tochter ihrer Schülerin Shara Pick war das erste Trauma gewesen, das sie miterlebt hatte. Shara war nicht an die Schule zurückgekehrt, zog ihr Kind offenbar mit Unterstützung von Schwestern und Oma groß. Man hatte sie mehrmals angerufen, aber sie hatte nie reagiert. Zee spürte die Schockwellen dieses Traumas noch lange danach, und sie hatte den Drang, Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu helfen. Wie sich herausstellte, waren diese überall zu finden, in der gesamten South Side und darüber hinaus. Man spezialisierte sich auf kein bestimmtes Trauma, jedenfalls nicht in dem Studiengang, für den Zee sich entschied und den das Richterpaar Eisenstat freundlicherweise finanzierte. Wenn es um das Grauen ging, musste man sich mit allem auskennen.

Der erste Fall, zu dem Zee während ihrer Ausbildung hinzugezogen wurde, hing mit einer Nagelbombe zusammen, die per Post an die New Approach Women’s Clinic geschickt worden und im Wartezimmer detoniert war. Dabei hatte die Aushilfskraft an der Rezeption, Barbara Vang, das Augenlicht verloren. An jenem späten Nachmittag hatten Patientinnen auf den Abstrich, die erste Beckenuntersuchung, die Abtreibung oder den Schwangerschaftstest gewartet. Die Aushilfskraft öffnete neugierig die Paketbombe, schob einen Fingernagel unter das Paketklebeband, das sich kreuz und quer über die Oberseite zog, während sie einen Termin mit einem Mann vereinbarte, der unter seinem Bauchnabel eine erbsengroße Schwellung ertastet hatte. Werde man ihn behandeln, obwohl er ein Mann sei? Ja, sagte sie, natürlich. Sie zog das Klebeband ab, und als sie den Karton öffnen wollte, wurde die nachmittägliche Stille im Wartezimmer jäh zerrissen. Man ließ sofort Berater kommen, und Zee gehörte zur Truppe.

Ihre beiden Chefs, Lourdes und Steve, waren älter als sie, aber noch nicht wirklich alt, denn die Arbeit mit traumatisierten Menschen hielten sicher nicht viele bis zur Rente durch. Wie sie feststellte, als die beiden in einer Gasse neben der Klinik eine kleine Jurte für sich und einige Zeuginnen aufbauten, zeichneten sie sich durch beeindruckende Ruhe und Gelassenheit aus.

Lourdes und Steve hörten auf eine Art zu, die weit mehr war, als mit zur Seite geneigtem Kopf die Ohren zu spitzen. Mit der Zeit erlernte Zee diese Methode, aber als sie bei dieser ersten Gelegenheit in der improvisierten Jurte mit den weinenden Frauen zusammensaß, die erlebt hatten, wie das Päckchen in den Händen von Barbara Vang explodiert war, hörte sie nur distanziert und respektvoll zu, wie sich die beiden Teamleiter darum bemühten, die traumatisierten Frauen zu beruhigen und in eine Verfassung zu bringen, in der sie weiterleben konnten. »Wir müssen sie in Watte packen«, hatte Lourdes gesagt. »Man darf den Stress nicht noch weiter steigern. Wir lassen uns von ihnen sagen, wie sie behandelt werden wollen.«

Seitdem hatte es viele improvisierte Jurten gegeben, eine ganze Zeltstadt von Trauma-Behandlungsstationen in allen möglichen Stadtteilen Chicagos. Zee war inzwischen eine anerkannte Expertin, leitete ihr eigenes Team und gab ihr Wissen in Workshops an Interessierte weiter. Außerdem ließ sie sich nebenbei in einer neuen Methode ausbilden, die das posttraumatische Stresssyndrom unter anderem durch gezielt eingesetzte Bilder und bestimmte Atemtechniken behandelte. Ihr Job war erträglich, weil die Traumata, mit denen sie täglich zu tun hatte, nicht ihre eigenen, also etwas entrückt waren.

Aber dann rief Greer an. »Ich habe gekündigt«, sagte sie mit bebender Stimme, und das war ein Ding, denn sie hatte Faith Frank stets für unfehlbar gehalten. Dann jedoch fuhr sie unter Tränen fort: »Die Sache mit Faith hat ein schlimmes Ende genommen. Gab einen Riesenkrach.«

»Wow. Was ist denn passiert?«

»Erzähle ich, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Ist kompliziert.« Ein Tröten, als würde sie ihre Nase putzen. »Ich habe lange geglaubt, dort einen sauberen Job zu machen, einen, der etwas bewirkt. Du weißt ja, dass es immer beschissener wurde, dass es immer weniger gab, was mir wirklich am Herzen lag, aber ich habe mir trotzdem Mühe gegeben. Dann hat sie mich die Rede halten lassen, und das lief super, Zee, ich war irre aufgeregt – das war einer der Schlüsselmomente, über die wir geredet haben. Aber nun stellt sich heraus, dass ShraderCapital Mist gebaut hat, und Faith sieht einfach darüber hinweg. Alles läuft weiter wie bisher. Ich habe sogar ihr Fleisch gegessen«, ergänzte sie. »Und das nicht nur einmal.«

»Was meinst du damit, ›ihr Fleisch gegessen‹?«

»Ach, nichts. Vergiss es.«

»Und was machst du jetzt?«, fragte Zee.

»Ich weiß es nicht.«

»Komm doch nach Chicago.« Zee wusste gerade nicht mehr, wie das Wochenende aussah, aber das würde sie klären, sie konnte im Notfall einen Kollegen bitten, für sie einzuspringen. Ihr Job erforderte hohe Flexibilität, denn Menschen gerieten nicht nach Plan in Notlagen.

Zee hatte die Zeit, die sie zum inneren Umschalten brauchte, nach mehreren Arbeitsjahren fast auf null reduziert. Wenn sie nachts ans Telefon ging, klang sie spritzig, selbst wenn man sie aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Sie konnte direkt aus der Dusche ins Auto springen, tropfnass, wie sie war. Manchmal musste sie in der Dämmerung in die Bahn steigen, während der Himmel in optimistischem Rosa erglühte, um zum Ort eines Mordes, Selbstmordes oder Brandes zu fahren, zu einer Szene tiefster Hoffnungslosigkeit oder schlimmster Verwüstung. Bei anderen Gelegenheiten musste sie in schwärzester Nacht zur Arbeit und hatte danach häufig einen solchen Bärenhunger, dass sie einen der Läden aufsuchte, in denen sich Polizisten während der Arbeitspausen trafen. Dort saß sie zwischen Männern und Frauen in Uniform und bestellte Eier, Pommes frites und buttertriefenden Toast – in der Hoffnung, dies würde ihr nach allem, was sie gesehen hatte, wieder etwas Halt geben.

Das Apartment, in dem sie mit Noelle wohnte, befand sich in einer Nebenstraße der Clark Street, Andersonville, wo es einen relativ hohen lesbischen Bevölkerungsanteil gab. Noelle war trotz vieler Probleme an der Schule des Learning-OctagonTM-Netzwerks geblieben und inzwischen Schulleiterin, für manche Schüler eine furchterregende Person, für Zee noch immer eine Lichtgestalt. In Andersonville, einem Stadtteil, in dem sie sogar manchmal Händchen haltend unterwegs sein konnten, musste sie an die Heimlichtuerei denken, die an anderen Orten nötig gewesen war und die sie regelrecht verinnerlicht hatte.

Irgendwann bezeichnete sie sich nicht mehr als lesbisch, sondern ganz selbstverständlich als »queer«. Sie empfand den Begriff als stärker und kantiger und insgesamt prägnanter. Die Bezeichnung »Lesbe« gehörte in ihren Augen ebenso der Vergangenheit an wie die Musikkassette. Sie hatte sich immer für politisch gehalten, im Rückblick aber das Gefühl, dass es nur aufgesetzt gewesen war. Inzwischen war ihr Arbeitsleben auf eine ganz konkrete, stete Art politisch, wie sie fand, denn sie betrat die Wohnungen von Menschen in Not und sah, wie diese lebten. Die Fenster und Tafeln in den Cafés und Läden des Viertels waren von Listen bedeckt, auf denen man sich für ehrenamtliche Tätigkeiten eintragen konnte. Zee engagierte sich in einer Gruppe, die obdachlosen Jugendlichen half. Auch die HIV-Gruppen brauchten Unterstützung, genauso eine Truppe, die sich für Rassengleichheit einsetzte. Zee wurde ständig von Bekannten zu Treffen in den Untergeschossen von Kirchen gebeten.

Zee hatte keine Lust, ihre Freizeit im Untergeschoss einer Kirche zu verbringen. Anfangs stellte sie sich niedrige Decken und lange Tische vor, auf denen Apfelsaftflaschen der Marke Apple & Eve standen. Sie hatte Klappstühle vor Augen, ja sogar das Schaben im Ohr, mit dem weitere Stühle auf dem Linoleum ausgeklappt wurden, dazu der Ruf: »Macht mal Platz«, wenn der Kreis erweitert werden sollte. Am Ende fand sie aber an manchen Treffen Gefallen und begann, andere zu leiten. Noelle kam selten mit, weil sie nach der Arbeit zu fertig war und nur noch die Füße hochlegen wollte, obwohl sie stets noch etwas nacharbeiten musste.

Als Zee das Gespräch mit Greer beendete, lag Noelle auf dem Sofa und entwarf ihr wöchentliches Schreiben an die Eltern und Vormünder. »Hör zu«, sagte Zee. »Morgen kommt Greer. Sie wohnt bei uns. Ich hoffe, das ist okay, obwohl ich dich damit überrumpele.«

Als Greer, mit einem Uber vom O’Hare gekommen, am frühen Nachmittag des nächsten Tages an der Tür klingelte, war Zee innerlich genauso gut auf sie vorbereitet wie auf ihre Arbeit. Sie war bereit für die Notlage, in der sich ihre beste Freundin befand. Sie setzte Greer auf das Sofa und drückte ihr ein Glas eiskaltes Wasser in die Hand, weil Hydration, wie einer ihrer Teamleiter erklärt hatte, verblüffend hilfreich und Wasser günstig und überall verfügbar war. Es konnte keine seelischen Brände löschen, der betreffenden Person aber in Erinnerung rufen: Ich bin ein Teil der wahren Welt, ein Mensch mit einem Glas in der Hand, diese Fähigkeit habe ich nicht verloren. Zee beobachtete manchmal, wie die Leute das Glas an die Lippen setzten und tranken, und es war eine Erleichterung zu sehen, wie sich Hand und Adamsapfel bewegten, wie der ganze Körper in Bewegung war, sogar bei Greer.

Diese trank dankbar, danach sah sie auf. »Danke, dass du mich zu diesem Besuch überredet hast«, sagte sie. »Ich hatte wirklich nicht erwartet, so plötzlich arbeitslos zu sein.«

»Schon gut«, erwiderte Zee. »Schieß einfach los.«

Daraufhin erzählte Greer eine lange und verschlungene Geschichte über junge Frauen in Ecuador, über eine gelungene Rettungsaktion und eine misslungene Nachbetreuung. Doch sie wirkte nicht erleichtert, nachdem sie sich alles von der Seele geredet hatte. Stattdessen rang sie die Hände. Zee studierte zuerst die Hände ihrer Klienten: Waren sie zu Fäusten geballt, wie zum Gebet gefaltet oder verzweifelt in Bewegung wie jetzt?

»Da ist noch was«, sagte Greer.

»Okay.«

Greer holte rasselnd Luft, erhob sich dann und stand vor Zee, so als ginge es darum, eine kleine Präsentation zu halten. »Ich wollte das eigentlich nie sagen«, begann sie, »aber ich tue es trotzdem. Ich schätze, ich muss das jetzt tun.« Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. »Ich habe Faith den Brief nie gegeben.«

»Wovon redest du? Welchen Brief?«

Greer starrte zu Boden, das Gesicht zu der Schlaganfall-Maske eines Menschen verzerrt, der kurz davorsteht, in Tränen auszubrechen. »Deinen Brief«, sagte Greer und verstummte dann, als wäre sonnenklar, was sie meinte.

»Was?«

»Deinen Brief«, setzte die aufgewühlte Greer wieder an, nun mit einem leisen Schluchzen. Dann streckte sie die Hände aus, als würde das die Sache verdeutlichen. »Den du mir vor etwa vier Jahren gegeben hast, damit ich ihn an Faith weiterreiche, weil du auch für sie arbeiten wolltest. Ich habe ihn noch. Ich habe ihn nie geöffnet oder so. Aber ich habe ihn. Ich habe ihn nie an Faith weitergegeben.«

Zee starrte sie weiter an. Die Stille wurde immer tiefer, während sie zu begreifen versuchte, was dies bedeutete. »Ich bin verwirrt«, meinte Zee. »Denn du hast damals behauptet, ihr den Brief gegeben zu haben. Du hast erzählt, sie habe gesagt, es gebe keine freien Stellen.«

»Ich weiß, Zee. Aber das war gelogen.«

Zee ließ die schäbige kleine Knospe dieses Moments zur vollen Entfaltung kommen. Sie war stets überrascht, wenn sie etwas Schockierendes oder Enttäuschendes über Menschen erfuhr, die ihr wichtig waren. Sie dachte an ihre Klienten, die das Verhalten geliebter Menschen stets überraschte, obwohl es von außen betrachtet keineswegs erstaunlich war. Ein depressiver Ehemann nahm sich das Leben. Eine Großmutter brach zusammen. Eine Tochter erlitt einen psychotischen Schub, weil sie unter Stress gestanden hatte. All das überraschte Zees Klienten nicht nur, sondern sorgte für einen fast traumatischen Schock.

Greer war nach Chicago geflogen, weil auch sie unter Schock stand. Sie war eine Jüngerin von Faith gewesen, aber durch deren Scheinheiligkeit erschüttert worden. Das Verhältnis von Greer und Faith war nie ausgewogen gewesen, das konnte es auch gar nicht sein.

Aber vielleicht war das Verhältnis zwischen Greer und Zee auch unausgewogen. Greer hatte für ein Ungleichgewicht gesorgt, also war auch hier eine Korrektur nötig. Erstaunlich daran war nur, dass Greer und Zee im Gegensatz zu Greer und Faith tatsächlich befreundet waren. Diese Freundschaft war echt gewesen, aber siehe da: Greer hatte Zee trotzdem heimlich belogen und betrogen.

Zee hätte damals, in der Anfangszeit Locis, vielleicht eine echte Chance gehabt, für Faith zu arbeiten und dazu beizutragen, die Stiftung voranzubringen. Gut möglich, dass Faith sie nach der Lektüre ihres Briefes eingestellt hätte. »Das war schrecklich von mir, ich weiß«, meinte Greer. »Und wenn ich sage, dass du dich dort vermutlich gar nicht wohlgefühlt hättest, macht das die Sache sicher nicht besser, und doch ist was dran. Anfangs war es super, aber dann wurde es sehr unpersönlich, und ich konnte mich nicht mehr mit den Frauen treffen, in deren Leben wir etwas zum Besseren wenden wollten. Es war, als würden wir nur noch Geld in die Vorträge pumpen, fertig, aus. Und ich habe immer wieder wörtlich gedacht: Zee würde es hassen. In deinem Job hast du Bodenhaftung. Wir waren meist ein ganzes Stück von der Realität entfernt. Das rufe ich mir manchmal in Erinnerung, als könnte ich damit entschuldigen, was ich dir angetan habe. Aber es macht die Sache natürlich nicht besser. Es war schrecklich von mir«, wiederholte sie.

»Ja, war es«, sagte Zee leise und beherrscht. Vielleicht hätte sie die Arbeit in der Stiftung tatsächlich gehasst, wie Greer meinte. Aber war das wichtig? Wichtig war, dass Greer ihre Bewerbung unterschlagen hatte, und das war mies und extrem verletzend und tauchte ihre Freundschaft in ein ganz neues, ungutes Licht. »Warum hast du das getan?«, fragte Zee. »Ich habe dich auf sie aufmerksam gemacht. Ich habe dir sozusagen die Tür geöffnet. Du hattest noch nie von Faith Frank gehört.«

»Es hatte … mit meinen Eltern zu tun, glaube ich«, sagte Greer. »Ich wollte, dass jemand mein Potenzial erkennt.«

»Ich habe dein Potenzial erkannt. Und genauso Cory.«

»Ja. Aber das war anders.« Greer senkte den Blick, sie schien Zee nicht mal in die Augen schauen zu können, und vielleicht war das gut so. Sie hatten einander lange genau betrachtet und brauchten jetzt eine Pause. Zees Arbeit bestand darin, Menschen genau zu betrachten, und das täglich. Das viele Hinschauen, Ergründen, Ausforschen und Einfühlen begann, ihre Augen zu ermüden, all das Helfen, Helfen, Helfen.

Greer schämte sich, aber gut, dann sollte sie sich halt schämen, dachte Zee. Greer hatte sie verletzt, tief verletzt.

Vier Jahre zuvor hatte Zee ihre Enttäuschung verdaut und ein Leben begonnen, wie es Faith hoffentlich gutheißen würde; Zee war überzeugt davon, dass dem so war. Sie stand nicht mehr vor einer Meute, sondern arbeitete mit Einzelpersonen. Sie half Menschen in Not, oft genug Frauen, und das war ein wichtiger Job. Aber je deutlicher ihr wurde, was Greer ihr angetan hatte, desto stärker wurde Zee bewusst, dass sich die Freundschaft, die sie seit dem College mit Greer verbunden hatte, abgenutzt hatte. Sie war erschöpft und bereute es, Greer über das Wochenende eingeladen zu haben. Würden sie den Brief und Greers Fehlverhalten jetzt immer wieder durchkauen?

Greer rutschte auf die Sofakante und ergriff Zee bei den Handgelenken wie eine verzweifelte Verehrerin. »Zee«, sagte sie, »ich war ein Arschloch, ich weiß.« Zee schwieg verbissen. »Ich war mir nie darüber im Klaren, dass ich zu den Frauen gehöre, die du so oft angeprangert hast, Frauen, die andere Frauen hassen. Ich habe Faith damals, ganz zu Anfang, von deinem Brief erzählt. Und sie hat nur die Schultern gezuckt! Aber gestern, als ich meinen Job hingeworfen habe, war sie so wütend und verletzt, dass sie mir die Sache urplötzlich vor allen Kolleginnen unter die Nase gerieben hat. Sie hat mich niedergemacht. Hat mir vorgeworfen, eine schlechte Freundin zu sein. Eine schlechte Feministin. Eine schlechte Frau. Und ich schätze, sie hat recht. Ich wollte sie nicht mit dir teilen, ich wollte dich dort nicht haben. Ich bin die hinterfotzigste aller Frauen, Zee. Ich bin eine echte Fotze«, sagte Greer voller Wut auf sich selbst. »Ganz ehrlich, das bin ich.«

Zee war schockiert, ihr schwirrte der Kopf, und sie merkte, dass sie keine Lust hatte, jetzt großmütig die Hand auszustrecken. Sie hätte vermutlich sagen müssen: Nein, nein, Greer, so bist du nicht. Du hast einen blöden Fehler begangen. Frauen sind manchmal echt mies zueinander, wie Männer untereinander und natürlich auch Männer gegenüber Frauen und umgekehrt. Nur wusste sie nicht, ob sie in der Stimmung war, das zu sagen, fragte sich auch, ob sie Greer wirklich trösten wollte; sie hatte keine Lust, ihre Ausbildung in der Traumata-Behandlung auf Greer anzuwenden, zumal sie das heute auch mit Menschen hätte tun können, die es wirklich nötig hatten. Zee stellte sich vor, Noelle im Bett alles zu erzählen, während Greer im Wohnzimmer auf dem Schlafsofa lag. »Du wirst nicht glauben, was Greer mir gestanden hat«, würde sie flüstern. Und Noelle wäre sicher stinksauer auf ihren Gast.

»Das war echt egoistisch«, sagte Zee schließlich zu Greer. Diese nickte heftig und erleichtert. »Du hättest mir einfach sagen können, dass es dir nicht passt, mich dort als Kollegin zu haben. Das hättest du mir erklären können.«

»Ja, ich weiß.«

»Und du weißt, dass ich wiederholt von Frauen verraten wurde, oder?«, meinte Zee. »Angefangen mit der Assistentin meiner Mutter, die mich geoutet hat. Erinnerst du dich?«

»Ja«, sagte Greer mit leiser, bebender Stimme.

»Und nun hast du mich auch verraten.«

Greer sah wirklich furchtbar aus, knallrot, verwirrt und verängstigt. Eine gute Freundin hätte gesagt: Ja, klar, ich vergebe dir, und dann hätten sich beide Frauen auf weibliche Art umarmt. Frauen konnten so locker miteinander umgehen. Sie konnten einander lieben und körperlich nahe sein, selbst wenn sie kein Paar waren und nie eines wären. Eigentlich galt stets die stillschweigende Vereinbarung, dass Freundinnen aufeinander achtgaben. Zee und Noelle sahen ab und zu eine idiotische Fernsehshow, in der Frauen aus unterschiedlichen Reichen-Ghettos ein Jahr lang in einem Planwagen lebten. Wenn sie sich nicht stritten oder angifteten, sagten sie zueinander: »Ich halte zu dir.« Sogar diese Frauen, diese grotesken, mit Geld und Kollagen vollgestopften Frauen hielten zusammen, aber Greer hatte versagt.

Zee rutschte ans andere Ende des Sofas. Sie erlitt gerade ihr eigenes kleines Trauma. »Es tat weh, dass sich Faith damals in der Damentoilette stärker für dich interessiert hat«, sagte Zee. »Ehrlich! Denn ich war vor dem College diese kleine Aktivistin gewesen, und du hast zu Hause gesessen, Bücher gelesen und Sex mit deinem Freund gehabt. Das ist vollkommen okay, es ist einfach nur anders. Aber ich wollte dir helfen. Du hattest dieses ätzende Erlebnis auf der Party der Verbindung. Und du warst schüchtern. Aber die Sanftmütigen werden das Land erben, hm? Du warst immer so schüchtern und konntest nichts für dich einfordern, und trotzdem hast du alles eingefordert, was du brauchtest, Greer. Du bist einfach reinmarschiert und hast bekommen, was du wolltest, hast dich ihrem Gedächtnis eingeprägt. An dem Abend in der Kapelle hast du dich gemeldet. Du hast dich schneller gemeldet als ich, und deine Frage wurde beantwortet. Und dann hast du Faith angerufen und schließlich für sie gearbeitet. Du hast ihr sogar eine Bratpfanne geschenkt. Das erfordert schon Chuzpe. Und dann hast du ihr auch noch meinen Brief vorenthalten. Alles nicht gerade schüchtern, Greer, das muss ich schon sagen. Das verrät etwas ganz anderes. Vielleicht Verschlagenheit.« Zee fügte eisig hinzu: »Du weißt echt, wie man sich im Angesicht der Macht verhält. Das war mir nie klar, aber es stimmt.« Sie verstummte und sah Greer an. »Ich wollte gar nicht unbedingt für die Stiftung arbeiten«, sagte sie. »Ich habe herausgefunden, was ich gern tue. Du hast die Chance erhalten, für Faith Frank zu arbeiten, das Vorbild, die Feministin, und ich nicht. Aber weißt du, was? Ich glaube, es gibt zwei Sorten von Feministinnen. Die berühmten und den ganzen Rest, all jene, die still und gewissenhaft ihre Arbeit erledigen, ohne viel Anerkennung zu ernten, die niemanden haben, der ihnen täglich sagt, wie toll sie sind.

Ich habe keine Förderin, Greer, und ich hatte nie eine. Aber ich habe viele Frauen kennengelernt, mit denen ich mich wohlfühle und die mich zu mögen scheinen. Ich brauche ihren Segen nicht. Sie müssen mir kein grünes Licht geben. Ja, wäre gewiss schön gewesen, hätte mir vielleicht auch irgendwie geholfen. Aber so war es nun mal nicht, und gut, na schön, okay, du hast recht, denn ich bin mir sicher, dass ich die Arbeit in der Stiftung gehasst hätte und bestimmt nicht lange geblieben wäre. Aber ich hätte es doch gern ausprobiert.«

»Das tut mir wahnsinnig leid«, sagte Greer.

»Willst du wissen, wie oft ich daran denke, nicht die Chance bekommen zu haben, für Faith Frank zu arbeiten? Fast nie.«

»Ehrlich?« Greer schien ungeheuer dankbar zu sein, dies zu hören.

»Ja.«

»Vergibst du mir?«, fragte Greer.

»Ich brauche Zeit«, sagte Zee.