Vierzehn

Wenn man keinen Job hatte, hetzte man nicht durch den Tag, sondern genoss ihn. Die arbeitslose Greer entdeckte in Brooklyn sonnige Fleckchen und kleine, windige Ecken und einen Coffeeshop mit einer guten Mischung aus Stille und Geplapper. Sie saß an all diesen Orten und las Bücher wie damals, als sie ein Mädchen gewesen war, nichts anderes zu tun gehabt hatte, an keinem anderen Ort gefordert gewesen war, als niemand nach ihr verlangt hatte. Sie las mit »Hingabe«, wie es wohl hieß, obwohl man nichts gab, wenn man ein Buch las; stattdessen versank man darin. Die Bücher waren noch da, nachdem sie Loci und Faith auf hochdramatische Art verlassen hatte. Sie las Jane Austen, und sie las Jane Eyre; die beiden Janes, die Zee einmal verwechselt hatte. Sie las einen aktuellen französischen Roman, in dem alle Charaktere völlig verzweifelt waren und in dem es keine Anführungszeichen gab, sondern nur kurze Striche, was irgendwie verrückt war, ihr zugleich aber das Gefühl gab, in gewisser Weise eine Französin zu sein.

Sie saß müßig im Coffeeshop und dachte daran, dass sie sich oft gefragt hatte, wer die Leute waren, die am helllichten Tag in Coffeeshops saßen, und nun wusste sie Bescheid. Manche gehörten wie sie zu den Arbeitslosen, den Verlorenen. Sie saß in dem Gefühl da, dass das nicht zu ihr passte. Mit dem Geld, das sie hatte, käme sie ein paar Monate über die Runden, sie musste sich also nicht überstürzt einen neuen Job suchen. Bei Loci war Schluss, und bei Faith Frank war der Ofen aus. Mit Zee war nur halb Schluss; in letzter Zeit hatten sie manchmal E-Mails gewechselt, in denen Greer erneut Asche auf ihr Haupt gestreut hatte, anfangs todernst, dann geistreich. Zee hatte mit ein paar amüsierten Worten geantwortet, es schien also Tauwetter angesagt zu sein.

Eines Nachmittags dämmerte sie auf dem Sofa, als Cory anrief.

»Greer«, sagte er. »Ich bin’s, Cory Pinto.«

»Im Gegensatz zu Cory-wem?«

»Vielleicht kennst du noch einen«, meinte er. »Wäre denkbar. Weißt du noch, dass du mir angeboten hast, bei dir zu pennen, wenn ich mal in New York bin?«

»Klar.«

»Du kannst das gern zurücknehmen. Aber ich will ins Theater. Unser Investor möchte, dass ich das Stück sehe, und er hat mir eine Karte besorgt. Ich würde gern zwei Nächte bleiben, falls das passt.«

Cory rückte am Donnerstagabend mit einem Rucksack aus Macopee an. Sie umarmten sich linkisch in Greers Tür. Sie orderte sofort etwas im Thai-Restaurant, weil sie wusste, dass Essen die Situation auflockern würde. Sie aßen an dem kleinen Tisch in Greers Wohnzimmer. Im matten Lichtschein, vor sich die geöffneten Essensboxen, erzählte er ausführlicher von der schmerzhaft langsamen Entwicklung des Computerspiels, von seinem Mitstreiter, dem Freund von Valley Tek, von den Künstlern, die sie für die Hintergründe angestellt hatten, und von dem Mäzen, der all das bezahlte.

»Ist nicht garantiert, dass etwas daraus wird«, meinte Cory. »Das Spiel ist nicht Mainstream, und der Markt ist überflutet. Trotzdem bin ich irgendwie zuversichtlich – oder klingt das zu dreist?«

»Nein, klingt super«, antwortete sie.

»Ich hätte übrigens nie gedacht, dass bei meiner Mutter nach so langer Zeit noch eine Besserung eintritt, aber siehe da. Ich glaube, sie braucht mich nicht mehr so wie früher.«

»Das ist toll. Und was bedeutet das für dich?«

»Das habe ich mich auch gefragt«, meinte Cory. »Aber ich schaffe das schon, Greer, keine Sorge.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte sie, erinnerte sich aber daran, dass sie nach Albys Tod nichts anderes getan hatte, als sich Sorgen um ihn zu machen. Sie hatte voller Entsetzen befürchtet, er könnte sich selbst verlieren, sie also auch ihn. Im Grunde hatte er sich aber nicht verloren. Er würde immer ein Mensch sein, der nicht weglief, sondern half. Das hatte sie damals nicht verstanden. »Tut mir echt leid, dass ich damals so war«, sagte sie. »Dir gegenüber.«

»Tut mir auch leid. Wie ich damals drauf war, meine ich.« Er lächelte. »Einen schwammigeren Wortwechsel als diesen hat es sicher nie gegeben.«

»Schon verrückt, dass man manchmal mitten im Leben steht und manchmal wie ein Zuschauer darauf zurückblickt«, sagte sie. »Das wechselt sich ständig ab – vor und zurück, vor und zurück.«

»Und dann stirbt man.«

Sie lachte leise. »Ja. Und dann stirbt man.«

»Hey, ich habe deine Rede gesehen«, sagte er unvermittelt.

»Echt?« Sie war leicht schockiert und angespannt. Die Rede war in der Welt, man konnte sie finden.

»Du warst gut«, sagte er. »Schon cool, dass du vor so vielen Menschen gesprochen hast.«

»Mit meiner äußeren Stimme, nicht mit der inneren«, sagte sie rasch. Dann fügte sie hinzu: »Tja, damit ist jetzt Schluss. Mit der ganzen Loci-Sache.«

Wenn sie über Loci sprach, empfand sie nicht nur Angst und Zorn, sondern vor allem eine sonderbar dumpfe Trauer. Diese war natürlich nicht mit Corys Trauer vergleichbar, konnte aber trotzdem als solche gelten. Greer trauerte nicht um ihren Job – das war halb so wild. Gut möglich, dass sie später wieder Reden halten würde, je nachdem, wo sie arbeiten würde, vielleicht kleinere Reden vor zwölf Personen in einem Konferenzraum. Außerdem gab es sicher andere Jobs, die einem das Gefühl gaben, etwas Gutes zu tun; andere Büros, die mittags nach Minestrone oder Mu Shu rochen, mit einem Schreibtisch für Greer und mit Kolleginnen und Kollegen, die mal gut und mal schlecht drauf waren. Menschen, deren Atem nach Kaffee roch und deren Angewohnheiten und Eigenarten nach einer Weile so vertraut waren, als wären es keine Berufskollegen, sondern Lebenspartner.

Die Trauer, die sie stets empfand, wenn sie an ihre Kündigung dachte, galt Faith. Obwohl sie Faith eigentlich gar nicht richtig kannte. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und dachte: Oh, bitte nicht schon wieder.

»Weißt du, was mich beschäftigt?«, sagte sie zu Cory. »Worüber ich ständig nachdenke? Faith Frank war keine echte Freundin. Sie war natürlich meine Arbeitgeberin, aber das sagt auch nicht alles. Was war sie? Ich habe sie verehrt, weil sie etwas verkörpert hat. Und darin war sie mein Vorbild. Am Ende ist dann alles in Scherben gegangen, und sie hat sich gegen mich gewandt. Vielleicht war es okay, dass sie sich so verhalten hat. Vielleicht darf sie, obwohl sie Faith Frank ist, auch mal einen miesen Moment haben, in dem sie verletzende Dinge sagt. Nur blöd, dass ich sie abbekommen habe. Andererseits habe ich nicht das Recht, mich zu beklagen. Ich habe Zee etwas richtig Schlimmes angetan.« Cory sah sie überrascht an. »Ja, habe ich«, sagte sie. »Das hättest du sicher nicht erwartet. Manchmal lässt es sich offenbar nicht vermeiden, anderen Menschen etwas anzutun. Ich versuche, die Sache mit Zee zu klären. Und es wird langsam. Aber Faith … Wenn ich an Faith denke, genauer über sie nachdenke, dann habe ich dieses schreckliche Gefühl in der Brust, dann befürchte ich, mich nie wieder davon zu erholen.«

»Doch, das wirst du«, meinte Cory. »Und ich spreche aus Erfahrung.« Er musste gähnen und hielt sich beschämt eine Hand vor den Mund.

»Du bist müde«, sagte sie.

»Nein, alles bestens. Wir können gern noch quatschen.«

Greer holte ein Handtuch aus dem Schrank. »Bitte«, sagte sie. »Ich beziehe jetzt das Sofa für dich.«

Er ging mit seinem kleinen Kulturbeutel ins Bad, und sie bezog die Matratze des schmalen Schlafsofas. Es war eine Zeit, in der man das Schlafsofa oft ausklappte; in diesem Lebensabschnitt war man beweglich, noch nicht ganz angekommen, brauchte manchmal eine Übernachtungsmöglichkeit. Man tat, was man konnte, nistete sich bei anderen Leuten ein, improvisierte. Das Tempo würde bald anziehen und der Ernst des Lebens beginnen. Bald würde man das Schlafsofa nicht mehr ausklappen.

Cory kam aus dem Bad, als Greer eine Quiltdecke auf dem Laken ausbreitete. Er trug ein anderes T-Shirt, eines zum Schlafen, und roch nach einer unvertrauten Hautcreme oder Seife; er hatte neue Angewohnheiten entwickelt, wie sie etwas unglücklich dachte, als hätte er ihr den Wechsel melden müssen. Aber es war natürlich lange her – dreieinhalb Jahre –, seit sie mitbekommen hatten, welche Produkte sie benutzten. Intimes und Banales verschmolzen zu Vertrautheit. Cory legte sich auf das ausgeklappte Sofa und musste sich ein bisschen falten, weil er so groß war. Sie hörte den müden Protest der Federn, und dann knipste sie das Licht aus und legte sich auf der anderen Seite des Zimmers in ihr Bett.

Im Apartment war es stockdunkel, die Jalousien waren unten, und keiner von beiden dachte noch an die Pläne für den nächsten Tag. Stattdessen waren sie verunsichert und zuckten bei jedem Geräusch im Raum zusammen. Keiner von beiden wollte den anderen erschrecken oder etwas Falsches tun, und so lagen sie still und respektvoll da wie Patienten in einem Krankenhauszimmer.

»Alles klar bei dir?«, fragte Greer.

»Ja, alles klar«, antwortete Cory. »Danke, dass ich hier schlafen darf, Weltraum-Kadetsky.«

Anfangs war es so dunkel, dass sie nichts erkennen konnte. Sie hörte nur, wie er sich anders hinlegte und noch einmal gähnte, stellte sich vor, wie sein Kiefer aufklappte, der Mund kurz offen stand und sich wieder schloss. Er war irgendwo dort drüben; das wusste sie. Aber nach einer Weile gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel, und sie konnte ihn sehen.